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Laudatio zum Anglizismus des Jahres 2021: boostern

Von Anatol Stefanowitsch

Anglizis­mus des Jahres 2021 ist das Wort boost­ern als Beze­ich­nung für eine Auf­frischungsimp­fung gegen COVID. Die Pan­demie liefert uns damit nach dem Lock­down im let­zten Jahr erneut nicht nur das Wort des Jahres („Wellen­brech­er“), son­dern auch das wichtig­ste Wort des Jahres. Aber immer­hin ist es nach dem bedrück­enden und nach Gefäng­nis klin­gen­den Lock­down des let­zten Jahres ein opti­mistis­ches, fast futur­is­tis­ches Wort, das eher an eine Superkraft als an eine medi­zinis­che Rou­tine­proze­dur denken lässt.

Es war aber nicht dieser Beik­lang des Verbs boost­ern (und des dazuge­höri­gen Sub­stan­tivs Boost­er, das als eine Art „First Wort­stamm“ mit auf dem Siegertrep­pchen ste­hen darf), der die Jury überzeugt hat, son­dern die Tat­sache, dass es auf exem­plar­ische Weise zeigt, wie effek­tiv Lehn­wörter neu ent­standene Lück­en im Wortschatz füllen kön­nen. Als im Herb­st 2021 klar wurde, dass wir uns zum (vor­erst) drit­ten Mal gegen COVID wür­den impfen lassen müssen, hät­ten wir das vorhan­dene Wort „Auf­frischungsimp­fung“ ver­wen­den kön­nen, wie wir es für andere Imp­fun­gen ja tun. Aber da die Imp­fung selb­st ja für die meis­ten von uns erst wenige Wochen her und damit noch sehr frisch war, hätte das nicht so recht gepasst, und ein Verb dazu gibt es auch nicht.

Poster einer Booster-Kampagne aus den USA mit RaketeDas Lehn­wort Boost­er und das daraus abgeleit­ete boost­ern kamen da ger­ade recht, und die bei­den Wörter hat­ten zusät­zlich den Vorteil, in ihrer Bedeu­tung ein­deutiger zu sein: In medi­zinis­chen Tex­ten kamen sie schon vor der Pan­demie vere­inzelt vor und beze­ich­nen dort ganz all­ge­mein ein Ver­stärken der Immunab­wehr, aber in der All­t­agssprache beze­ich­nen sie speziell die Auf­frischung ein­er COVID-Imp­fung. Die Bedi­enung, die mich beim Betreten eines Restau­rants fragt, ob ich „geboost­ert“ sei, braucht sich also mit mir nicht auf eine Diskus­sion darüber einzu­lassen, dass ich tat­säch­lich ger­ade meine Tetanus-Imp­fung habe auf­frischen lassen. Wie es bei Lehn­wörtern häu­fig der Fall ist, trägt Boost­ern so zu ein­er Aus­d­if­feren­zierung des Wortschatzes bei.

Dabei ist das Verb boost­ern selb­st wahrschein­lich gar kein Lehn­wort, son­dern eine Eigenkreation der deutschen Sprachge­mein­schaft. Beim Sub­stan­tiv Boost­er ist klar, dass es direkt aus dem Englis­chen über­nom­men wor­den ist. Den boost­er shot (wörtlich „Ver­stärkungss­chuss“, wenn das die „Quer­denker“ wüssten…) gibt es dort schon seit Mitte der 1940er Jahre, die Kurz­form Boost­er seit den 1960ern. Aber das dazuge­hörige Verb lautet nicht to boost­er son­dern to boost – wenn wir das Verb direkt entlehnt hät­ten, müsste es also boost­en heißen. Und vere­inzelt find­et sich diese Form auch tatsächlich:

(1) Die pos­i­tiv Getesteten sind dem Vernehmen nach symp­tom­frei und alle­samt dop­pelt geimpft und geboost­et. (SZ, 2022-01-11)
(2) Muss man sich mit ein­er Kreuz­imp­fung über­haupt boost­en lassen und soll­ten homogen Geimpfte für den Boost gezielt den Impf­stoff wech­seln? (Kreiszeitung, 2022-06-01)

Aber gegen die Form boost­ern hat dieses Lehn­verb keine Chance: es macht in deutschen Tex­ten ger­ade ein­mal ein Prozent der Tre­f­fer aus.

