Schlagwort-Archive: Sprachwandel

Fragen an das Internet beantwortet

Von Kristin Kopf

Word­Press ver­fügt über eine elende Sta­tis­tik­funk­tion, die man stun­den­lang sinn­los anstar­ren kann. Um die vergeudete Zeit etwas zu recht­fer­ti­gen, will ich ein paar “Fra­gen” beant­worten, die über Suchan­fra­gen zum Sch­plock geleit­et wur­den, wo dann zwar die Such­wörter, nicht aber die Antworten vorhan­den waren.

schmettern ethymologisch (12.3.2009)

Wahrschein­lich ist es ein laut­ma­lerisches Wort, das irgend­wie mit mit­tel­hochdeutschem smîzen ‘stre­ichen, schmieren’ (das ist die Vor­form von schmeißen) und niederdeutschem schmad­dern ‘schmieren’ ver­wandt ist.

Im Mit­tel­hochdeutschen hieß es sme­tern und hat­te die Bedeu­tung ‘klap­pern, schwatzen’. Das Wort hat ab dem 16. Jahrhun­dert die Bedeu­tung ‘mit Geräusch hin­schleud­ern’, man musste also immer etwas schmettern. Später dann brauchte das Verb kein Objekt mehr, es beze­ich­net sei­ther eher die Tat­sache, dass etwas einen ‘krachen­den Schall’ verur­sacht. Wenn man ein Objekt ver­wen­den will, benutzt man hin­schmettern.

Danke übri­gens für die Inspi­ra­tion mit ethymol­o­gisch!

eichhörnchen etymologisch (22.3.2009)

Voll­tr­e­f­fer – eine Volk­se­t­y­molo­gie! Klas­sis­ch­er Fall für Olschan­sky: Schon im Althochdeutschen hat man das Wort als Zusam­menset­zung aus Eiche und Horn analysiert (eih­horno), dabei geht es eigentlich auf das ger­man­is­che Wort *aikur­na- zurück, was die indoger­man­is­che Wurzel *aig- bein­hal­tet, ‘sich heftig bewe­gen, schwingen’.

Obwohl also ety­mol­o­gisch von einem Horn nicht die Rede sein kann, wurde das Wort Mitte des 19. Jahrhun­derts zu ein­er generellen Beze­ich­nung für alle ver­wandten Nagetiere der Famile Sci­uri­dae wie z.B. Baumhörnchen, Erd­hörnchen, Flughörnchen.

Quelle: Wikipedia

Quelle: Wikipedia (Ray eye), CC-by-sa‑2.0‑de

paumen hochdeutsch (19.3.2009)

Wahrschein­lich geht es hier um eine alte dialek­tale Form des Wortes Bäume. Zu Beginn der althochdeutschen Zeit gab es die soge­nan­nte “Zweite Lautver­schiebung”, und ein Teil davon, die “Medi­en­ver­schiebung”, verän­derte die west­ger­man­is­chen Laute b, d und g.

  • [d] wurde zu [t], das sieht man z.B. an Wörtern wie Tag, auf Englisch day, weil das Englis­che keine Zweite Lautver­schiebung hat­te. Es gibt noch massen­haft weit­ere Beispiele (Tochterdaugh­ter, Tordoor, Tierdeer, …).
  • [b] und [g] blieben im Hochdeutschen weit­er­hin [b] und [g] – ver­glichen mit dem Englis­chen ist also kein Unter­schied festzustellen: Buch book, Bierbeer, gutgood, graugrey, …

Im Alto­berdeutschen aber, vor allem im Alt­bairischen, wurde teil­weise [b] > [p] und [g] > [k]. (Es ist aber zumin­d­est in der Schrei­bung nicht kon­se­quent durchge­führt, oft ste­hen auch <b> und <g>.) Wir find­en in alt­bairischen Tex­ten also Wörter wie perg ‘Berg’, kot ‘Gott’ und paum, ‘Baum’. Hier ist z.B. ein Auss­chnitt aus dem Wes­so­brun­ner Gebet, dessen Entste­hung auf ca. 790 geschätzt wird:

Dat gafre­gin ih mit firahim fir­i­u­uiz­zo meista,
dat ero ni uuas noh ûfhimil,
noh paum nih­heinîg noh pereg ni uuas,
ni suigli ster­ro nohheinîg noh sun­na ni scein,
noh mâno ni liuh­ta noh der mâręo sêo.
Dô dâr niu­ui­ht ni uuas enteo ni uuenteo
enti dô uuas der eino almahtî­co cot, …

(Text nach TITUS)

Das habe ich bei den Men­schen als größtes Wun­der erfahren: dass es die Erde nicht gab und nicht den Him­mel, es gab nicht den Baum und auch nicht den Berg, es schien nicht ein einziger Stern, nicht die Sonne, es leuchtete wed­er der Mond noch die glänzende See. Als es da also nichts gab, was man als Anfang oder Ende hätte ver­ste­hen kön­nen, gab es schon lange den einen, allmächti­gen Gott, …” (Über­set­zung aus Nübling 2006:23)

Und im Grimm­schen Wörter­buch gibt es einige Beispiele für paumen:

  • FRUCHTTRÄGERLEIN, n. frucht­knospe, bei MEGENBERG 93, 15: (vor dem blitz) ver­hül­let diu nâtûr diu fruht­trager­lein, daჳ sint die frühti­gen knödel (knötchen) auf den paumen, mit pletern, sam dâ ain amme ir kint ver­hül­let mit windeln.
  • FÜRBASZ , adv. weit­er, weit­er fort. […] STEINHÖWEL (1487) 64; doch nach langem seinen bedunken in gůt dauchte, seyt­mal er der fin­ster nacht hal­ben nitt fürpasz mochte, auf einen paumen ze steigen.
  • NACHSPÜREN, verb.1) intran­si­tiv, spürend fol­gen, aufzus­püren (zu erforschen, zu ergrün­den) suchen […] die aich­hörn­lein lof­fen / auf den paumen, der ich keim kund / nach-spüren, weil ich het kein hund. H. SACHS 4, 286, 8 K.

