Das Gendersternchen wird in den Medien meistens im beliebten Pro-/Kontra-Format abgehandelt, wobei die „Pro“-Position immer „Für’s Gendern“ und die „Kontra“-Position „Gegen das Gendern“ ist. „Gendern“ wird dabei mit dem Gendersternchen (oder manchmal noch dem Genderdoppelpunkt) gleichgesetzt, und es wird so getan, als ginge es bei diesem Thema hauptsächlich um eine Meinungssache.
Das ist aus vielen Gründen ärgerlich, von denen die für das Pro-/Kontra-Format typische „False Balance“ noch der geringste ist. Es ist ärgerlich, weil dadurch die vielen Fragen verdrängt werden, die es im Rahmen der grundlegenden Veränderungen im Sprachgebrauch, die wir im Bereich Gender seit einigen Jahren beobachten, zu stellen und zu diskutieren gäbe.
Eine wichtige Frage ist, ob und wie die verschiedenen Formen, die derzeit praktiziert werden, psycholinguistisch wirken – wie sie also unsere Interpretation des Gesagten beeinflussen. Zu dieser Frage gibt es für das Gendersternchen nun erste Daten, die – soweit ich sehen kann – bisher nicht sehr breit wahrgenommen oder diskutiert worden sind.
Die Studie benutzt eine Version eines Assoziationstest, den die Psychologinnen Dagmar Stahlberg, Sabine Sczesny und Friederike Braun im Jahr 2001 erstmals verwendet haben. Bei diesem Test werden Versuchspersonen gebeten, bekannte Mitglieder bestimmter Personengruppen zu nennen (Musikschaffende, Romanfiguren, schauspielerisch tätige Menschen, Sporttreibende, in der Politik tätige Menschen, Fernsehmoderierende). Entscheidend ist im Forschungsdesign dann, mit welcher Form diese Gruppe präsentiert wird – z.B. im „generischen“ Maskulinum (Musiker), in der Doppelform (Musiker und Musikerin) oder eben auch innovativen Formen. Die Antworten lassen sich dann daraufhin vergleichen, wieviele Männer, Frauen oder non-binäre Personen genannt werden – ein Hinweis darauf, wie die Form interpretiert wurde. (Wer die detaillierte Diskussion der Studien nicht lesen will, kann zum Abschnitt „Diskussion“ springen!)
Stahlberg, Sczesny und Braun testeten in ihrer ersten Studie drei Formen: Maskulina (z.B. Nennen Sie ihren liebsten Romanhelden), geschlechtsneutrale Ausdrücke (heldenhafte Romanfigur) und Doppelformen (Romanheldin oder Romanheld). Es gab sechs solche Fragen.
Die Autorinnen berichten die Ergebnisse in Form von Durchschnittswerten von Antworten, die sich auf weibliche Personen (Musikerinnen, Romanheldinnen usw.) bezogen. Da sechs Fragen gestellt wurden, kann dieser Wert zwischen 0 (es wurde keine Frau genannt) und 6 (es wurden nur Frauen genannt) liegen. Waren die Fragen im „generischen“ Maskulinum gestellt, wurden im Schnitt 0.67 weibliche Personen genannt (11 Prozent), waren die Fragen geschlechtsneutral gestellt, waren es 1.67 (27.8 Prozent) und enthielt die Frage eine Doppelform, waren es 1.68 (28 Prozent). In allen Bedingungen wurden also hauptsächlich männliche Personen genannt (weil Männer eben, auch, wenn sie nicht darauf hingewiesen werden wollen, der gesellschaftliche „Normalfall“ sind). Beim „generischen Maskulinum“ wurden aber signifikant weniger Frauen genannt als bei den anderen beiden Formen. Diese beiden Formen (neutrale Form und Doppelform) unterschieden sich dabei nicht signifikant voneinander.
Das Ergebnis war also eindeutig: Das „generische“ Maskulinum lässt uns fast ausschließlich an Männer denken, bei geschlechtsneutralen Wörtern und Doppelformen sind wir wenigstens grundsätzlich in der Lage, uns auch Frauen vorzustellen (dabei gab es noch signifikante Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Versuchspersonen, aber dazu ein andermal mehr).
