Schlagwort-Archive: Sprachmythen

Die Moschee des Kolumbus

Von Anatol Stefanowitsch

Haben mus­lim­is­che Seefahrer Ameri­ka ent­deckt, wie es der türkische Min­is­ter­präsi­dent Erdoğan behauptet? Nein, natür­lich nicht. Die Ure­in­wohn­er Amerikas haben Ameri­ka ent­deckt, und zwar vor über fün­fzehn­tausend Jahren, als es noch keine Mus­lime gab. Aber, und das meint Erdoğan ja, haben mus­lim­is­che Seefahrer Ameri­ka vor Christoph Kolum­bus besucht? Erdoğans Beleg für seine Behaup­tung ist eine Moschee, die Kolum­bus ange­blich auf einem Hügel an der kuban­is­chen Küste gese­hen habe und die er in seinem Schiff­stage­buch erwähnt.

Die AFP-Pressemel­dung, die bish­er alle deutschen Medi­en ein­hel­lig über­nom­men haben (z.B. ntv), führt diese Behaup­tung auf einen „umstrit­te­nen Artikel“ des His­torik­ers Youssef Mroueh von 1996 zurück und berichtet, dass der mit sein­er Inter­pre­ta­tion von Kolum­bus’ Tage­buchein­trag nicht auf bre­ite Zus­tim­mung stößt: Weit­er­lesen

Intelligentes Sprachdesign

Von Anatol Stefanowitsch

Über den Ursprung men­schlich­er Sprache(n) lässt sich nur spekulieren: Wir wis­sen wed­er, wann unsere Spezies zu sprechen ange­fan­gen hat, noch wis­sen wir, ob Sprache nur ein­mal ent­standen ist, also alle heute existieren­den Sprachen von ein­er einzi­gen Ursprache abstam­men, oder ob Sprache an ver­schiede­nen Orten ent­standen ist, nach­dem unsere Vor­fahren die biol­o­gis­chen Voraus­set­zun­gen dafür entwick­elt hatten.

Über­legun­gen dazu müssen nicht völ­lig im luftleeren Raum stat­tfind­en, sie kön­nen sich auf ein paar Rah­men­dat­en stützen. So wis­sen wir, dass Sprachen ständig im Wan­del sind, und dass ein paar Hun­dert Jahre reichen kön­nen, um eine Sprache so stark zu verän­dern, dass sie kaum wiederzuerken­nen ist (was, wie Susanne vorgestern beschrieben hat, manch­mal selb­st Linguist/innen zu absur­den The­o­rien veleit­en kann). Wir wis­sen auch, dass unsere Spezies seit etwa hun­dert­tausend Jahren in ihrer mod­er­nen Form existiert und dass seit etwa vierzig- bis fün­fzig­tausend Jahren eine Beschle­u­ni­gung kul­tureller Inno­va­tio­nen und damit ver­bun­den auch eine Aus­d­if­feren­zierung der kul­turellen Eigen­heit­en unter­schiedlich­er Pop­u­la­tio­nen zu beobacht­en ist. Weit­er­lesen

Happy Birthday, liebe SMS

Von Anatol Stefanowitsch

Wenn wir die erste über den Short Mes­sag­ing Ser­vice ver­schick­te Kurz­nachricht als Geburtsstunde der Tech­nolo­gie anse­hen, wird die SMS heute 20 Jahre alt: Wie jede Zeitung und jed­er Radio- und Fernsehsender berichtet, schick­te der Pro­gram­mier­er Neil Pap­worth seinem Kol­le­gen Richard Jarvis am 3. Dezem­ber 1992 die erste SMS. Die Tech­nolo­gie, die hin­ter der SMS steckt, ist allerd­ings älter, ihre Entwick­lung begann 1984. Und erst im Jahr nach Pap­worths leg­endärem Wei­h­nachts­gruß kamen die ersten Kund/innen in den Genuss des Kurz­nachrich­t­en­di­en­stes. So kön­nen wir auch im näch­sten Jahr noch ein­mal den zwanzig­sten Geburt­stag der SMS feiern, und im Jahr darauf sog­ar den dreißigsten.

Was hat das alles mit Sprache zu tun? Nun ja, keine andere Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gie wird so häu­fig für den Sprachver­fall nicht nur, aber ger­ade auch bei jun­gen Men­schen ver­ant­wortlich gemacht, wie die kleine, nur 160 Zeichen lange SMS. Weit­er­lesen

Yolo & Yallaf!

