Mein HiWi-Job mit Otfrid neigt sich dem Ende zu – eines meiner Fundstücke zum Abschluss:
Verse: 95 Innan thés batun thár thie júngoron then méistar,
Verse: 96 tház er thar gisázi zi dágamuase inti ázi.
[Indessen baten da die Jünger den Meister, dass er sich dort zum Frühstück hinsetzen und essen möge.]
(Otfrid von Weissenburg, Evangelienbuch 2, Kapitel 14)
Das Frühstück war ein “Tagesmus” und bietet einen schönen Anlass dafür, sich mit dem Wort Mus einmal näher zu befassen. Im Althochdeutschen hieß muos (oder, wie hier, muas geschrieben) noch ‘Essen, Speise, Mus’, vom westgermanischen *môsa- ‘Zukost’. Wahrscheinlich war es eine Ableitung von *mati- Speise’ (darauf geht z.B. das englische meat ‘Fleisch’ zurück). Heute bezeichnet es in der Standardsprache ‘Obstbrei’, regional kann es aber auch für ‘Gemüse’ stehen.
Gemüse ist ein Mus(s)
Ja, genau, Gemüse … das kommt auch von Mus und hieß zuerst ‘Brei, zerkleinerte Nahrung’, dann ‘pflanzliche Nahrung, essbare Pflanzen’. Von Mus zu Gemüse kommt man übrigens ganz leicht, nämlich mit dem Zirkumfix gi-X-i.
Ein “Zirkumfix” ist ein Element, das ein Wort von beiden Seiten umklammert. Da wo ich das X eingesetzt habe, konnten vor langer, langer Zeit einmal alle möglichen Substantive eingesetzt werden. Das so neugebildete Wort hatte auch eine neue Bedeutung: ‘Menge/Gruppe/Gesamtheit von X’. Solche Wörter nennt man daher “Kollektivbildungen” oder “Kollektiva” und man kann sie auch heute noch massenweise im Deutschen finden.1
Berg – Gebirge
Feder – Gefieder
Feld – Gefilde
Schwester – Geschwister
Stern – Gestirn
Wetter – Gewitter |
Mauer – Gemäuer
Ast – Geäst
Wasser – Gewässer
Bau – Gebäude
Blut – Geblüt
Fall – Gefälle
Faß – Gefäß
Haus – Gehäuse
Hag – Gehege
Land – Gelände
Pack – Gepäck
Wurz – Gewürz
Zucht – Gezücht |
Durch die lange Zeit, die seit ihrer Bildung vergangen ist, haben viele dieser Kollektiva allerdings mittlerweile ganz andere Bedeutungen.
Wenn man sich die beiden Gruppen rechts anschaut, fällt schnell etwas auf: In der ersten Gruppe findet sich im Kollektivum immer ein i, wo in der Ausgangsform ein e steht. Das hat einen einfachen Grund:
Die Westgermanen hatten ein lustiges Lautgesetz namens “Westgermanische Hebung” (oder “i-Umlaut”), das besagte: Wenn in der betonten Silbe ein e steht und in der darauffolgenden Silbe ein i, j oder u, dann wird das e zum i.
- berg → wird abgeleitet mit dem Zirkumfix: gi-berg-i
- gi-berg-i enthält in der betonten Silbe ein e und in der Folgesilbe ein i
- Das i verwandelt das e ebenfalls in ein i
- Das Ergebnis: gibirgi
Wem das verdächtig nach Assimilation klingt, der hat recht: Das Lautgesetz nennt sich nicht umsonst Hebung. i, j und u, die auslösenden Laute, werden ganz oben im Mundraum gebildet, e, wie man sieht, etwas weiter unten.
Jetzt üben aber die Folgelaute einen enormen Druck auf das e aus, sie brüllen ununterbrochen “Komm her zu mir, komm her zu mir!” und schließlich gibt das e nach. Es lässt sich nach oben heben und wird damit zum i. Ein klarer Fall von vorauseilendem Gehorsam und ein triumphaler Sieg für die faule Zunge.
Ein Blick auf die zweite Gruppe von Wörtern zeigt, dass die Westgermanische Hebung nicht alles erklären kann: Woher kommen all die Umlaute? Aus dem Althochdeutschen! Auch a, o und u wollten sich verändern, also kam es, schwupps, zum Primär- und Sekundärumlaut.2
Die Regel war ganz ähnlich: Wenn in der betonten Silbe a, o oder u standen und in der darauffolgenden Silbe ein i oder j, wurden die Laute zu ä, ö oder ü.
Diesmal ist aber das u kein Auslöser, weshalb man auch nicht von einer Hebung spricht, sondern von einer “Palatalisierung”. Das bedeutet, dass die Laute sich in Richtung des Palatums (das ist der harte Gaumen) verschieben, also nach vorne – dahin, wo die auslösenden Laute (i und j) sitzen. Es wird also aus einem hinteren oder zentralen Vokal (rechts der grauen Linie) ein vorderer Vokal (links der grauen Linie), weil ein vorderer Vokal (das i) laut nach Gesellschaft brüllt.
Wir haben also wieder:
- ast → wird abgeleitet mit dem Zirkumfix: gi-ast-i
- gi-ast-i enthält in der betonten Silbe ein a und in der Folgesilbe ein i
- Das i verwandelt das a in ein ä
- Das Ergebnis: giästi
Wie leicht zu erkennen ist, gab es im Althochdeutschen keine totale Assimilation: ä, ö und ü sind dem i nur ähnlicher als a, o und u, sie sind nicht mit ihm identisch. Daher nennt man den Vorgang auch “partielle Assimilation”.
Das e in Gehege war übrigens auch mal ein a, es liegt also auch ein Umlaut vor. Warum man es nicht als ä schreibt, ist aber eine andere Geschichte.
Der Narr hat seine Schuldigkeit getan …
Jaja, das auslösende i in der Folgesilbe – wo ist es eigentlich hin? Im Mittelhochdeutschen gab es in den unbetonten Silben ein großes Vokalsterben: Nach und nach wurden alle Vokale abgeschwächt, bis sie am Ende nur noch [ə] waren, wie in gesagt. In vielen Fällen ist dieser reduzierte Laut dann völlig weggefallen. Der Prozess heißt “Nebensilbenabschwächung” und hatte weitreichende Folgen für das komplette Sprachsystem, aber dazu ein andermal. Jetzt gehe ich mein Nachtmus essen.
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