Umgekehrt ist es im Englis­chen: hier find­et sich seit Jan­u­ar neben der Haupt­form to boost mit steigen­der Ten­denz auch die Form to boost­er:

(3) I was vac­ci­nat­ed and boost­ered which made me lucky enough to only have mild symp­toms. (Jim­my Fal­lon auf Insta­gram, 2022-01-04.
(4) …the ful­ly vac­ci­nat­ed and boost­ered and the unvac­ci­nat­ed are liv­ing in two dif­fer­ent worlds. (New York Times, 2021-12-31)

Da es das deutsche Verb aber schon spätestens seit Okto­ber 2021 gibt, war es vor dem englis­chen da – was natür­lich nicht heißt, dass es aus dem Deutschen ins Englis­che entlehnt wor­den ist: Die Fähigkeit, aus Sub­stan­tiv­en Ver­ben abzuleit­en, gibt es m Deutschen und im Englis­chen gle­icher­maßen, und dass die deutsche Sprachge­mein­schaft dieses Poten­zial hier früher erkan­nt hat, zeigt ein­mal mehr, dass Entlehnung kein pas­siv­er Prozess ist, bei dem fremde Wörter von außen in eine vorher reine Sprache ein­drin­gen, son­dern eine aktive Hand­lung seit­ens der aufnehmenden Sprachgemeinschaft.

Als Eigenkreation fügt sich das Verb boost­ern naht­los ins gram­ma­tis­che Sys­tem des Deutschen ein und übern­immt dabei das gram­ma­tis­che Ver­hal­ten des bedeu­tungsver­wandten impfen – so, wie wir mit einem Impf­stoff oder gegen eine Krankheit geimpft wer­den kön­nen, geht das auch mit boost­ern:

(7) Sechs der sieben Teil­nehmer der Reiseg­ruppe waren mit Bion­tech geboost­ert. (Tagesspiegel, 2021-12-14)
(6) Laut Ver­band kön­nte in rund 200 Apotheken gegen Coro­na geboost­ert wer­den. (Radio Güter­sloh, 2021-12-01)

Da boost­ern im all­ge­meinen Sprachge­brauch allerd­ings weit­ge­hend auf COVID-Imp­fun­gen beschränkt ist, ist die Angabe der Krankheit (wie in Bsp. 6) eher selten.

Das Verb boost­ern füllt also eine Lücke im deutschen Wortschatz und ermöglicht so eine knappe und präzise Aus­druck­sweise, und es fügt sich naht­los ins gram­ma­tis­che Sys­tem des Deutschen ein. Wie die Imp­fung selb­st ist es damit eine echte Bereicherung.

Es wird der deutschen Sprache auch auf abse­hbare Zeit erhal­ten bleiben und sein Wort­bil­dungspoten­zial weit­er ent­fal­ten – da die poli­tisch Entschei­dungstra­gen­den nicht ver­standen haben, wie Evo­lu­tion funk­tion­iert, wer­den sie noch eine ganze Weile ver­suchen, die Ver­säum­nisse ver­gan­gener Impfkam­pag­nen aufzu­boost­ern, die Pan­demie wegzu­boost­ern, oder doch wenig­stens die Bevölkerung durchzu­boost­ern. Das ständig mutierende und nach wie vor tödliche Virus wer­den sie damit nicht ein­fan­gen, aber wenig­stens tra­gen sie dazu bei, dass die deutsche Sprache lebendig bleibt.

Laudatio zum Anglizismus des Jahres 2020: Lockdown

Von Anatol Stefanowitsch

Anglizis­mus des Jahres ist das Wort Lock­down als Beze­ich­nung für eine Mis­chung aus mehr oder weniger stren­gen Aus­gangs­beschränkun­gen, Ein­schränkun­gen der Bewe­gungs- und Ver­samm­lungs­frei­heit und Kon­tak­tbeschränkun­gen bei gle­ichzeit­igem Schließen aus­gewählter öffentlich­er Ein­rich­tun­gen. Dass die COVID-19-Pan­demie nach dem Wort des Jahres („Coro­na-Pan­demie“) und dem Unwort des Jahres [PDF] („Coro­na-Dik­tatur“) auch beim Anglizis­mus des Jahres ihre Spuren hin­ter­lassen würde, ist angesichts der tief­greifend­en Umwälzun­gen des öffentlichen Lebens und Han­delns, das sie verur­sacht hat, sich­er nicht über­raschend. Das Wort Lock­down ist aber auch in ander­er Hin­sicht ein per­fek­ter Anglizis­mus des Jahres: Zum einen ist es brand­neu – in der aktuellen Bedeu­tung ist es erst im März 2020 ins Deutsche entlehnt wor­den. Zum anderen ist es in kurz­er Zeit zu einem selb­stver­ständlichen und nicht mehr wegzu­denk­enden Bestandteil der deutschen Sprache geworden.

