Lateinische Wörter im Deutschen werden oft gnadenlos assimiliert. Zwar bestehen Sprachfanatiker häufig auf den “korrekten” Plural (Praktika, Visa, oder aus meinem Alltag – und ich muss zugeben, dass ich da auch ein bißchen präskriptiv veranlagt bin – Tempora, Kasus, Genera, Simplizia, …), aber was betrifft die anderen Kasus? (Ja, Kasus. Mit langem uuuuuu. Eigentlich vollkommen abartig, so etwas im Deutschen beizubehalten.)
Wie gut, dass ich das “Studium Latinum” im Sommer 2005 in meiner ersten Euphorie nicht direkt verkauft habe. Ein bißchen was zu lateinischen Substantivklassen. Ich mach’s kurz, versprochen!
Stimuli für Tempora
Also … jedes lateinische Substantiv gehört in eine “(Deklinatinons-)Klasse”, auch oft verkürzt “Deklination” genannt. Diese Klasse bestimmt über die Flexionsendungen in den Kasus, also Nominativ, Genitiv undsoweiter. Alle Substantive einer Klasse verhalten sich gleich. Es gibt die a‑, i‑, u‑, e- und o‑Deklination (letztere gleich doppelt, einmal für Maskulina, einmal für Neutra), die konsonantische, die gemischte und die aus aus Partizipien bestehende (wie amâns ‘Liebender’).
Und es gibt ein Problem: Viele der Flexionsformen ähneln sich sehr. Die beliebte lat. Endung -us, eine Endung für maskuline Wörter, findet sich z.B. im Nominativ dreier Klassen.
Betrachtet man daher Wörter wie Tempus, Genus, Kasus, Jesus, Exodus, Exitus, Koitus, … sehen sie oberflächlich betrachtet alle gleich aus – aber dahinter lauert das Grauen: Sie gehören alle zu unterschiedlichen Klassen. Seht und staunt (vor allem, dass ich HTML-Tabellen machen kann!):
kons. Dekl. | o‑Dekl. (m) | u‑Dekl. | ||
Sg. | Nom. | genus | genius | casus |
Gen. | generis | geniî | casûs | |
Dat. | generî | geniô | casuî | |
Akk. | genus | genium | casum | |
Abl. | genere | geniô | casû | |
Pl. | Nom. | genera | geniî | casûs |
Gen. | generum | geniôrum | casuum | |
Dat. | generibus | geniîs | casibus | |
Akk. | genera | geniôs | casûs | |
Abl. | generibus | geniîs | casibus |
-us und -i forever
Besonders beliebt scheint die o‑Klasse zu sein: Dass man aus lateinischen Wörtern, die auf -us enden, Plurale machen kann, die auf -i enden, weiß jedes Kind. (Modus – Modi, Alumnus – Alumni, Stimulus – Stimuli, …) Vielleicht wird dieser i‑Plural auch zusätzlich noch durch italienische Wörter gestärkt, die eine ziemlich feste Korrespondenz o – i aufweisen (Cello – Celli, Espresso – Espressi, …) – aber das ist jetzt freie Spekulation.
Auf jeden Fall wird das Wissen um den i-Plural häufig übergeneralisiert und es entstehen Geni, Kasi oder Tempi – letzteres gibt es sogar, aber als Plural zu Tempo (aus dem Italienischen). Um solche Bildungen zu umgehen, muss man für jedes lateinische Wort extra den Plural lernen. Das gelingt uns zwar bei deutschen Wörtern ziemlich problemlos, aber die Wörter lateinischer Herkunft sind so infrequent, dass ihre Plurale einfach zu selten vorkommen um sie sich wirklich zu merken. Wir müssten ja nicht nur die drei erwähnten Klassen lernen, sondern auch noch alle anderen oben erwähnten. Und dann muss man natürlich auch noch wissen, für welche Wörter lateinischen Ursprungs das nicht mehr gilt, denn viele haben ja mittlerweile einen “deutschen” Plural erhalten, wie Globus – Globen.
Menschen, die bei lateinischen Wörtern falsche Plurale bilden, werden oft verspottet und für minder intelligent gehalten. Das ist natürlich Quatsch. Eigentlich ist das, was sie machen, viel spannender als das, was wir braven Produkte bildungsbürgerlich-humanistischer Erziehung nachplappern: Sie suchen Muster und wenden sie an. Das nennt man “Analogie”, und sie war und ist ein treibender Faktor in vielen, vielen Sprachwandelprozessen.
Warum nur ein lateinischer Plural?
Außerdem, und jetzt komme ich zum eigentlichen Thema, ist die Grenze, die wir da ziehen, ziemlich willkürlich. Wie viel Latein braucht ein Wort lateinischen Ursprungs? Wir benutzen den Nominativ Singular für alle Singularformen und den Nominativ Plural für alle Pluralformen:
(1) Das Genus des Genus ist kein Genuss. [Nom, Gen]
(2) Ich helfe Dir mit dem Genus. [Dat]
(3) Ich kenne das Genus von Genus nicht. [Akk]
(4) Die Genera sind mir unbekannt. [Nom]
(5) Ich bediene mich der Genera, weil ich es kann. [Gen]
(6) Mit den Genera tue ich mich schwer. [Dat]
(7) Ich kenne die Genera vieler Wörter nicht. [Akk]
Ginge es nicht noch originaler? Warum sollte man sich darauf beschränken, den lateinischen Plural zu benutzen, kann man nicht auch die anderen Kasus verwenden?