So. Auf die näch­sten Suchan­fra­gen ist das Sch­plock vorbereitet!

… wie meine Muhme, die berühmte Schlange.

Von Kristin Kopf

Von mein­er Ger­man­is­tik-Ver­wandtschaft­shausar­beit sind ein paar Bröckchen fürs Sch­plock abge­fall­en. Es geht um den Wan­del der Typolo­gie von Ver­wandtschaftssys­te­men – also nicht darum, wie sich einzelne Wörter verän­dern (wobei ich darauf auch ein wenig einge­hen will), son­dern darum, wie sich kom­plette Sys­teme verän­dern. Und da kann sich erstaunlich viel tun. Ich will heute nur auf einen kleinen Teilaspekt einge­hen, der die Eltern­gener­a­tion (auch G+1 genan­nt) betrifft.

Dort wer­den im heuti­gen Deutsch zwis­chen Blutsver­wandten zwei Unter­schei­dun­gen getroffen:

  • Frau oder Mann? Mut­ter, Tante vs. Vater, Onkel
  • In direk­ter Lin­ie ver­wandt oder nicht? Vater, Mut­ter vs. Tante, Onkel

Da drang ein Dutzend Anverwandten / Herein, ein wahrer Menschenstrom!

Im Althochdeutschen gab es noch eine weit­ere Unterscheidung:

  • Frau oder Mann? muot­er, muo­ma, basa vs. fater, fetiro, oheim
  • In direk­ter Lin­ie ver­wandt oder nicht? muot­er, fater vs. muo­ma, basa, fetiro, oheim
  • Müt­ter­lich­er­seits oder väter­lich­er­seits? muo­ma, oheim vs. basa, fetiro

Die vier Beze­ich­nun­gen für die Geschwis­ter der Eltern lauteten also:

(1) muo­ma ‘Schwest­er der Mutter’
(2) basa ‘Schwest­er des Vaters’
(3) fetiro ‘Brud­er des Vaters’
(4) oheim ‘Brud­er der Mutter’

Und hier für Leute, die es lieber visuell haben:

verwahd

Ahd. Ver­wandtschaftssys­tem nach Nübling et al. (2006)

Ein solch­es Sys­tem nen­nt man auch bifur­cate col­lat­er­al type.

Da kamen Brüder, guckten Tanten, …”

Die Unter­schei­dung mütterlicherseits/väterlicherseits ist heute also ver­schwun­den. Wenn man sich die Wörter anschaut, dann kom­men sie einem aber alle noch bekan­nt vor. Wie kommt’s?

In mein­er Abbil­dung habe ich die Cousins und Kusi­nen unter­schla­gen. Die gab es in althochdeutsch­er Zeit natür­lich auch schon, unter anderem Namen. Wahrschein­lich hießen sie muomen­sun etc., waren also zusam­menge­set­zte Beze­ich­nun­gen – beson­ders viele Quellen gibt es aber nicht ger­ade, ich habe nur einen Auf­satz von 1900 gefun­den, der die For­men erwäh­nt, die meis­ten Darstel­lun­gen lassen sie ein­fach weg.

Schließlich kam es zu einem Bedeu­tungswan­del. In einem ersten Schritt begann man, die Beze­ich­nun­gen für die Geschwis­ter der Eltern auch für deren Kinder zu ver­wen­den – die Tochter von Base oder Vet­ter (wir sind jet­zt schon im Früh­neuhochdeutschen!) wurde auch zur Base, der Sohn von Oheim und Muhme auch zum Oheim, etc. Die Beze­ich­nun­gen hat­ten jet­zt also zwei Bedeu­tun­gen. Nach einem wilden Kud­del­mud­del einigten sich die Begriffe dann endlich: Oheim und Muhme durften Brud­er oder Schwest­er der Eltern beze­ich­nen, egal auf welch­er Seite, und Base und Vet­ter beka­men den Job, deren Kinder zu übernehmen. Damit sind wir typol­o­gisch bei unserem heuti­gen Sys­tem ange­langt: Es wird zwar unter­schieden, ob Schwest­er oder Brud­er der Eltern, aber nicht von welch­er Seite. Das nen­nt man auch lin­eal type. Von da an gab es nur noch auf der Wor­tebene Veränderungen:

… Da stand ein Vetter und ein Ohm!

Der Fam­i­liensegen stand bald schon wieder schief: Muhme und Oheim beka­men harte Konkur­renz, die neu­modis­chen Beze­ich­nun­gen Tante und Onkel, aus dem Franzö­sis­chen entlehnt, macht­en sich ab Mitte des 17./Anfang des 18. Jahrhun­derts bre­it. Unge­fähr Mitte des 20. Jahrhun­derts war die Schlacht dann geschla­gen, Tante und Onkel gin­gen siegre­ich hervor.

Auch Base und Vet­ter hat­ten zwis­chen­zeitlich keine Ruhe gefun­den, Anfang bis Mitte des 17. Jahrhun­derts kamen Cou­sine und Cousin zu Besuch, und es gefiel ihnen so gut, dass sie blieben. Die Base warf Mitte des 20. Jahrhun­derts das Hand­tuch, der Vet­ter führt noch Rückzugsgefechte.