Vor- und Frühgeschichte

Das Wort lock­down taucht im Englis­chen zum ersten Mal im Jahr 1832 auf, beze­ich­nete zunächst aber einen Befes­ti­gungsmech­a­nis­mus im Floßbau und dann ver­schiedene Arten von Pflöck­en, Hak­en und Sicherungsstiften.

© Luis Arg­erich, CC BY-SA 2.0

Mit dem heuti­gen Lock­down hat dieser in der All­t­agssprache sel­ten ver­wen­dete tech­nis­che Ter­mi­nus aber ver­mut­lich nichts zu tun. Dessen Vor­läufer find­et sich erst ab den 1970er Jahren, zunächst im amerikanis­chen Englisch. Das Oxford Eng­lish Dic­tio­nary nen­nt fol­gen­den Erst­be­leg (wobei die Selb­stver­ständlichkeit, mit der das Wort hier ver­wen­det wird, ver­muten lässt, dass es im Sprachge­brauch zu dieser Zeit schon etabliert war):

A full-scale lock­down, the first in the 18-year his­to­ry of the 1.950-inmate Vacav­ille facil­i­ty, was imposed imme­di­ate­ly after the knif­ing. [San­ta Cruz Sen­tinel, 3. Dezem­ber 1973]

Hier beze­ich­net das Wort eine Sit­u­a­tion, in der die Inhaftierte in einem Gefäng­nis (oder hier, einem Gefäng­niskranken­haus), aus Sicher­heits­grün­den in ihre Zellen eingeschlossen wer­den. Das ist noch nicht die heutige Bedeu­tung, aber – und das ist ein­er dieser merk­würdi­gen Zufälle, die einem nie­mand glauben würde, wenn man sie erfände – der Artikel, aus dem dieser Erst­be­leg stammt, han­delt von ein­er Messer­at­tacke auf einen berüchtigten Serien­mörder, der aus­gerech­net Juan Coro­na hieß.

Anfang der 1980er Jahre erfol­gte eine entschei­dende Bedeu­tungser­weiterung: Das Wort wurde jet­zt auch für Sit­u­a­tio­nen ver­wen­det, in denen nicht die Bewe­gungs­frei­heit der­jeni­gen eingeschränkt wurde, die eine Gefahr darstellen, son­dern der­jeni­gen, die vor ein­er Gefahr geschützt wer­den sollen:

Offi­cials also con­firmed that they insti­tut­ed a “secu­ri­ty lock­down” at the PUREX plant Mon­day when a can con­tain­ing less than 100 grams of plu­to­ni­um sludge was found to be miss­ing. [Ari­zona Repub­lic, 16. Dezem­ber 1984]

Ab den 2000ern wird das Wort dann auch ver­wen­det, wenn die Bewe­gungs­frei­heit in ganzen Städten eingeschränkt wird, wie in diesem Artikel über New York nach den Ter­ro­ran­grif­f­en auf das World Trade Center:

We heard the city was on lock­down and that it wasn’t pos­si­ble to get in. They went any­way. [Quill Mag­a­zine, 1. Mai 2002]

© Bran­don Gre­go­ry, CC BY-SA 4.0 Int.

Ab März 2020 find­et sich das Wort dann in der Pan­demie-bezo­ge­nen Bedeu­tung, in der es auch ins Deutsche entlehnt wurde. Das Wort erscheint sehr plöt­zlich in den weltweit­en Google-Suchtrends der zweit­en März­woche und steigt in der let­zten März­woche auf einen Höch­st­stand. Ein Grund für dieses Inter­esse kön­nte die in Indi­en am 25. März 2020 ver­hängte Aus­set­zung der Bewe­gungs­frei­heit im gesamten Land sein, eine der ersten Maß­nah­men dieser Art, die offiziell als lock­down beze­ich­net wurden.

Entlehnung und jüngere Geschichte

Nach­dem zu Beginn der Pan­demie zunächst Umschrei­bun­gen wie „Maß­nah­men gegen die Coro­na-Pan­demie“ oder „Maß­nah­men gegen die Aus­bre­itung des Coro­n­avirus“ ver­wen­det wurden,
find­en sich frühe jour­nal­is­tis­che Belege für das Wort lock­down in der Berichter­stat­tung über Indi­en, z.B hier:

Darunter sind vor allem junge männliche Tagelöh­n­er, aber auch Fam­i­lien, die nach dem voll­ständi­gen “Lock­down”, wie die Aus­gangssperre in Indi­en genan­nt wird, keine Einkün­fte und in vie­len Fällen auch kein Dach mehr über dem Kopf haben. [tagesschau.de, 29.3.2020]

Zu diesem Zeit­punkt ist das Wort im all­ge­meinen Sprachge­brauch aber vere­inzelt auch schon als Beze­ich­nung für die Maß­nah­men in Wuhan zu find­en, in den Fol­ge­monat­en sta­bil­isiert sich die Ver­wen­dung­shäu­figkeit auf hohem Niveau und steigt im Okto­ber – im Vor­lauf des bis heute andauern­den zweit­en deutschen Lock­downs – noch ein­mal an.

