Bei Streifzügen durch die MOOC-Welt, Statistiktutorials auf YouTube oder kleinen Programmierselbsthilfeforen stoße ich in letzter Zeit wiederholt auf eine Wortwendung, die mich aber schon immer verwirrt hat: die steile Lernkurve oder vielmehr — da die meisten Onlineangebote auf Englisch vorhanden sind — die der steep learning curve.
Denn ganz offensichtlich warnen alle Dozierenden davor, Kurse und Programme zu unterschätzen: „It will be hard work, as R initially has a steep learning curve“ (‚Es ist harte Arbeit, weil R am Anfang eine steile Lernkurve hat‘). Zu den emotionalen Hürden beim Erlernen einer Programmiersprache mach(t)e ich mir ja keine Illusionen. Was mich aber immer verwirrt hat, war der unklare Bezug des Adjektivs steil. Denn die vielen, vielen Verwendung von steep learning curve suggerieren sofort, dass der Zeitaufwand (t) hoch, der Wissensgewinn (w) aber anfangs frustrierend gering ist. Würde man das aufmalen wollen, wäre die Warnung in diesem Diagramm durch die grüne Linie repräsentiert:
Aber was soll an der grünen Linie besonders steil sein, so zum Anfang? Zum Zeitpunkt (t) habe ich mir nur Wissen (w1) angeeignet. Steil ist dabei doch höchstens die rote Linie, die aber genau das Gegenteil zeigt, nämlich, dass man sich in kürzerer Zeit (t) relativ viel Wissen (w2) aneignen kann. Wollen die mir mit dunkler Weltuntergangsstimme sagen, dass man mit wenig Zeit viel erreicht? Dass man also vor einer Lernkurve warnt, weil sie schnellen Lernerfolg verspricht?
Da stimmt doch was nicht.
Die erste logische Anlaufstelle Wikipedia weiß Bescheid: dort spricht man von einer „akademischen“ Verwendung der Redewendung (Stoffmenge in Abhängigkeit von Zeit, rote Linie) und einem umgangssprachlichen Verständnis, das der „akademisch als korrekt zu betrachtenden Definition“ „diametral“ gegenüber steht. Letzteres entspricht zwar nicht ganz meiner grünkurvig dargestellten Verwirrung, diese ist aber immerhin diametral. ((Auf Wikipedia korreliert man das Laienverständnis mit der sogenannten Blender-Kurve, welche mit anderen Variablen hantiert, die aber, drehte man die Achsen sinnvoll um, in groben Kurven der grünen Linie in Abbildung 1 entspräche.)) Ist das wirklich nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Fach- und allgemeiner Sprachgebrauch nicht übereinstimmen, wenn auch ein besonders extremes?
Nein. Das Durchforsten von Korpora und der Versuch, learning curve ein quantitatives Muster abzuringen, bringen’s ans Licht: hier werden Äpfel und Birnen als Orangen bezeichnet.
Zunächst: Die akademische Interpretation ist zweifellos die mathematische Funktion w(t). Dass man von einer steilen Lernkurve spricht, liegt daran, dass wir das Mehr an Quantität (hier: Lernerfolg) über die Zeit mit einer nach oben gerichteten Linie mit großer ‚Steigung‘ illustrieren. Man kennt diese Darstellung beispielsweise von Börsenkursen: Kursgewinne zeigen nach oben, Verluste nach unten. Solche Diagrammformen sind dabei letztendlich reine Konvention, weil man ja lediglich die mathematische Abhängigkeit einer Variablen von einer anderen abbildet — man könnte das Diagramm um 180° oder auch nur um 90° drehen, ohne Informationsgehalt einzubüßen. Aber dass diese anschauliche Darstellung die intuitivere Konvention ist, liegt daran, dass unsere Wahrnehmung allgemein von der konzeptuellen Metapher MEHR IST OBEN (MORE IS UP) geprägt ist, die auf Erfahrung mit unserer Umwelt basiert: je höher der Stapel Klausuren auf meinem Schreibtisch, desto mehr habe ich zu tun. Deshalb nehmen wir diese Kurven als steil wahr, obwohl steil ja nur ihre Darstellung ist.
Der umgangssprachlichen Verwendung für steile Lernkurve liegt eine ganz ähnliche Motivation zugrunde, die gegenüber der hilfsweisen Darstellung der mathematischen Funktion aber grundlegend metaphorisch ist. Was meinen wir damit? Schauen wir zur Erklärung mal ein paar Beispiele aus dem Corpus of Contemporary American English (COCA) an:
Overall, you’ll face a fairly steep learning curve to master OpenOffice’s eccentricities, but you can’t beat the price.
[Insgesamt haben Sie eine recht steile Lernkurve vor sich, um die Verschrobenheiten von OpenOffice zu meistern, aber der Preis ist unschlagbar.]
„Anybody who rides a mountain bike wants to do what we do, but there’s a really steep learning curve so they usually end up just watching,“ he says.
[„Jede/r, der/die ein Mountainbike fährt, möchte machen, was wir machen, aber das hat eine wirklich steile Lernkurve, weshalb sie meistens nur zusehen.“]
„second Life provides an additional way for students to explore class material, but it doesn’t appeal to everyone.“ A steep learning curve can also discourage students who are not highly motivated to use SL, he says.