2009-03-20-verwfnhd

(Früh-)Neuhochdeutsches Ver­wandtschaftssys­tem

Im Dig­i­tal­en Wörter­buch der deutschen Sprache habe ich mal ein bißchen herumpro­biert, in der Hoff­nung, den Nieder­gang von Muhme, Oheim, Base und Vet­ter sicht­bar machen zu kön­nen. Base musste ich gle­ich rauswer­fen, da waren zu viele Tre­f­fer mit der chemis­chen Bedeu­tung drunter. Muhme hat­te kaum Tre­f­fer, Oheim und Vet­ter gin­gen so. Hier mal exem­plar­isch der Oheim – auf­grund der gerin­gen Tre­f­fer­zahl ist das Dia­gramm aber nur dazu geeignet, einen groben Ein­druck zu bekommen:

oheimgrafik

Den Auf­stieg von Onkel, Tante, Cousin und Kusine kann man lei­der nicht nachver­fol­gen, zumin­d­est sehen die Unter­schiede für mich völ­lig insignifikant aus. An den Zahlen kann man im Ver­gle­ich aber ganz gut sehen, welche Form sich durchge­set­zt hat, nur eine Zunahme ist eben nicht erkennbar. Hier der Onkel1:

onkelgrafik

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Ethymo- und Etnologie

Von Kristin Kopf

Heute hat jemand das Sch­plock mit dem Such­be­griff “ethy­mol­o­gisch” gefun­den (der Such­maschi­nen-Rechtschreib-Kor­rek­tur sei Dank!) – auch ein Fall von Hyper­ko­r­rek­tur: Weil wir bei Fremd­wörtern aus dem Griechis­chen dauernd irgendwelche <th>s schreiben, wird das auch manch­mal in Fällen gemacht, bei denen das <t> der Buch­stabe der Wahl wäre. (Schnell gegooglet: 271.000 Tre­f­fer für Ethy­molo­gie mit <th>, 289.000 mit <t> – *puh* Das war knapp!)

Wie kommt es, dass zwei Wörter, die aus der­sel­ben Sprache entlehnt wur­den und an der entschei­den­den Stelle gle­ich klin­gen, ver­schieden geschrieben werden?

Die Etymologie von Etymologie

Kluge ver­weist für Ety­molo­gie auf alt­griech. etymolo­gia ‘Lehre vom Wahren’, das über das Lateinis­che ins Deutsche entlehnt wurde.

Eth­nolo­gie hinge­gen geht auf alt­griech. éthnos ‘Volk, Schar’ zurück.

Tau vs. Theta

Was wir in lateinis­chen Buch­staben als <t> und <th> schreiben, sind im Griechis­chen zwei ver­schiedene Buch­staben: τ (Tau) und θ (Theta). Und auch zwei ver­schiedene Laute:

  • τ (Tau) klang im Alt­griechis­chen wie unser heutiges [t] in trinken,
  • θ (Theta) klang wie unser heutiges [] in taufen.

Bei der Schrei­bung von Wörtern mit diesen Buch­staben ori­en­tieren wir uns an der lateinis­chen Umschrift der Römer (die auch meis­tens zwis­chengeschal­tet waren, d.h. viele griechis­che Wörter wur­den aus dem Lateinis­chen entlehnt, nicht direkt aus dem Griechis­chen) – und die Römer nah­men für das Theta die Kom­bi­na­tion <th>.

Was ist der Unterschied?

[] ist ein soge­nan­ntes “aspiri­ertes T”. Das bedeutet, dass nach dem eigentlichen [t] noch ein klein­er Luftschwall fol­gt. Wir hören den Unter­schied im Deutschen i.d.R. nicht, weil er nicht bedeu­tung­sun­ter­schei­dend ist – das aspiri­erte T wird meist gesprochen, wenn es am Wor­tan­fang ste­ht und danach ein Vokal fol­gt, son­st kommt das “nor­male”. (Lei­der habe ich im Netz keine Audioauf­nahme gefun­den. Aber wenn man sich beim Sprechen genau zuhört und vielle­icht ein Blatt Papi­er vor den Mund hält – das bewegt sich bei aspiri­erten Laut­en –, kann man den Unter­schied schon bemerken.)

Das ist in anderen Sprachen anders – z.B. im Alt­griechis­chen.1 Dort sind [] und [t] so ver­schieden wie [t] und [d] im Deutschen.

Woher kommt’s?

Jet­zt wird es vage, wie das so ist, wenn man sich jen­seits schriftlich­er Quellen tum­melt. Griechisch ist ja eine indoger­man­is­che Sprache, wie das Deutsche auch, d.h. let­ztlich müssen diese Kon­so­nan­ten auf diesel­ben “Urkon­so­nan­ten” zurückgehen.

Für das Indoger­man­is­che set­zt man fol­gende Plo­sive2 an:3

  • p, t, k (“Tenues”)
  • bʰ, dʰ, gʰ (“aspiri­erte Medien”)
  • b, d, g (“Medi­en”)

Das alt­griechis­che geht wohl auf das idg. dʰ zurück – die aspiri­erten Medi­en wur­den näm­lich zu aspiri­erten Tenues, also stimm­los: idg. dʰ > pro­togriech. .

Die deutsche Entsprechung hat fol­gende Entwick­lung mit­gemacht: idg. dʰ > germ. ð (klingt wie engl. <th> in that) > west­germ. d > althochdt. t.4 Das griech. θύρα und das deutsche Tür sind z.B. miteinan­der ver­wandt. (Indogerm. hieß es *dʰw­er-.)