(1) Das Genus des Generis ist kein Genuss. [Nom, Gen]
(2) Ich helfe Dir mit dem Generi. [Dat]
(3) Ich kenne das Genus von Genus nicht. [Akk]
(4) Die Genera sind mir unbekannt. [Nom]
(5) Ich bediene mich der Generum, weil ich es kann. [Gen]
(6) Mit den Generibus tue ich mich schwer. [Dat]
(7) Ich kenne die Genera vieler Wörter nicht. [Akk]
Dass das nicht passiert, ist irgendwo erklärlich: Es würde zu unseren normalen Substantivklassen noch viele weitere hinzufügen, die wir extra für Fremdwörter lernen müsste. So ein Stress! Das Sprachsystem würde unglaublich aufgebläht, der praktische Nutzen wäre aber gering.
Es gibt im Deutschen viele verschiedene Möglichkeiten der Pluralbildung (Hüte, Tage, Hämmer, Lämmer, Autos, Wagen, Pfannen, …), da fällt es nicht so auf, wenn noch ein paar lateinische Endungen dazustoßen, das System ist eh schon zersplittert. Zur Deklination von Substantiven hingegen gibt es nur sehr begrenzte Mittel: Entweder sie ist stark (der Hut, des Huts, dem Hut, den Hut) oder schwach (der Löwe, des Löwen, dem Löwen, den Löwen). Es gibt ein paar Unregelmäßigkeiten, aber die sind kaum der Rede wert. Ein System also, in dem sich irgendwelche anderen Flexionsendungen viel schlechter verstecken können.
Christi Ausnahmeregelung
Aber … es gibt ein Gegenbeispiel. In einem Bereich hängt man ganz enorm an den lateinischen Flexionsendungen. Na wo schon? Klar, in der Kirche! Ganz besonders in festen Ausdrücken sind sie beinahe Pflicht:
(8) Christi Himmelfahrt, Passion Christi, Herz Jesu, Mariä Verkündigung, Mariä Himmelfahrt1, Lob sei dir, o Christe!…
Aber auch in der sonstigen Verwendung tauchen sie immer wieder auf. Jesus ist u‑Deklination, Christus o‑Deklination:
(9) Genitiv
a) Leben, Tod und Auferweckung Jesu (Quelle)
b) Christi Himmelfahrt […] bezeichnet im Christentum den Glauben an die Rückkehr Jesu Christi als Sohn Gottes zu seinem Vater in den Himmel. (Quelle)
(10) Dativ2
a) Erlösung von Jesu Christo (ein Buchtitel von 1957 – Quelle)
b) die Wiederkehr und persönliche Erscheinung Jesu Christo mit seinen Heiligen und den Engeln seiner Macht auf die Erde. (in einem Lehrbuch von 1924 – Quelle)
(11) Akkusativ
a) in Jesum Christum wurde uns die Möglichkeit gegeben die [Ur]Sünde zu überwinden um dem Kreislauf von Tat und Tatnachfolge zu entkommen (Quelle) (wahrsch. ist in hier die lat. Präposition)
b) nicht das Seinige getan hat zur Erhaltung des Glaubens an Jesum Christum als Sohn Gottes. (1938, Quelle)
Während die Deklination in den anderen Kasus eher selten genutzt wird und es ziemlich schwierig war, einigermaßen aktuelle Beispielsätze zu finden, ist sie für den Genitiv extrem üblich. Mein Duden (1996) gibt Jesu Christi sogar als einzig möglichen Genitiv an, für Dativ und Akkusativ lässt er Alternativen offen.
Alte Kirchenlieder und Gebete sind eine wahre Fundgrube, dort gibt es sogar den Vokativ wie bei Lob sei dir, o Christe!3 Das ist ein Extrakasus zur Anrede, so etwas gibt es im Deutschen eigentlich überhaupt nicht.
Dass sich das Kirchendeutsch so verhält, ist aber nicht verwunderlich: Viele der Liedtexte, Gebete und auch die Bibelübersetzung selbst sind viele hundert Jahre alt und wurden meist kaum verändert weitergegeben. Da sie Vorbilder für weitere Textproduktion und auch die gesprochene Sprache waren, wurde die lateinische Flexion lange Zeit beibehalten. Bestimmt mitgeholfen hat auch die hohe Frequenz von Jesus Christus, denn bei Wörtern, die sehr oft benutzt werden, behält man Unregelmäßigkeiten eher bei als bei seltenen Wörtern. Und ist ja auch irgendwo cool, die zentrale Person ganz anders zu behandeln, auch sprachlich.