Wie viel Verantwortung die deutsche Regierung an der Wirtschaftskrise im Euro-Raum trägt, will ich nicht beurteilen (wenigstens nicht im Sprachlog), aber dass Außenminister Guido Westerwelle sich mit einem linguistischen Argument der Rechenschaft entziehen will, kann ich natürlich nicht durchgehen lassen. Vor allem nicht, weil das Argument nicht nur eine merkwürdige Vorstellung der Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit offenbart, sondern auch sachlich falsch ist.
Westerwelles Argument ist das folgende:
Das dritte Zerrbild zeige ein Deutschland, das einem „Dogma der Austerität“ anhänge und der Frage neuen Wachstums gleichgültig, wenn nicht sogar ablehnend gegenüberstehe. „Das Wort ‚Austerität‘ gibt es in der deutschen Sprache nicht einmal“, sagte Westerwelle und versicherte, dass auch für Deutschland die Frage, wie sich neues und zugleich nachhaltiges, dauerhaftes Wachstum fördern lässt, ganz oben auf der Agenda stehe. ((Kaczmarek, Michael (2009) Westerwelle: EU-Reformen sind kein deutsches Diktat, euractiv.de, 24.5.2013 [Link]))
Deutschland kann für die europäische Austeritätspolitik also nicht verantwortlich sein, weil das Deutsche kein Wort für „Austerität“ habe.
Diese Aussage kann ich auf zwei Arten verstehen, von denen eine völlig und eine leicht verwirrt wäre (von der Tatsache, dass das Deutsche ganz offensichtlich sehr wohl ein Wort für Austerität hat, einmal abgesehen – auf die komme ich gleich zurück).
Entweder, Westerwelle meint hier, wer kein Wort für etwas hat, kann es nicht tun. Das wäre eine extreme Version der sprachlichen Relativität, die offensichtlich falsch ist: Hunde haben keine Worte für „seinen eigenen Schwanz jagen“, trotzdem können sie es tun. Deutsche bräuchten das Wort Austerität nicht, um auf die Idee zu kommen, den Staatshaushalt durch einen Investitionsstop und Kürzungen der Sozialausgaben auszugleichen.
Oder Westerwelle will sagen, da die Deutschen das Wort Austerität nicht erfunden, sondern entlehnt haben, müsse auch das dahinterstehende Konzept von jemandem anders erfunden worden sein. Das wäre ebenso falsch, denn natürlich ist es für eine Sprachgemeinschaft möglich, Wörter für etwas zu entlehnen, das sie bereits praktiziert. Die deutsche Sprachgemeinschaft hat z.B. mit hoher Wahrscheinlichkeit schon Sex gehabt, bevor sie das Wort Sex aus dem Englischen entlehnt hat. Außerdem wäre die Tatsache, dass auch das Wort Austerität (bzw. seine hier relevante Bedeutung) aus dem Englischen stammt, kein Grund, warum die aktuelle Austeritätspolitik nicht von Deutschland ausgehen sollte. Es ist ja problemlos möglich, anderen Menschen Dinge aufzuzwingen, die man nicht selbst erfunden hat: Alle Missionare machen das zum Beispiel so.
Bleibt die Frage, warum Westerwelle überhaupt auf die Idee kommt, das Deutsche habe kein Wort für Austerität. Natürlich hat es das, und Westerwelle verwendet es ja selbst: Austerität, halt. ((Im Duden steht es derzeit übrigens nicht.)) Was er damit nur meinen kann, ist, dass es sich bei diesem Wort nicht um eins handelt, das uns aus dem Proto-Germanischen erhalten geblieben ist. Stattdessen stammt es ursprünglich aus dem Lateinischen (austeritas), wo es „Herbheit“ (z.B. von Wein) und im übertragenen Sinne auch „Strenge, Ernst“ hieß. Mit dieser Bedeutung findet es sich schon im 14 Jahrhundert im Englischen:
- Þe gret austerité, Þat Crist sal shew þat day. [1340, cit. Oxford English Dictionary, s.v. austerity („Die große Strenge, die Christus an diesem Tage zeigen wird.“)
Ab Anfang des 17. Jahrhunderts findet es sich außerdem mit der Bedeutung „Selbstdisziplin, Zurückhaltung, moralische Strenge, Abstinenz, Asketentum“:
- Or on Dianaes altar to protest, For aye, austeritie and single life. [1600, Shakespeare, Midsummer Night’s Dream, cit. OED, s.v. austerity]
(In der Übersetzung von Schlegel wird austerity in Beispiel 2 recht eng mit „ehloser Stand“ übersetzt).
In dieser Bedeutung findet sich das Wort Austerität spätestens seit dem 18. Jahrhundert auch im Deutschen (Jahreszahlen verlinken auf die Quellen bei Google Books):
- Dieses erklären die Welt-Menschen also: wenn man bey einer lustigen Compagnie sey, so soll man mit machen, und nicht mit seiner Austerität sie in ihrer Lustbarkeit stören… [1738]
- Nun scheinet er zwar eines Theils die Sache fast allzuweit wegzuwerfen, andern Theils aber zu seiner Verwahrung eine übrige Austerität anzunehmen; allein im Mittel zu bleiben, ist es wohl zu erachten , daß er zu keiner solchen Conferenz vorjetzo leicht stimmen werde. [1745]
Die finanzpolitische Bedeutung („Ausgleich des Staatshaushalts durch strenge Sparmaßnahmen“) stammt aus dem Großbritannien des Zweiten Weltkriegs, das Oxford English Dictionary nennt die Times Weekly vom 2. Dezember 1942 als erste Quelle:
-
A General Limitation Order—..which suggests that the United States have got quite a way on the road to austerity.
Im Deutschen findet sich diese Bedeutung spätestens 1954, noch in Anführungszeichen und im direkten Zusammenhang mit der britischen Austeritätspolitik, schon 1961 (und seitdem durchgängig) aber ganz selbstverständlich auch in anderen Zusammenhängen:
- Das britische Volk ist müde geworden durch Krieg und „Austerität”, eine zwiefache Prüfung, die der Amerikaner niemals kennengelernt hat. Der britische Stolz ist verletzt, weil Britanniens Gewicht in der Kräfteverteilung der Welt geringer geworden ist. [1954]
- Gleichzeitig ist in Belgien, keine 500 km von uns entfernt, die Wirtschaft durch die Evakuierung des Kongos und die Streiks so sehr durcheinander geraten, daß wohl nur ein Programm striktester Austerität das Land wieder auf die Beine kommen kann, wobei auch hier damit zu rechnen ist, daß ein beträchtlicher Pool von Arbeitslosen zurückbleiben wird. [1961]
Und sogar das Wort Austeritätspolitik findet sich schon seit 1960 im Deutschen:
- Die Voraussetzung einer Eindämmung der Geldschöpfung wäre die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den Einnahmen und den Ausgaben im Staatshaushalt gewesen. Es gab genug Möglichkeiten, wirksame Maßnahmen zur Erzielung einer Austeritätspolitik zu ergreifen. [1960]
Das Wort Austerität existiert also im Deutschen seit weit über 250 Jahren, und davon seit über 50 Jahren mit der für Westerwelles Zitat relevanten Bedeutung. Nun könnte er sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass lateinische Wörter niemals genuin deutsch werden, und deshalb auch nie genuin deutsches Denken oder Handeln bezeichnen können. Dann würde sich aber die Frage stellen, wie die FDP liberal (von lat. liberalis) sein kann. Hm, wenn ich so darüber nachdenke – vielleicht hat Westerwelle ja mit seiner Theorie doch recht.