Mit dem geschriebe­nen <h> nach dem <t> kann das Deutsche also ein­fach nichts mehr anfan­gen – für Aspi­ra­tion gibt es ja Regeln: Eth­nolo­gie ist im Deutschen z.B. nicht aspiri­ert (weil das T nicht am Wor­tan­fang vor Vokal ste­ht), die alt­griech. Aussprache wird nicht berücksichtigt.

Das <th> in der Orthografie

Dass wir das <th> weit­er­hin fleis­sig schreiben, liegt daran, dass es in der deutschen Rechtschrei­bung kein starkes Prinzip zur Eingliederung von Fremd­wörtern gibt. Im anderen Sprachen wird auf die Orig­i­nalschrei­bung wenig Rück­sicht genom­men – Orthogra­phie heißt im Spanis­chen z.B. ortografía, Eth­nolo­gie ist etnología. Das Deutsche scheut sich vor so etwas. Dazu schreibe ich vielle­icht mal mehr.

Es gab einst ein <th> auch in Wörtern deutschen Ursprungs wie Thal, Thür, thun, Noth. Das <h> in solchen Wörtern wird im Grimm­schen Wörter­buch als Dehnungsze­ich­nen inter­pretiert: “[…] wobei h vor oder nach langem oder gedehn­tem vocal nur ein dehnungsze­ichen ist.”

Das “deutsche” <th> wurde bei der II. Orthographis­chen Kon­ferenz in Berlin 1901 abgeschafft, das Fremdwort-<th> wurde aus­drück­lich belassen.

Auch <ph> geht übri­gens auf ein pʰ zurück, und das <ch> in Wörtern griechis­chen Ursprungs auf kʰ. Dass <ph> im Deutschen als [f] aus­ge­sprochen wird (wie im mod­er­nen Griechis­chen übri­gens auch), kann ich nicht so gut erk­lären, es kön­nte etwas mit dem Lateinis­chen als Zwis­chen­schritt zu tun haben. Da werde ich aber noch nachforschen.

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Osnabrück, nicht Bar Celona: DGfS-Jahrestagung 2009

Von Kristin Kopf

Diese Woche war ich auf der Jahresta­gung der DGfS in Osnabrück (übri­gens die Haupt­stadt des schlecht­en Wortwitzes) und habe viele, viele Vorträge gehört, viele berühmte und weniger berühmte Men­schen gese­hen und wenig geschlafen. Es war ein Riesenspaß!

Ich habe natür­lich unglaublich viele span­nende Dinge gel­ernt, aber lei­der eignen sich immer nur Split­ter davon für ein Blog – meine per­sön­lichen High­lights waren die Plenumsvorträge von Mar­i­anne Mithun und Adele Gold­berg, die sich aber nicht gut zer­schnipseln lassen.

Hier also meine DGfS-Nachlese:

AG 1: Formen und Funktionen von Satzverknüpfungen

Ferraresi/Weiß – Und-(?!)Nebensätze

Mit und kon­nte in mit­tel- und früh­neuhochdeutsch­er Zeit nicht nur Koor­di­na­tion aus­ge­drückt wer­den, son­dern auch Subordination:

(1) alse lieb und ich dir bin ‘so lieb wie ich dir bin’ (modal-ver­gle­ichend)

(2) zuvor und er zu mor­gen eszbevor er früh­stücke’ (tem­po­ral)

(3) erget­zet sie der lei­de unt ir ir habet getân ‘entschädigt sie für das Leid, das ihr ihr ange­tan habt’ (rel­a­tivisch)

AG 5: Formen des Ausdrucks von Höflichkeit/ Respekt im Gespräch

Hentschel — Alle Men­schen wer­den Brüder

Im Ser­bis­chen kann man (wie in vie­len Sprachen) Ver­wandtschafts­beze­ich­nun­gen auch für Nicht-Ver­wandte benutzen. Dabei benutzt man sine ‘Sohn’ sowohl für junge Frauen als auch für junge Män­ner. Die Beze­ich­nung für ‘Tochter’ kann gar nicht ver­wen­det wer­den. Wahrschein­lich hat es damit zu tun, dass die männliche Form als pos­i­tiv­er wahrgenom­men wird.
Im Chi­ne­sis­chen haben die Beze­ich­nun­gen für großer Brud­er und kleine Schwest­er teil­weise die Bedeu­tun­gen ‘Ban­denchef’ und ‘Pros­ti­tu­ierte’ bekom­men, wo sie nicht auf wirk­liche Geschwis­ter referieren.

Haase — Ref­er­enten­honori­fika­tion zwis­chen Gram­matik und Lexikon

Im Bask­ischen gibt es eine Markierung für Vertrautheit/Familiarität (im Gegen­satz zu den meis­ten Sprachen, die Höflichkeit/Distanz/Respekt markieren) – dabei wird extrem viel palatal­isiert und es wer­den Ele­mente in Ver­ben eingeschoben, die z.B. die Tran­si­tiv­ität verän­dern (das nen­nt man Alloku­tiv). Diese Art zu sprechen wird meist nur gegenüber Fam­i­lien­ange­höri­gen (aber nicht den Eltern), kleinen Kindern oder Tieren ver­wen­det. Weil sie auf so einen engen Kreis beschränkt ist, hat sie eine sehr hohe Var­i­anz — jede Fam­i­lie entwick­elt ihre eigene Version.