Von Susanne Flach

Der Lan­gen­schei­dt Ver­lag suchte während des Som­mer­lochs wieder das Jugend­wort des Jahres — und will es am Son­ntag nach Juryauswahl und Pub­likumsab­stim­mung gefun­den haben. Yolo, was für you only live once (‚Du leb­st nur ein­mal‘) ste­ht und laut Jury als „Auf­forderung, eine Chance zu nutzen“ inter­pretiert wird. Weit­ere Nominierun­gen waren (in abw­er­tender Rei­hen­folge): FU!, yal­la, wulf­fen und Koma­su­tra.

Irgend­wie ist yolo sog­ar fast pfif­fig und sprach­wis­senschaftlich als Diskurs­mark­er beina­he inter­es­sant — zumin­d­est, wenn sich der Anspruch die Gewin­ner­worte der let­zten bei­den Jahre, Niveaulim­bo (2010) und Swag (2011), von unten ansieht.

Was aber genau die focussierte Jury aus Spießern von Welt dazu bewogen hat, wulf­fen zu nominieren, das als gut­ten­ber­gen bere­its im let­zten Jahr erkennbar schlecht als Unfug getarnt war, wird ihr Geheim­nis bleiben. Genau wie übri­gens die Nominierungs- und Auswahl­prozesse. Zwar kann jede/r Vorschläge ein­senden, aber schon das wortkarge 358-seit­ige Forum auf der Wahl-Seite lässt Zweifel daran aufkom­men, woher Kan­di­dat­en und Pub­likums­barom­e­ter genau kommen.

(Zu FU! möchte ich mich zum Beispiel gar nicht äußern (lol­rofllol).)

In Ord­nung. Die Jury kämpft ver­mut­lich noch mehr als wir beim Anglizis­mus des Jahres damit, die Aktu­al­ität und den tat­säch­lichen Sprachge­brauch der Kan­di­dat­en präzise zu bes­tim­men und einzu­gren­zen (ehrlich­er Ver­such voraus­ge­set­zt). Googles zeitliche Zuver­läs­sigkeit ist derzeit hundsmis­er­abel — selb­st wenn man die Tre­f­fer nach dem 20. Juli raus­fil­tert, an welchem Lan­gen­schei­dt die Kan­di­dat­en bekan­nt­gab, erhält man über­wiegend Pressemit­teilun­gen vom Anfang der Woche. Sei’s drum. Aber ob beispiel­sweise Koma­su­tra so neu ist? Schnell und ober­fläch­lich recher­chiert: komasutra.de ist eine seit April 2007 kon­nek­tierte Domain mit ver­steck­ten Par­ty­bildern. Naja, bleiben wir fair: ein kreativ­er Ham­burg­er macht ja noch kein kama­sutrös schiefge­laufenes Besäufnis.

Zumin­d­est bei der Ein­hal­tung des Nominierungskri­teri­ums „Kreativ­ität“ hat man sich möglicher­weise Mühe gegeben: zwar ist yolo for­mal ein stin­knor­males Akro­nym (sowas wie Laser). Aber immer­hin: sollte yolo tat­säch­lich im Sinne „eines Lebens­ge­fühls“ ver­wen­det wer­den, würde ich an dieser Stelle ganz ergrif­f­en nick­en wollen. Aber es liegt kaum ein brauch­bar­er Beleg aus dem deutschsprachi­gen Raum vor — vielle­icht ver­steck­en sie sich auch ein­fach viel zu gut im leeren Rund ein­er inter­ne­to­phoben Gen­er­a­tion. Doch selb­st meine bei­den Infor­man­tInnen (15 & 18) mocht­en dieses Wohlwollen mit „ach, diese amerikanis­che Ver­arsche pseudoin­tellek­tueller Hip­ster­scheiße?“ auch nicht so recht auslösen.

Bei der Beurteilung der Ver­bre­itung im Sprachge­brauch der Ziel­gruppe beg­nügt sich die Jury dementsprechend auch dieses Jahr mit Klick­zahlen eines Videos eines möglicher­weise bekan­nten Duos (hier: Drake feat. Lil Wayne — it’s in the name, wayne!). Diesen Beleg aber mit ein­er „nicht mehr wegzudenken[den]“ Ver­bre­itung eines Wortes gle­ichzuset­zen wäre in etwa so, als behaupte man, wir ver­stün­den „Ret­tungss­chirm“ als Aus­druck ein­er hip­pen Non­cha­lance, weil 82 Mil­lio­nen Mit­glieder der Sprachge­mein­schaft bei ein­er bun­desregieren­den Neu­jahrsansprache die Fernbe­di­enung nicht rechtzeit­ig gefun­den haben.

Vielle­icht hat die Jury aber auch ein­fach ganz großar­ti­gen Humor.