Das Wort Lock­down hat sich schnell etabliert und zeigt sich äußerst pro­duk­tiv. Es kommt in Dutzen­den von Wortverbindun­gen und zusam­menge­set­zten Wörtern vor (das Leib­niz-Insti­tut für Deutsche Sprache hat auf sein­er Wortschat­zliste zur Pan­demie 27 etablierte Aus­drücke, aber in den Zeitung­s­tex­ten im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus find­et sich ein Vielfaches.

Auf der Grund­lage dieser zusam­menge­set­zten Wörter und Wortverbindun­gen ließe sich eine Kul­turgeschichte des Lock­downs rekonstruieren.

Viele der Zusam­menset­zun­gen beziehen sich auf eine im Zuge der Pan­demie immer wieder disku­tierte Frage: Wie streng sollen oder dür­fen die Maß­nah­men sein, und ab wann zählen sie wirk­lich als „Lock­down“? Es gibt den abge­speck­ten Lock­down, den kleinen Lock­down, den weichen Lock­down, den Lock­down light, den Minilock­down, den Soft­lock­down, das Lock­downchen und den in dün­nen Scheibchen beschlosse­nen Salamilock­down, aber auch den harten Lock­down und den Vol­l­lock­down.

Das Hin und Her beim lock­dow­nen zeigt sich an Wörtern wie Jo-Jo-Lock­down, Lock­down-Lockerun­gen, Lock­down-Ver­längerung, Lock­down-Ver­schär­fung.

© Hadi, CC BY-SA 4.0 Int.

Auch die Spal­tung der Gesellschaft bezüglich ihrer Posi­tio­nen zum Lock­down spiegelt sich im Wortschatz wieder. Es gibt den Lock­down-Geg­n­er, den Lock­down-Kri­tik­er, den Lock­down-Rebell, den Lock­down-Protest auf der einen Seite, und den Lock­down-Befür­worter oder gar Lock­down-Fetis­chis­ten auf der anderen. Daneben gibt es Lock­down-Sün­der, Lock­down-Brech­er, Lock­down-Gewin­ner und Lock­down-Prof­i­teure.

Und auch die (großen und kleinen) Kon­se­quen­zen des Lock­down lassen sich am Wortschatz able­sen – von der Lock­down-Frisur, den Lock­down-Kilos der Lock­down-Langeweile und dem Lock­down-Blues bis zur Lock­down-Depres­sion, den Lock­down-Opfern und der Lock­down-Pleit­ewelle.

Nicht nur Sub­stan­tive hat uns das Wort Lock­down beschert. Auch Adjek­tive wie lock­downge­plagt, lock­downbe­d­ingt und lock­downähn­lich find­en sich, und sog­ar als Verb taucht das Wort bere­its vere­inzelt auf:

Als woll­ten alle mal mitre­den — und wom­öglich auch mal lock­dow­nen. Oder heißt es down­lock­en? Egal. Wir wollen auch mal schließen dür­fen… [Lukas Ham­mer­stein, BR, 5.11.2020]

Wir waren sieben Wochen gelock­downt in der Woh­nung – ich wurde zweimal von der Guardia Civ­il beim Einkaufen festgenom­men. [Fil Tägert, RND, 12.12.2020]

Jet­zt haben wir uns eigentlich wieder gefreut, dass wir mehr spie­len und jet­zt ist wieder alles gelock­downed. [John­ny Schuh­beck, Deutsch­land­funk, 4.12.2020]

Zukunft

Ob Lock­down zu einem sin­gulären Namen für das Leben während der COVID-19-Pan­demie oder zu einem all­ge­meinen Wort für die betr­e­f­fend­en Maß­nah­men wird, hängt sich­er davon ab, wie bald wir nach dem – derzeit ja noch nicht abse­hbaren – Ende dieser Pan­demie mit der näch­sten kon­fron­tiert sind. Da zumin­d­est die Gesellschaften Europas, der USA und Lateinamerikas gezeigt haben, dass sie selb­st mit Vor­war­nung nicht wil­lens und in der Lage sind, eine entste­hende Pan­demie im Keim zu erstick­en, ist anzunehmen, dass das recht bald der Fall sein wird. Wir kön­nen uns dann mit zunehmender Lock­down-Müdigkeit seit­ens der Poli­tik auf immer weit­ere abschwächende Wort­bil­dun­gen gefasst machen – Fem­tolock­down, und homöopathis­ch­er Lock­down warten schon auf ihren Auftritt.