Simon — Zur Gram­matik der indi­rek­ten Anrede im Afrikaans und im älteren Deutsch

Im Afrikaans gibt es bes­timmte Beze­ich­nun­gen (Ver­wandtschafts- und Berufts­beze­ich­nun­gen), die man für die Anrede benutzt, um höflich zu sein. Dabei wer­den diese For­men nicht nur ein­mal zur Anrede gebraucht (wie “Herr Pfar­rer, …”), son­dern auch an Stellen, wo andere Sprachen ein Reflex­iv- oder ein Pos­ses­sivpronomen gebrauchen wür­den. Wenn man im Afrikaans über jeman­den spricht, sagt man z.B.

(1) Dom­i­nee skeer hom. ‘Der Pfar­rer rasiert sich

bei höflich­er Anrede wird es aber zu 

(2) Dom­i­nee skeer Dom­i­nee ‘Herr Pfar­rer, Sie rasieren sich (wörtl.: Herr Pfar­rer rasieren Her­rn Pfar­rer)’.

AG 13: Comparison constructions and similarity-based classification

Hahn — What makes things similar

Mit wenig Sprach­bezug, aber kong­ni­tiv sehr span­nend: Wenn wir Dinge miteinan­der ver­gle­ichen, ist die Ver­gle­ich­srich­tung wichtig. Wenn wir eine Lin­ie von 85° sehen, stim­men wir wahrschein­lich schnell zu, dass sie fast ver­tikal ist, wenn wir eine ver­tikale Lin­ie sehen, stim­men wir aber eher nicht zu, dass sie fast 85° hat.

Plenarvortrag

Gold­berg — Items and Generalizations

Es gibt im Englis­chen Adjek­tive, die nicht vor dem Bezugswort ste­hen kön­nen, son­dern eigentlich nur prädika­tiv ver­wen­det wer­den können:

(1) ??the asleep child

ist komisch, aber

(2) the child is asleep

geht. Das sind alles Adjek­tive die mit a- begin­nen (der Laut ist ein Schwa [ə]) und die meis­tens früher mal Prä­po­si­tion­alphrasen waren (also z.B. on sleep > asleep). Man kann sie heute noch sehr gut tren­nen, nach Wurzel und a:

(3) a|sleep, a|float, a|live, a|blaze

im Gegen­satz zu ähn­lich aussehenden/klingenden Adjek­tiv­en mit ein­er anderen Quelle (absurd, acute, aduld) die attribu­tiv ver­wen­det wer­den kön­nen (the absurd sit­u­a­tion). Heutige SprecherIn­nen ler­nen also eigentlich eine his­torische Regel, indem sie die For­men, bei denen das a- vom on stammt, anders behan­deln. Darüber sind sie sich allerd­ings nicht im Klaren, sie fol­gen eben dem Gebrauch der­er, von denen sie ler­nen, und da sie in Kon­tex­ten, in denen z.B. asleep gebaucht wird, nie den attribu­tiv­en Gebrauch hören, ler­nen sie die Regel. Im Vor­trag war das nur ein kleines Beispiel zur Begrün­dung eines bes­timmten Sprach- und Gram­matikver­ständ­niss­es, das aber hier den Rah­men spren­gen würde.

AschRmittwoch

Von Kristin Kopf

Ascher­mittwoch kommt von der Asche, die man auf’s Haupt streut, soweit, so trans­par­ent. Warum aber Aschermittwoch? Warum nicht Aschen­mittwoch oder Aschemittwoch?

Syn­chron betra­chtet, d.h. wenn man nur das heutige Deutsch anschaut, ist es nicht weit­er ver­wun­der­lich. Ein Ver­fahren der Wort­bil­dung ist es, zwei Wörter zu einem neuen zusam­men­zuset­zen. Das nen­nt man “Kom­po­si­tion”. Häu­fig steckt aber zwis­chen diesen bei­den Wörtern noch etwas — das Fugenele­ment. Laut Gram­matik-Duden kommt es bei 30% der deutschen Wörter vor (allerd­ings scheint es mir fraglich, wie man die Zahl der deutschen Wörter messen will, da Kom­po­si­tion ja pro­duk­tiv ist). Fugenele­mente nen­nt man all diese Heizungskeller, Rinderställe, Lampenschirme und Donau­dampf­schiff­fahrtsgesellschaftskapitänsmützen.

Vie­len von ihnen sieht man ihre Herkun­ft noch an — sie sehen alten Gen­i­tiv­for­men ähn­lich, wie zum Beispiel des Teufels Kerl > Teufelskerl. Die Uminter­pre­ta­tion als Erst­glied des Kom­posi­tums nen­nt man “Reanalyse”. Heute hat das Fugenele­ment keine gram­ma­tis­che Funk­tion mehr.

Allerd­ings kom­men die Fugenele­mente bei weit­em nicht alle von alten Gen­i­tiv­en — bei Heizungskeller sieht man es ganz gut, der Gen­i­tiv würde der Heizung heißen, im Plur­al Heizun­gen. Kein s weit und bre­it. Es muss nach dem Vor­bild ander­er Wörter, die ein Genitiv‑s hat­ten, in den Heizungskeller einge­wan­dert sein. (Das nen­nt man “Analo­gie”.)

Bei Lam­p­en­schirm ist es mehr eine Sin­n­frage. Zwar heißt es der Lam­p­en, aber ist ein Schirm wirk­lich für mehrere Lam­p­en da? Doch wohl kaum? Warum hätte es jemand mit dem Plur­al bilden sollen?

Warum wird also nur der Ascher­mittwoch dem Vor­wurf aus­ge­set­zt, dass er sich zu Unrecht mit seinem r schmückt, wenn doch sehr viele Kom­posi­ta zu frem­dem Mate­r­i­al greifen?