In einem zweiten Experiment wurden die Versuchspersonen gebeten, jeweils drei Mitglieder der o.g. Personengruppen zu nennen. Hier wurden die Fragen im „generischen“ Maskulinum, in der Doppelform und unter Verwendung des Binnen‑I gestellt (Nennen Sie drei MusikerInnen). Nach drei Personen zu fragen, statt nur nach einer, hat zwei Vorteile: Die Fragen können im Plural gestellt werden, und die Versuchspersonen können ein flexibleres Assoziationsverhalten zeigen. Es gab vier solche Fragen, die Zahl der genannten Frauen konnte also theoretisch zwischen 0 und 12 liegen. In diesem Fall unterschieden sich das „generische“ Maskulinum (mit durchschnittlich 2.37 genannten Frauen, also 19.7 Prozent) und die Doppelform (mit durchschnittlich 2.67 genannten Frauen, also 22.2 Prozent) nicht signifikant voneinander (das „generische“ Maskulinum schnitt etwas besser ab als im ersten Experiment, die Doppelform etwas schlechter). Das Binnen‑I zeigte sich mit durchschnittlich 4.6 genannten Frauen (38.3 Prozent) als am besten geeignet, (binäre) gemischtgeschlechtliche Assoziationen auszulösen.
Kommen wir nun zur oben angekündigten Studie über das Gendersternchen. Von der sind, soweit ich sehen kann, bisher nur die Daten veröffentlicht, die von der Marktforschungsagentur EARS and EYES für eine wissenschaftliche Abschlussarbeit erhoben wurden (wenn ich die Abschlussarbeit finde, werde ich hier darüber berichten).
In der Studie wurde dasselbe grundsätzliche Design verwendet, wie in den früheren Studien. Hier wurden Versuchspersonen gebeten, je zwei Mitglieder aus drei verschiedenen Berufsgruppen zu nennen. Dabei wurde neben dem „generischen“ Maskulinum wieder die Beidnennung untersucht, neu hinzu gekommen ist das Gendersternchen (Nennen Sie zwei Schauspieler*innen, bzw. Musiker*innen, Moderator*innen). Die Ergebnisse werden in Form von Häufigkeiten berichtet – zur Vergleichbarkeit mit der Studie von Stahlberg, Sczesny und Braun habe ich sie in Prozentzahlen (Anteil genannter Frauen) umgerechnet. Beim „generischen“ Maskulinum wurden 18 Prozent Frauen genannt (ein Ergebnis, das gut zu den o.g. Studien passt), bei der Doppelform 28.5 Prozent (also ungefähr wie bei der ersten der o.g. Studien), und beim Gendersternchen 30.5 Prozent. Der Unterschied zwischen dem generischen Maskulinum und den anderen beiden Formen ist dabei statistisch signifikant, der Unterschied zwischen Doppelform und Gendersternchen nicht.
Diskussion
Zusammengefasst: Das „generische“ Maskulinum ist nicht geeignet, uns neben Männern auch an Frauen denken zu lassen (keine Überraschung, das wissen wir schon lange). Außerdem denken wir bei (fast) jeder sprachlichen Form hauptsächlich an Männer (auch das ist schon lange bekannt). Aber: Das Gendersternchen erhöht signifikant die Wahrscheinlichkeit, dass wir auch an Frauen denken – allerdings nicht stärker als die traditionelle Doppelform (und nicht so stark wie das Binnen‑I)!
Wir können also ebensogut weiterhin die Doppelform (Musikerinnen und Musiker) verwenden, um den Effekt des Gendersternchens (Musiker*innen) zu bekommen.
Oder doch nicht? Haben wir da nicht etwas vergessen?
Ach ja, richtig: Das Gendersternchen soll ja, anders als die Doppelform, neben Frauen auch nicht-binäre Menschen einschließen, also solche, die sich in die Kategorien „Mann“ und „Frau“ nicht einordnen können oder wollen. Das scheint das Gendersternchen aber empirisch nicht zu tun, und dafür gibt es vermutlich zwei Gründe, die diejenigen, denen es um die sprachliche Inklusion von nicht-binären Menschen geht, im Bewusstsein behalten müssen.