Unter Schneeblinden

Von Anatol Stefanowitsch

Es ist völ­lig egal, wie oft man den Mythos von den „vie­len Eski­mowörtern für Schnee“ wider­legt — wie aus­führlich man z.B. die Struk­tur der Eki­mo-Aleut-Sprachen erk­lärt, wieviele all­t­agsmythol­o­gis­che Quellen man durch­forstet, wievie­len Auswe­ich­mythen man nachge­ht. Es gibt immer Leute — einen drit­tk­las­si­gen Krim­i­au­tor, zum Beispiel, oder seine folk­lorisierende Bürokraft — die das alles bess­er wis­sen. Denn sie kan­nten mal jeman­den, der einen kan­nte, der vielle­icht ein Eski­mo war oder zumin­d­est einen dick­en Anorak besaß, und der hat es ihnen gesagt. Außer­dem haben sie eine Liste! Mit ganz vie­len Eskimoschneewörtern!

Nun kön­nte so eine Wörterliste ja sog­ar bei der Beant­wor­tung der Frage weit­er helfen, ob die Eski­mos ent­ge­gen der detail­lierten Auskün­fte von Fach­leuten viele­icht doch „viele Wörter für Schnee“ haben — es kön­nte ja sein, dass es sich bei den Auskün­ften der Fach­leute um eine Ver­schwörung han­delt, um sich von staatlichen Forschungs­geldern ein faules Leben zu gön­nen, so eine Art Wörter­gate. Wäre es nicht toll, wenn der kleine Mann auf der Straße diese Ver­schwörung aufdeck­en kön­nte, in dem er die Wörterlis­ten öffentlich macht, die die Lin­guis­tik-Mafia so verzweifelt unter Ver­schluss zu hal­ten versucht?

Einen Ver­such wäre es wert. Nur reicht es dazu lei­der nicht, so eine Liste gedanken­los in einen aufge­blasen blub­bern­den Blogkom­men­tar zu kopieren oder sie auf der eige­nen gerne­großen pseudo­bil­dungs­bürg­ertümel­nden Lang­weil­er­web­seite vor der Welt zu ver­steck­en. Man muss dazu auch min­destens drei Fra­gen beant­worten können:

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Schneeschleudern

Von Anatol Stefanowitsch

Im Lan­guage Log, der Mut­ter aller Sprach­blogs, kämpft man seit vie­len Jahren gegen den Mythos von den vie­len (50, 100, 200, 500, …) Eski­mo-Wörtern für Schnee, den ich im Bre­mer Sprach­blog auch schon ein paar Mal behan­delt habe. Obwohl die Kol­le­gen in Dutzen­den von Beiträ­gen ver­sucht haben, den Mythos zu entkräften, find­et sich fast jede Woche jemand, der ihn an sicht­bar­er Stelle in den Medi­en wiederholt.

Es ist deshalb sich­er ver­ständlich, dass die Autoren des Lan­guage Log mit­tler­weile auf die bloße Erwäh­nung von Schnee­vok­ab­u­lar gereizt reagieren. Trotz­dem finde ich, dass Lan­guage Log­ger Ben Zim­mer in seinem jüng­sten Beitrag zum The­ma etwas überempfind­lich wirkt. The­ma des Beitrags ist fol­gen­des Wer­be­plakat des isländis­chen Bek­lei­dung­sh­er­stellers 66° North:

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Erfolgte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auf Deutsch?

Von Anatol Stefanowitsch

Ist ger­ade Voll­mond, oder was lockt die VDS’ler in Scharen unter den Steinen her­vor, unter denen sie nor­maler­weise leben? Nach dem reizen­den Kom­men­tar, den Region­alleit­er Lietz mir am Woch­enende hier hin­ter­lassen hat, finde ich heute mor­gen diese deut­lich höflich­er und orthografisch kor­rek­tere E‑Mail in meinem Postfach:

Sehr ungeehrter Junior­pro­fes­sor! Als Englis­ch­pro­fes­sor ist Ihnen die deutsche Sprache natür­lich nichts wert, mit ihr kön­nen Sie sich nicht brüsten. Wer befan­gen ist, sollte ein­fach schweigen! Für einen Pro­fes­sor sind Sie außer­dem ziem­lich unge­bildet. Sie müssten wis­sen, daß Deutsch fast Amtssprache der USA gewor­den wäre und daß sog­ar die amerikanis­che Unab­hängigkeit­serk­lärung zuerst auf Deutsch veröf­fentlicht wurde. http://vds-ev.de/verein/aha/aha.php Mit unfre­undlichen Grüßen, Hol­ger (Mit­glied beim VDS)