Fazit

Die Wörter­wahl „Anglizis­mus des Jahres“ soll zeigen, dass Entlehnun­gen eine Sprache grund­sät­zlich bere­ich­ern – dass sie den Wortschatz erweit­ern, aus­d­if­feren­zieren, aus­drucksstärk­er machen. Aus dieser Sicht sind das Wort Lock­down und die große Wort­fam­i­lie, die sich in seinem Umfeld gebildet hat, Parade­beispiele. Ohne sie kön­nten wir über unser Erleben der Pan­demie und ihrer gesellschaftlichen Kon­se­quen­zen kaum so vielschichtig sprechen, wie wir es tun. Stattdessen wür­den wir ständig über das behör­den­deutsche Wort Maß­nah­men stolpern.

Laudatio zum Anglizismus des Jahres 2018: Gendersternchen

Von Anatol Stefanowitsch

Der Anglizis­mus des Jahres 2018 ist Gen­der­sternchen. Falls jemand das let­zte Jahr abgeschnit­ten von der Außen­welt ver­bracht hat: das Wort beze­ich­net ein

typografis­ches Zeichen (*), das bei Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen zwis­chen der männlichen und der zusät­zlich ange­fügten weib­lichen Endung geset­zt wird, um neben Män­nern und Frauen auch Men­schen mit ander­er geschlechtlich­er Iden­tität miteinzubeziehen und sicht­bar zu machen [Dig­i­tales Wörter­buch der Deutschen Sprache, s.v. Gen­der­sternchen]

Es geht also um den Aster­isk in Wörtern wie Lin­guist*in oder Sprachkri­tik­er*innen. Um Missver­ständ­nisse von Vorn­here­in auszuschließen: Die Jury würdigt damit aus­drück­lich nicht das * an sich, son­dern das Wort dafür, denn obwohl das Sternchen selb­st auf­grund sein­er Rolle in öffentlichen Diskus­sio­nen um geschlechterg­erechte Sprache gute Aus­sicht­en hätte, „Inter­punk­tion­sze­ichen des Jahres“ zu wer­den, bleibt die Jury bei ihrer Ker­nauf­gabe, näm­lich, die Bere­icherung des deutschen Wortschatzes durch englis­ches Lehngut zu beobacht­en und zu prämieren.

Mit Gen­der­sternchen hat die Jury zum ersten Mal in der Geschichte dieser Wörter­wahl eine englisch-deutsche Hybrid­form zum Anglizis­mus des Jahres gewählt. Aber das ist noch nicht der inter­es­san­teste Aspekt der diesjähri­gen Wahl.

Wenn wir in die Ver­gan­gen­heit des Wortes blick­en, stellen wir zunächst fest, dass es sich aus dem voll­ständig aus englis­chem Sprach­ma­te­r­i­al beste­hen­den Wort Gen­der­star entwick­elt hat. Die erste im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus doku­men­tierte Ver­wen­dung diese Wortes stammt aus dem Jahr 2013 und aus­gerech­net aus der Fed­er des wenig Gen­der-affinen Kolum­nis­ten Jan Fleischhauer:

Kaum etwas ist so flüchtig wie der Fortschritt: Auch der Unter­strich als Gen­derze­ichen ist schon wiedet ver­al­tet, wie ich im Forum ler­nen musste (Dank an “fred­heine”, Benutzer seit 14.10.2009!). Wer rechtschreib­mäßig wirk­lich auf der Höhe der Zeit sein will, schreibt Bäck­er­meis­terIn­nen heute mit “Gen­der­star” , also: Bäckermeister*innen. Der Stern ste­ht für die Vielfalt an Vari­anten, die Trans­gen­der haben kann. [Der Schwarze Kanal, 21.3.2013]

Natür­lich ist das nicht die erste Ver­wen­dung des Wortes über­haupt – das Zitat selb­st legt ja nahe, dass das Wort vorher schon im Forum des Online-Medi­ums ver­wen­det wurde, und auch da wird man es kaum erfun­den, son­dern von ander­swo aufge­grif­f­en haben. Aber die Ver­wen­dung in ein­er reich­weit­en­starken Kolumne dürfte für die anfängliche Ver­bre­itung im all­ge­meinen Sprachge­brauch dur­chaus eine Rolle gespielt haben.