[„second Life stellt zusätzliche Möglichkeiten für Studierende bereit, um das Kursmaterial zu erkunden, aber das ist nicht für jede/n attraktiv.“ Eine steile Lernkurve kann Studierende zusätzlich entmutigen, die wenig motiviert sind, SL zu nutzen, sagt er.]
Nahezu alle Belege für learning curve hauen in die gleiche Kerbe: Lernen ist mühsam, aufwändig, anstrengend, mitunter entmutigend. Es überrascht nicht, dass das Nomen learning curve nur ein einziges signifikantes Adjektivkollokat hat: steep. ((Für diese Erkenntnis haben Daten aus der Kollokationsdatenbank des British National Corpus (via BNCweb) hergehalten. Spannweiten von 1;0 bis 5;5. Der Server für COCA ist gerade unten, aber am Wochenende hab ich mir von dort noch schwache Assoziationen zu efficient, upward, shallow und sharp notiert.)) Umgekehrt modifiziert steep — das wird niemanden vom Hocker hauen — überwiegend Nomina der Erhöhung oder des Aufstiegs wie hill, climb, ridgery, rise oder ascent. ((In der Kollokationsliste stehen auch Begriffe der absteigenden Richtung wie cliff, slope, decline oder descent.)) Wir assoziieren Lernen also mit einem Weg (nach oben) zur Erkenntnis. Eine andere Perspektive auf die Beschwerlichkeitskonnotation für steep learning curve ist, dass es häufig in Strukturen auftaucht, die mit dem Verb to face ‚gegenüberstehen‘ eingeleitet werden. In solchen face-Konstruktionen stehen in der Objektposition wiederum signifikant häufig challenges, risks, problems, obstacles, hardships, dilemmas und problems, also eher weniger spaßige Dinge.
Die negative Perspektive aufs Lernen ist auch in der Wikipedia-Definition erwähnt. Dort hat man versucht, die mathematische Definition als positive, die Laienverwendung als negative Einstellung zu deuten. Das ist nicht ganz falsch (abgesehen davon, dass eine mathematisch-quantitative relativ wenig mit ‚positiv‘ oder ‚Einstellung‘ zu tun hat), aber eben eine ungünstige Vermischung von Ebenen. Aber jetzt — um auf die Äpfel und Orangen zurück zu kommen — können wir die Laienverwendung auf konzeptuellen Metaphern zurückführen, also auf die grundlegende kognitiven Strategie, abstrakte Dinge durch greifbare, konkrete Dingen zu konzeptualisieren. Eine bekannte und hier naheliegende, übergeordnete Metapher wäre DAS LEBEN IST EINE REISE (LIFE IS A JOURNEY). Und auf dieser Reihe geht es auf dem WEG zur Erkenntnis eben auch mal mühsam nach oben. Wen diese Idee interessiert, findet in Lakoff & Johnson (1980a, 1980b) eine äußert dankbare Lektüre. Wer mehr so auf bunte Bildchen steht:
Bei der steilen Lernkurve steht nicht der Lernerfolg an sich im Vordergrund (oder dessen Quantifizierung), sondern die Anstrengung a: wenn ich auf dem grünen Pfad mit der flacheren Lernkurve unterwegs bin, hab ich zum Zeitpunkt t (oder wahlweise zum Wissenstand w) mit a1 weniger Anstrengung hinter mir, als wenn ich die rote Route (steile Lernkurve) nehmen muss. Konkrete, physische Empfindungen während einer anstrengenden Bergbesteigung oder eines flauschigen Hügelspaziergangs dienen uns dabei als Quelle zur Verbalisierung abstrakter Emotionen während einer Lernerfahrung. Die Y‑Achse ist zur Verdeutlichung eingezogen: bei der WEG/REISE-Metapher spielt die Quantifizierung — und streitbarerweise sogar der Betrag des Wissenstands — nur eine untergeordnete Rolle. Was bei Lernkurven interessiert ist der Grinsegrad auf dem Weg zur Erkenntnis zum Zeitpunkt t.
Denn wenn ich heute sage, dass R für eine funktionale Technikanalphabetin ne steile Lernkurve hat, sage ich doch überhaupt nichts darüber aus, ob die R‑onautinnen-Ausbildung quantitativ bei mir gefruchtet hat oder nicht.
P.S.: Fürs Deutsche ist die Metaphernstrategie der steilen Lernkurve ähnlich, wenn auch quantitativ offenbar nicht so stark messbar. Als einzige sinnvolle Kollokate spuckt COSMASII aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) steil, flach und — öbachtle! — PHP aus. Auch im DWDS sind signifikante Verbindungen für Lernkurve mit lediglich schwachen Assoziationen zu steil eher mager (aber DWDS & DeReKo mit BNC & COCA vergleichen zu wollen, ist für diese Untersuchung ohnehin problematisch). Das Wortschatzportal der Universität Leipzig liefert als auffällige Verbindung rechts von Lernkurve außerdem vor sich, was auf die WEG-Metapher hinweist (sie haben einen weiten Weg vor sich). Der Eindruck ist aber ein wenig, dass die Bergsteigemetapher im Deutschen schwächer ausgeprägt ist und bei Lernkurve häufiger vom mathematischen Konzept die Rede ist.
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Lakoff, George & Mark Johnson. 1980a [2003]. Metaphors we live by. University of Chicago Press. [Auf Deutsch: Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Carl Auer Verlag.]
Lakoff, George & Mark Johnson. 1980b. Conceptual metaphor in everyday language. Journal of Philosophy 77(8). 453–486. [Link]