Ehrlicher­weise muss ich dazu sagen, dass ich nicht beurteilen kann, ob es sich beim Autor wirk­lich um ein VDS-Mit­glied han­delt. Die E‑Mail ist über einen anony­men E‑Mail-Dienst ver­schickt wor­den und „Hol­gers“ ange­bliche E‑Mail-Adresse scheint nicht zu existieren. Die Anrede „Junior­pro­fes­sor“ deutet allerd­ings auf ein VDS-Mit­glied hin, da man im Forum des VDS der irri­gen Mei­n­ung ist, ich sei Junior­pro­fes­sor und da mich schon des öfteren nachvol­lziehbar authen­tis­che VDS-Mit­glieder so angeschrieben haben.

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Schnee im Deutschlandradio

Von Anatol Stefanowitsch

Ich habe im Deutsch­landra­dio ein Inter­view zu den Eski­mo-Wörtern für Schnee gegeben: hier ist ein direk­ter Link zum Pod­cast des Inter­views auf der Web­seite von Deutsch­landra­dio-Kul­tur. Lei­der fehlt dort die Anmod­er­a­tion, der Pod­cast geht mit mein­er ersten Antwort los. Die Anmod­er­a­tion ging unge­fähr so (die Inter­view­erin hat sie mir vor­ab per E‑Mail geschickt, der tat­säch­liche Wort­laut war in der Sendung dann leicht anders):

Pul­ver­schnee — Papp­schnee — Harsch — es gibt in Deutsch­land eine ganze Rei­he von Beze­ich­nun­gen, für das, was ger­ade als Folge des Tiefs Daisy das ganze Land bedeckt. Und doch leben die meis­ten von uns im Bewusst­sein, dass wir im Ver­gle­ich zu den Eski­mos — oder Inu­it — nur ganz ganz wenige Begriffe für Schnee ken­nen. Die Bewohn­er der ver­schneit­en Land­stiche wür­den — so heißt es — bis zu 400 Wörtern für Schnee ken­nen. Es seien aber — so räumte die Süd­deutsche Zeitung mit diesem Mythos auf: in Wirk­lichkeit nur zwei: näm­lich das Wort Quanik — für den liegen­den Schnee und Aput für den fal­l­en­den. Haben die Inu­it oder Eski­mos also gar nicht viel mehr Wörter als wir für Schnee? Das habe ich den Sprach­wis­senschafts-Pro­fes­sor Ana­tol Ste­fanow­itsch von der Uni­ver­sität Bre­men gefragt.

Außer­dem gibt es hier eine Kurz­nachricht auf der Deutsch­landra­dio-Web­seite, die die Essenz des Beitrags unter der Über­schrift wiedergibt: „Lin­guist: Nicht viele Wörter für Schnee in den Eski­mo-Sprachen“. Das klingt, als sei es eine Neuigkeit (ist es nicht) und als habe ich das ent­deckt (habe ich nicht), aber natür­lich habe ich bere­its aus­führlich­er darüber geblog­gt, und zwar unter anderem hier: Weit­er­lesen

Jugendwort 2009

Von Anatol Stefanowitsch

Das Jahr neigt sich dem Ende zu und wir dür­fen uns neben triefend­en Jahres­rück­blick­en auch auf eine Rei­he von Wörtern und Unwörtern des Jahres gefasst machen.

In den USA hat das New Oxford Amer­i­can Dic­tio­nary vor ein paar Tagen das Wort unfriend zum „Word of the Year“ ernan­nt, in Deutsch­land eröffnet der Ver­lag Lan­gen­schei­dt den Reigen der Wort­wahlen mit dem „Jugend­wort 2009“. Die Top 5:

  1. hartzen
  2. bam
  3. Bankster
  4. Rudel­guck­en
  5. Pisaopfer

Die Lan­gen­schei­dt-Jury ist von ihrer eige­nen Wahl so begeis­tert, dass sie sich zu fast poet­is­chen sozialkri­tis­chen Aus­führun­gen hin­reißen lässt: Weit­er­lesen

Wieder mal Jugendsprache

Von Anatol Stefanowitsch

Die Badis­che Zeitung beschäftigt sich mit dem „Neuen Wörter­buch der Szene­sprachen“ des Duden­ver­lags, das ger­ade in sein­er zweit­en Auflage erschienen ist. Unter der Über­schrift „Neuer Duden für Jugend­sprache“ fol­gt zunächst ein für solche Artikel ja oblig­a­torische Absatz in ange­blich­er Jugend­sprache: Weit­er­lesen