Weil er eine alte Form ist. Der Ascher­mittwoch hat­te sein r schon immer. Wie kann das sein, wenn es der Asche, Aschen heißt? Kluge erk­lärt: Es ist eine regionale Plu­ral­form. Ein Blick ins mit­tel­hochdeutsche Wörter­buch macht nicht viel schlauer — außer dass Asche damals zwar meist fem­i­nin war, aber auch maskulin sein kon­nte. Ich habe mich auf die Suche gemacht und ins rheinis­che, pfälzis­che, elsäs­sis­che, elsäs­sisch-lothringis­che und lux­em­bur­gis­che Wörter­buch geschaut — nichts, immer mit n. Der dig­i­tale Wenker-Atlas hat auch nicht geholfen, da ste­ht keine Asche drin. Schw­eren Herzens gebe ich also auf … zumin­d­est vorerst.

Grimms Wörter­buch ken­nt mit r übri­gens auch Ascher­brödel, ascher­far­big, Ascherkleid und Ascherkuchen.

Im rheinis­chen Wörter­buch von gestern find­en sich neben der hochdeutschen Form Ascher­mittwoch auch r‑lose For­men: Öschemeppeg und Äis­chemet­twouch.

[Weihnachten] Die Christmette und Xmas

Von Kristin Kopf

Heute, dank meines Brud­ers, ein bißchen Ety­molo­gie … Warum heißt es Christ­mette und nicht Christmesse?
Die bei­den For­men haben, wider Erwarten, nichts miteinan­der zu tun:

Mette kommt von lat. laudes mātūtī­nae, also ‘Mor­gen­lob’. Irgend­wann fiel das erste Wort weg und im spät­lat. hieß es nur noch mat­ti­na. In dieser Form wurde es dann ins Althochdeutsche (500/750‑1050) entlehnt, wurde im Mit­tel­hochdeutschen (1050–1350) zu mettî(ne), met­tene und kam schließlich bei der heuti­gen Form an.
laudes mātūtī­nae beze­ich­nete die erste Gebet­szeit des Tages, sie wird auch Vig­il oder Matutin genan­nt. Dieses Stun­denge­bet wurde nachts ver­richtet, früh­estens um Mit­ter­nacht, und bezieht sich entsprechend auf den fol­gen­den Tag. Es ist eigentlich keine Messe, also kein Gottes­di­enst mit Eucharistiefeier — dazu wurde nur die Christ­mette. Die ja jet­zt vielerorts auch schon um 22 Uhr gefeiert wird.

Messe kommt von spät­lat. mis­sa ‘Gottes­di­enst’, das so ins Althochdeutsche entlehnt wurde und im Mit­tel­hochdeutschen dann zu messe wurde.
Woher das lat. mis­sa genau kommt, ist nicht ganz gek­lärt, Kluge nen­nt als gängige Hypothese, dass es von Ite, mis­sa est. ‘Gehet, es ist ent­lassen!’ kommt, was vor dem Abendmahl gesagt wurde, um alle wegzuschick­en, die nicht daran teil­nehmen durften.
Von der kirch­lichen Messe kommt übri­gens auch die weltliche, über den Zwis­chen­schritt ‘kirch­lich­es Fest’ zu ‘Jahrmarkt, Großausstellung’.

Das englis­che mass ‘Gottes­di­enst’ hat densel­ben Ursprung wie Messe, Christ­mas entspräche also einem fik­tiv­en *Christmesse für ‘Wei­h­nacht­en’.
Zu Xmas gibt es grade einen kurzen Artikel bei der FAZ, der erk­lärt, woher das X kommt — vom griechis­chen Buch­staben Chi näm­lich, mit dem das Wort Chris­tus (‘der Gesalbte’) im Griechis­chen begin­nt: Χριστός.

[Weihnachten] Wie schon die Alten sungen …

Von Kristin Kopf

Heute geht es um ein Lied, dessen Text 1587/88 in Mainz geschrieben wurde: “Es ist ein Ros entsprun­gen”. Lei­der ist das, was ich aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht dazu zu sagen habe, nicht beson­ders kreativ — Frau N. hat die Stelle sog­ar schon für einen Auf­satzti­tel benutzt.1
Aber wer noch keine Ein­führung in die his­torische Sprach­wis­senschaft des Deutschen hin­ter sich hat, wird sich vielle­icht den­noch dran freuen.

Erst­mal der Text der ersten Strophe:

Es ist ein Ros entsprun­gen aus ein­er Wurzel zart,
wie uns die Alten sun­gen, von Jesse kam die Art,
und hat ein Blüm­lein bracht
mit­ten im kalten Win­ter, wohl zu der hal­ben Nacht.

Und dann eine kurze Inhalt­sangabe, für die Athe­istIn­nen unter uns:
Mit­ten im Win­ter und mit­ten in der Nacht erblühte eine Rose (bzw. , nach der Gottes­lob-Inter­pre­ta­tion, ein ganz­er Rosen­stock), und zwar so, wie es im Alten Tes­ta­ment ste­ht (=“die Alten sun­gen”), wo es Jesa­ja (=“Jesse”) vorherge­sagt hat. (Natür­lich hat er die Geburt des Mes­sias vorherge­sagt, nicht die ein­er Rose, aber so iss­es halt mit den Metaphern …)

Und jet­zt der vergnügliche Teil des Abends. Es geht um diese Stelle:

(1) … wie uns die Alten sungen, …

Warum nicht “wie uns die Alten (vor)sangen”? Weil es sich dann nicht mehr auf “entsprun­gen” reimt? Wohl kaum … und hier­mit kom­men wir zum Phänomen der viel­ge­fürchteten Ablautrei­hen.
Wenn wir uns die heuti­gen Ver­ben des Deutschen anschauen, so kann man sie (qua­si) alle in zwei Grup­pen teilen: Schwache Ver­ben vs. Starke Verben.
Zu welch­er Gruppe ein Verb gehört, erken­nt man an seinen Ver­gan­gen­heits­for­men, und zwar am Prä­ter­i­tum (sagte, dachte, schlug, ging) und am Par­tizip II (gesagt, gedacht, geschla­gen, gegan­gen).