Erstens reicht es nicht aus, eine neue Form zu schaffen und in ein altes System einzufügen. Egal, ob es der Unterstrich, der Genderstern oder der Doppelpunkt ist – diese Interpunktionszeichen bedeuten von sich aus nicht „hier sind nicht-binäre Menschen gemeint“, wenn wir sie in Wörter einfügen, die nach dem Schema „männlicher Wortstamm + weibliche Nachsilbe“ gebildet worden sind. Stattdessen scheinen sie zunächst einfach als Alternative zu traditionellen Sparschreibungen (wie Musiker/-innen) interpretiert zu werden. Das wäre eine Art Reparaturstrategie seitens der Sprachverarbeitung im Gehirn: Sie stößt auf etwas, das (noch) nicht Teil des Systems ist und integriert es, indem sie nach etwas Ähnlichem sucht, das bereits Teil des Systems ist.
Damit das Gendersternchen (oder eine beliebige Alternative) mehr als das werden kann, muss seine Einführung mit einer breiten gesellschaftlichen Diskussion darüber einhergehen, was es bedeuten soll. Und dazu ist es nötig, die Sprachgemeinschaft (oder wenigstens große Teile) davon zu überzeugen, dass es (a) nicht-binäre Menschen gibt, dass diese (b) in den traditionellen Sprachformen nicht sichtbar sind, und dass © das Sternchen ein Versuch ist, das zu ändern. Das sind drei Annahmen, deren Akzeptanz (einzeln oder gemeinsam) nicht einfach vorausgesetzt werden kann.
Zweitens zeigt sich in dem Experiment vermutlich auch der Einfluss einer weiteren Variable: Die meisten Versuchspersonen kennen schlicht keine nicht-binären Musiker*innen, Schauspieler*innen oder Moderator*innen, deshalb können sie sie in einem Experiment nicht nennen. Tatsächlich kennen die meisten Mitglieder der Sprachgemeinschaft wahrscheinlich grundsätzlich keine (oder nur sehr wenige) nicht-binäre Menschen, einfach, weil diese eine sehr kleine Minderheit darstellen – deshalb haben sie auch keine mentale Repräsentation dieser Gruppe, die sie mit dem Gendersternchen verknüpfen könnten.
Auch hier gilt es, die gesellschaftliche Sichtbarkeit und Wahrnehmung der betroffenen Gruppe zu verändern. Das ist bei sehr kleinen Gruppen schwieriger, als bei sehr großen Gruppen (etwa Frauen, die eine Bevölkerungsmehrheit darstellen). Wenn die Sprachgemeinschaft ein mentales Konzept der Kategorie „nicht-binäre Menschen“ haben soll, das mit dem Gendersternchen verknüpft werden kann, müssen hier aber Wege gefunden werden.
Mit anderen Worten: Das Gendersternchen ist nicht die Lösung für das Problem der Unsichtbarkeit nicht-binärer Menschen, es ist nur ein erster Schritt.
Heißt das, dass wir ebensogut darauf verzichten können? Nein, denn mit unserer Sprache bilden wir nicht nur Inhalte ab, wir kommunizieren auch unsere Perspektive (bei Karl Bühler hieß diese Funktion noch „Ausdruck“, im beliebten „Kommunikationsquadrat“ von Schulz von Thun heißt sie „Selbstkundgabe“). Indem wir das Gendersternchen bewusst und aus eigener Entscheidung verwenden, zeigen wir der betroffenen Gruppe wenigstens, dass wir sie wahrnehmen wollen.
Da das Gendersternchen bisher nicht besser darin ist, die Sichtbarkeit von Frauen (die ja auch darin inkludiert sein sollen) zu erhöhen, als die Doppelform, sollten wir außerdem nicht voreilig auf das Binnen‑I verzichten (das viele Institutionen jetzt hastig aus ihren Genderleitfäden streichen). In Zusammenhängen, in denen es vorrangig um die Sichtbarkeit von Frauen geht (und solche Zusammenhänge gibt es ja immer noch viele), ist es eine sehr effektive Form.