Der genaue Ursprung des Wortes lässt sich nicht ermit­teln, aber auf jeden Fall liegt er nicht im englis­chen Sprachraum, denn dort sind Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen ohne­hin weit­ge­hend geschlecht­sneu­tral. Das Gen­der­sternchen ist eine deutsche Erfind­ung, und das Wort Gen­der­star ist es auch. Es han­delt sich dabei also um einen soge­nan­nten „Schein-“ oder „Pseudoan­glizis­mus“ – es beste­ht zwar aus den englis­chen Wörtern gen­der und star, ist aber eine deutsche Wort­bil­dung. Das dürfte vie­len Sprecher/innen nicht bewusst sein, denn bis heute wird diese pseu­do­englis­che Urform gerne, wie für das Englis­che typ­isch, getren­nt geschrieben – wie jüngst in ein­er Pressemit­teilung der Stadt Hannover:

Erst in zweit­er Lin­ie, wenn eine solche For­mulierung nicht möglich ist, wird das sicher­lich auf­fäl­lig­ste Mit­tel – der “Gen­der Star” – einge­set­zt.  Das Sternchen* zwis­chen der masku­li­nen und fem­i­ni­nen Endung soll in der Schrift­sprache als Darstel­lungsmit­tel aller sozialen Geschlechter und Geschlecht­si­den­titäten dienen und hebt gezielt den Geschlech­ter­d­u­al­is­mus auf. [Neue Regelung für geschlechterg­erechte Sprache, hannover.de, 18.1.2018]

Einen kleinen Bekan­ntheitss­chub erhält das Wort Gen­der Star 2015, als die Grü­nen beschließen, auf Parteita­gen in Zukun­ft nur noch Anträge zu bear­beit­en, die das Sternchen ver­wen­den (das Sprachlog berichtete). Doch zu diesem Zeit­punkt find­et sich bere­its die zur Hälfte eingedeutsche Form Gen­der­stern, erst­mals doku­men­tiert im öster­re­ichis­chen Mag­a­zin Fal­ter:

Im Fem­i­nis­mus für Fort­geschrit­tene kann man sich daher um Trans­gen­der­toi­let­ten und den Gen­der­stern *, die alle Geschlechter­vari­anten inkludierende Schreib­weise, küm­mern. Mit dem Siegeszug der Recht­spop­ulis­ten scheint der kurze Som­mer des Gen­der­fem­i­nis­mus aber zu Ende zu gehen. [Emanzi­pa­tion für Fort­geschrit­tene, Fal­ter, 8.3.2017]

Obwohl der Beschluss der Grü­nen und die darauf fol­gende zunehmende Ver­wen­dung in deren öffentlich­er Kom­mu­nika­tion zur weit­eren Ver­bre­itung des Sternchens an sich beige­tra­gen haben dürften, set­zt sich das Wort Gen­der Star nicht durch son­dern wird ab 2016 zunehmend durch die heute übliche Form Gen­der­sternchen ver­drängt. Warum hier die Verkleinerungs­form bevorzugt wird, darüber kann man nur spekulieren. Es kön­nte ein Aus­druck zärtlich­er Zunei­gung gegenüber dem Aster­isk sein, aber wahrschein­lich­er liegt es daran, dass das Sym­bol auch in der Typografie meis­tens Sternchen genan­nt wird.

Allerd­ings sind alle drei For­men des Wortes zu diesem Zeit­punkt noch sehr sel­ten, in die bre­ite Öffentlichkeit drin­gen die Diskus­sio­nen um das Für und Wider des Sternchens noch nicht. Das ändert sich erst 2018, als sich der Rat für deutsche Rechtschrei­bung auf Anfrage des Lan­des Berlin mit der Frage befasste, ob das Gen­der­sternchen in die Amtliche Rechtschrei­bung aufgenom­men wer­den soll.

Der Rat sprach sich dage­gen aus (PDF), aber die Diskus­sion war da und trieb die Ver­wen­dung­shäu­figkeit des Wortes in die Höhe – zwis­chen 2017 und 2018 verzehn­fachte sie sich im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus (siehe hier).

Überzeugt hat die Jury am Wort Gen­der­sternchen aber nicht nur dieser sprung­hafte Anstieg im öffentlichen Sprachge­brauch, obwohl der natür­lich darauf hin­weist, dass es hier einen Redebe­darf gab, für den es ein Wort brauchte.

Das Wort zeigt auch, dass die Auf­nahme von Lehngut in eine Sprache kein pas­siv­er, wil­len­los­er Prozess ist. Schon sein Ursprung als Pseudolehn­wort zeigt, dass Sprachge­mein­schaften ein­mal entlehntes Sprach­ma­te­r­i­al nach ihren eige­nen Bedürfnis­sen weit­er­ver­ar­beit­en. Pseudoan­glizis­men sind also ganz reale deutsche Wörter.