Die schwachen Ver­ben sind die, die ein­fach ein -te für’s Prä­ter­i­tum anhän­gen (sag-te) und für das Par­tizip II den Stamm mit ge-…-t umgeben (ge-sag‑t). Das ist sehr ein­fach, deshalb machen wir das mit den aller­meis­ten Ver­ben. Auch mit neuen Ver­ben, die wir z.B. aus dem Englis­chen entlehnen (down­load­ete, gedown­load­et/down­ge­loaded).

Viel älter und kom­pliziert­er sind hinge­gen die starken Ver­ben, die, wenn sie Ver­gan­gen­heit aus­drück­en wollen, ihren Stam­m­vokal ändern: werfenwarfge‑worf-en (das Par­tizip II hat zusät­zlich noch das ge-…-en außenrum.)
Ver­ben, die wir neu ins Deutsche entlehnen, funk­tion­ieren nie nach diesem Prinzip2 — nur die richtig alten Ver­ben haben diesen Vokalwech­sel zwis­chen den ver­schiede­nen Zeit­for­men. Den man Ablaut nen­nt. (Es gibt sog­ar Ver­ben aus dieser Gruppe, die zu den schwachen Ver­ben ent­fliehen — z.B. bellen, dessen Prä­ter­i­tum mal boll war. Oder melken, bei dem momen­tan der molk-melk­te-Kampf tobt.)

Heute unter­schei­den wir bei den starken Ver­ben ja drei For­men: Präsens, Prä­ter­i­tum und Par­tizip II. Das Max­i­mum an Unter­schied ist, wenn jede der drei For­men einen anderen Vokal hat, wie bei wer­fen. Manch­mal sind’s auch nur zwei ver­schiedene, z.B. bei schla­gen. Aber nii­i­i­i­ie sind es vier verschiedene.

Vor langer, langer Zeit (im Alt- und Mit­tel­hochdeutschen, und sog­ar noch vorher) gab es aber nicht drei unter­schiedliche For­men, son­dern vier:
a) Präsens: werfan ‘wer­fen’
b) Prä­ter­i­tum Sin­gu­lar: warf ‘warf’
c) Prä­ter­i­tum Plur­al: wurfun ‘war­fen’
d) Par­tizip II: giworfan ‘gewor­fen’
Es kam also drauf an, ob ein Verb im Prä­ter­i­tum Sin­gu­lar (also der Ein­zahl) oder im Plur­al (also der Mehrzahl) benutzt wurde. Man sagte also so etwas wie *der alto sang (weil’s ja nur ein­er ist) aaaaaber: *diu alton sun­gun (weil’s mehrere sind).

Im Früh­neuhochdeutschen (also ab ca. 1350) begann das Sys­tem zusam­men­zubrechen. Von den bei­den Vokalen im Prä­ter­i­tum set­zte sich jew­eils ein­er durch, bei wer­fen z.B. war es das a aus dem Sin­gu­lar (warf, wur­fun > warf, war­fen), bei reit­en war es das i aus dem Plur­al (reit, rit­un > ritt, rit­ten). Es gab also bei jedem Verb nur noch einen Vokal ins­ge­samt für das Prä­ter­i­tum, keine zwei mehr. Was ja auch irgend­wie prak­tisch ist, weil die Infor­ma­tion über das Prä­ter­i­tum jet­zt klar­er zu erken­nen ist — nicht mehr entwed­er Vokal 1 oder Vokal 2 zeigt, je nach Per­son, Prä­ter­i­tum an, son­dern nur noch ein einziger.
Diese Entwick­lung nen­nt man den Prä­ter­i­tal­en Numerusaus­gle­ich, aber das nur für diejeni­gen unter Euch, die damit angeben wollen.

Wäre also alles mit recht­en Din­gen zuge­gan­gen, müssten wir heute von den Alten sin­gen, die san­gen — aber dann würde es sich ja nicht mehr reimen. Und außer­dem haben alte Lieder meist eine gewisse Narrenfreiheit.

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[Weihnachten] Ihr Kinderlein, kommet …

Von Kristin Kopf

Wei­h­nacht­slieder geben eine Menge an sprach­lichen Relik­ten her, die ich mir über die Feiertage ein bißchen anschauen will. Den Anfang macht …

(1) Ihr Kinder­lein kommet

Schon­mal gewun­dert, dass wir hier einen Plur­al mit Diminu­tiv (=Verkleinerungs­form) haben? {kind}{er}{lein}?
Sub­stan­tiv: {kind}
Plu­ral­en­dung: {er}
Diminu­tiv: {lein}

Im Neuhochdeutschen tritt das {lein} ja direkt an das Sub­stan­tiv im Sin­gu­lar, erwartet wäre also {kind}{lein}:

Diminu­tiv, Deminu­tiv, Verkleinerungs­form
Zu vie­len Sub­stan­tiv­en wer­den durch Anfü­gung der Suf­fixe ‑chen oder ‑lein Verkleinerungs­for­men gebildet: Haus — Häuschen, Buch — Büch­lein.”
(Wahrig, 1997, S. 54)

Bei Kinder­lein muss es sich also um eine ver­al­tete Form han­deln. Und tat­säch­lich, in Grimms Wörter­buch find­en sich beim Lem­ma KINDERLEIN viele Beispiele. Heute wird die Form kaum noch ver­wen­det, und wenn, dann in Anspielung auf das Wei­h­nacht­slied oder beim Ver­such, alterthü… ähm, altertüm­lich zu sprechen.

Im Lux­em­bur­gis­chen gibt es die For­men mit Plu­ral­markierung direkt am Sub­stan­tiv heute noch:

(2) kand ‘Kind’ — kan­ner ‘Kinder’ -> kand­chen ‘Kind­chen, sg.’ — kan­nercher ‘Kind(er)chen, pl.’
(3) Haus ‘Haus’ - Hais­er ‘Häuser’ -> Hais­chen ‘Häuschen, sg.’ — Hais­ercher ‘Häuschen, pl.’

Und es geht sog­ar mit lexikalisierten Diminu­tiv­en, also mit For­men, die eigentlich auf eine Verkleinerungs­form zurück­ge­hen, jet­zt aber als ganz nor­male Form benutzt werden:

(4) Meed­chen ‘Mäd­chen, sg.’ — Meed­ercher ‘Mäd­chen, pl.’

Der Unter­schied zur alten deutschen Form im Wei­h­nacht­slied beste­ht darin, dass das Lux­em­bur­gis­che den Plur­al zweimal markiert, ein­mal durch das -er am Stamm und ein­mal durch die Endung -cher (statt -chen).

Das Lux­em­bur­gis­che und das Deutsche gehen ja auf gemein­same Wurzeln zurück, das Lux. ist eng mit den mosel­fränkischen Dialek­ten in und um Tri­er herum ver­wandt.
Da über­rascht es nicht, auch auf der deutschen Seite solche For­men als Relik­te zu ent­deck­en — z.B. gibt es einen Ort namens Wincherin­gen im Land­kreis Tri­er-Saar­burg, in dem es die Gemarkung “Auf den Häuserchen” gibt.

Wirft man einen Blick in Grimms Wörter­buch, so find­et man unter dem Lem­ma CHEN:

auch die plu­ral­bil­dung schwankt, jene kete­hinne kinderchinne schel­lichinne sind längst ver­al­tet, gewöhn­lich pflegt nach ahd. mhd. weise beim neu­trum über­haupt die form des sg. unverän­dert zu bleiben. einige aber erlauben sich bübchens leutchens mäd­chens, z. b. LESSING 1, 461 in der anrede: seht fre­undlich aus, mäd­chens! ich will euch etwas fröh­lich­es melden. andere tadel­hafter selb­st bübch­er mäd­ch­er:
und wenn das laub herunter fällt,
so trau­ren alle äst­ger.
MITTLER 465a,
wofür man doch einen noch des N ent­bund­nen sg. bübche mäd­che ästche anzuset­zen hat. neu­tra und mas­culi­na, die des epenthetis­chen er fähig sind, ver­mö­gen es mit in die diminu­tion zu ziehen, und von beinchen bretchen bild­chen häuschen kind­chen lämm­chen würm­chen läszt sich ausz­er dem gle­ich­lauti­gen pl. in traulich­er sprache bilden: bein­erchen breterchen bilderchen häuserchen kinderchen läm­merchen män­nerchen (LESSING 1, 242) würmerchen. […] ein fehler ist der pl. mäderchen oder gar mädercher von mäd­chen = mägd­chen, da das f. magd keinen pl. mägder zu bilden ver­mag. breterchen häuserchen u. s. w. laufen den bil­dun­gen breter­lein häuser­lein par­al­lel.”

Da ich momen­tan lei­der fern von all meinen Bücher­lein bin, kann ich nicht her­aus­find­en, ob die Ver­sion mit dem eingeschobe­nen Plur­al eine zeitweilige Vari­ante war, oder ob sie tat­säch­lich die ursprüngliche Form war. Ich tippe auf ersteres, zumal der er-Plur­al sich ja erst recht spät ver­bre­it­et hat.

Abkürzungsgefährdet

Von Anatol Stefanowitsch

Die SMS ist den Briten ihr Anglizis­mus. Während hierzu­lande die Angst umge­ht, die deutsche Sprache kön­nte unter der Last einiger Lehn­wörter und sprach­lich fehlgeleit­eter Werbe­sprüche zusam­men­brechen, glaubt man im Vere­inigten Kön­i­gre­ich (und, wie wir hier erwäh­nt haben, auch in Irland) ern­sthaft, dass SMS-typ­is­che Abkürzun­gen dabei sind, in die All­t­agssprache junger Men­schen einzu­drin­gen und dort altherge­brachte Wörter zu ver­nicht­en. Weit­er­lesen

Telefonischer Sprachverfall

Von Anatol Stefanowitsch

Vor ein paar Wochen ist die Geschichte schon durch die irische Presse gegan­gen, jet­zt hat der Süd­kuri­er sie aufge­grif­f­en: die schulis­chen Leis­tun­gen der irischen Jugend lei­den unter dem Ein­fluss mod­ern­er Kom­mu­nika­tion­stech­niken. Zumin­d­est behauptet das ein Bericht, den das irische Bil­dungsmin­is­teri­um in Auf­trag gegeben hat: Weit­er­lesen