Der aktive Umgang mit dem Lehngut zeigt sich auch an der schnellen Inte­gra­tion der Neu­bil­dung in den Wortschatz des Deutschen. Für das Wort Gen­der gibt es kein gen­uin deutsches Äquiv­a­lent, also wird dieses gut etablierte Lehn­wort beibehal­ten. Das Wort Star hinge­gen hat zum einen im Deutschen eine gebräuch­liche Entsprechung – eben Stern bzw. Sternchen –, und zum anderen gibt es ein Lehn­wort Star mit der im Kon­text des Gen­der Star unpassenden Bedeu­tung „promi­nente Per­son“. Die Sprachge­mein­schaft entschei­det sich hier deshalb für eine Ein­deutschung – so bleibt die Dif­feren­zierung zwis­chen Star und Stern erhal­ten, und das Wort Gen­der­sternchen wird trans­par­enter und damit leichter erlern- und verwendbar.

So wird die lexikalis­che Lücke gefüllt, die sich durch den eingeschobe­nen Aster­isk auf­tut. Ob man diesen mag oder nicht, ob man die Absicht­en dahin­ter gutheißt oder ablehnt – das Sternchen ist da und wird so schnell nicht ver­schwinden, und um darüber zu stre­it­en braucht die Sprachge­mein­schaft ein Wort – ob das Gen­der­sternchen eine Bere­icherung für die deutsche Sprache ist, bleibt abzuwarten – das Wort Gen­der­sternchen ist es auf jeden Fall.

Anglizismus des Jahres 2017: Influencer

Von Anatol Stefanowitsch

Der Anglizis­mus des Jahres 2017 ist Influ­encer. In der Fach­sprache des Inter­net-Mar­ket­ing, von der aus das Wort sich in den all­ge­meinen Sprachge­brauch aus­ge­bre­it­et hat, beze­ich­net man damit eine

a) Per­son, die in sozialen Net­zw­erken viele Kon­tak­te oder Abon­nen­ten hat, sich an diese regelmäßig mit informieren­den Beiträ­gen wen­det und ihren Ein­fluss dafür nutzt, um (gegen Ent­gelt von Wirtschaft­sun­ternehmen) Wer­bung für bes­timmte Pro­duk­te, Dien­stleis­tun­gen o. Ä. zu machen [Dig­i­tales Wörter­buch der deutschen Sprache, s.v. Influ­encer]

Die hier beschriebene Form der Wer­bung, das soge­nan­nte Influ­encer Mar­ket­ing, liefert für den aktuellen Sprachge­brauch den wichtig­sten inhaltlichen Zusam­men­hang, in dem das Wort Influ­encer ver­wen­det wird, aber tat­säch­lich gibt es das Wort schon länger in ein­er all­ge­meineren Bedeu­tung, die das DWDS mit „b) Per­son, die einen größeren Ein­fluss, ins­beson­dere auf die Mei­n­ungs­bil­dung, ausübt“ erfasst. Und da die bei­den Bedeu­tun­gen miteinan­der ver­wandt sind, fall­en viele Ver­wen­dun­gen des Wortes auch dazwischen.

Für ein all­ge­meines Ver­ständ­nis des Wortes ist es wichtig, sich zunächst die Beson­der­heit bewusst zu machen, die Influ­encer (in der engeren Bedeu­tung a) von anderen Werbeträger/innen unter­schei­det: ihr Ein­fluss leit­et sich nicht aus ein­er unab­hängig von den sozialen Medi­en beste­hen­den Promi­nenz ab, son­dern allein aus ihrer Reich­weite in einem oder mehreren sozialen Net­zw­erken. Influ­encer kön­nen zwar Berühmtheit­en aus Musik, Sport oder Film sein, sind es aber nor­maler­weise nicht, son­dern wer­den erst durch ihre Social-Media-Präsenz zu Stars und Sternchen.

Uhr am Markusdom in Venedig mit SternzeichenMit Ster­nen begin­nt auch die lange Bedeu­tungs­geschichte des Wortes Influ­encer: In der Astrolo­gie der Spä­tan­tike beze­ich­nete der Aus­druck influxus stel­larum eine unsicht­bare Kraft, die von den Ster­nen aus in alle Kör­p­er hine­in­strömte und deren Schick­sal bes­timmte (wörtlich bedeutet es „das Hinen­fließen der Sterne“). In dieser Bedeu­tung wurde der Aus­druck im Mit­te­lal­ter ins Englis­che über­nom­men – die erste anglisierte Ver­wen­dung stammt von keinem gerin­geren als dem englis­chen Dichter­ge­nie und Shake­speare-Vor­bild Geof­frey Chaucer:

O influ­ences of thise heuenes hye, / Soth is that vnder god e ben oure hierdes […]
(„Oh, Ein­flüsse der hohen Him­mel, ihr seid wahrhaftig unsere Hirten“)
[Geof­frey Chaucer, Troilus & Criseyde, 1374]

Die Bedeu­tung von influ­ence weit­ete sich dann auf einen Ein­fluss aus, der von Per­so­n­en aus­geübt wurde – zunächst noch bild­haft, indem diese Per­so­n­en den Ster­nen gle­ichgestellt wur­den. Zu Beginn der Neuzeit war daraus eine wörtliche Bedeu­tung gewor­den – influ­ence beze­ich­nete schlicht eine bes­tim­mende Wirkung, die Men­schen oder abstrak­te Kräfte auf andere Men­schen haben. Das Verb to influ­ence ent­stand um die Mitte des 17. Jahrhun­derts — der erste Beleg stammt aus ein­er Rede des Staat­sober­haupts der kur­zlebi­gen Repub­lik Com­mon­wealth of Eng­land, Oliv­er Cromwell von 1658.

Am dem späten 17. Jahrhun­dert find­et sich dann die aus dem Verb abgeleit­ete Per­so­n­en­beze­ich­nung influ­encer, zunächst für Men­schen mit insti­tu­tioneller Macht (wie Staats- und Kirchenober­häupter), später auch für solche, deren Ein­fluss sich aus der ihnen zuge­sproch­enen Autorität und Rel­e­vanz in einem bes­timmten Bere­ich ergibt. In dieser Bedeu­tung find­et sich das Wort auch im heuti­gen Englisch, etwa, wenn von „pol­i­cy influ­encers“, „indus­try influ­encers“, „fash­ion influ­encers“ usw. die Rede ist – Indus­triekapitäne, Ex-Präsi­den­ten und andere Men­schen, die sich auf „Glob­al Influ­encer Sum­mits” tre­f­fen und „Influ­encer-of-the-Year-Awards“ ver­liehen bekommen.

An diese Bedeu­tung angelehnt entwick­elte sich in den let­zten zehn Jahren der Begriff „social media influnencers“ oder „dig­i­tal influ­encers“, der dann – schnell auf den Wortbe­standteil Influ­encer verkürzt – ins Deutsche entlehnt wurde. Vere­inzelte Belege gibt es im Deutschen min­destens seit 2007 – der früh­este Beleg, den ich find­en kon­nte, stammt aus einem Text der ein­er Schweiz­er Werbeagentur:

Die Blog-Ein­träge ver­sor­gen Unternehmen mit glaub­hafter und langfristiger Aufmerk­samkeit und wertvollem Feed­back, denn Blog­ger gel­ten als Ear­ly Adopters und Influ­encers. [Triga­mi, 2007 (Link)]

Inter­es­sant ist, dass hier die englis­che Plu­ral­form Influ­encers gewählt wird. Das deutet auf eine zu diesem Zeit­punkt noch sehr schwache Inte­gra­tion ins Deutsche hin, denn bei masku­li­nen Sub­stan­tiv­en auf -er wäre eigentlich ein Nullplur­al zu erwarten. Ein solch­er Nullplur­al find­et sich dann 2010 in dem früh­esten gedruck­ten Beleg, den ich find­en konnte:

6.2 Die Influ­encer … Es gibt einige wenige Kun­den, die auf­grund der Anzahl ihrer Kon­tak­te großen Ein­fluss auf den Erfolg ein­er Marke haben kön­nen. Sie wer­den als Influ­encer beze­ich­net und wahrgenom­men. [Klaus Eck, 2010]

Das Wort bleibt in dieser neuen Bedeu­tung zunächst, wie schon in den früheren Bedeu­tun­gen, auf fach­sprach­liche Zusam­men­hänge beschränkt. In Zeitun­gen find­et sich bis 2015 nur eine Hand­voll von Tre­f­fern, die sich größ­ten­teils auf die ältere, all­ge­meinere Bedeu­tung beziehen (oft in fest­ste­hen­den Aus­drück­en wie Influ­encer Rela­tions Web Offi­cer, Influ­encer of the Year und Glob­al Influ­encer Sum­mit).

Erst 2016 erre­icht die Ver­wen­dung­shäu­figkeit ein mess­bares Niveau – die ein­gangs zitierte Bedeu­tung ist nun die dom­i­nante gewor­den, auch wenn die ältere Bedeu­tung nach wie vor zu find­en ist. Die zunehmende Ver­bre­itung führt auch zu ein­er engeren Ein­bindung in die deutsche Gram­matik: 2016 find­en sich im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus die ersten weib­lichen For­men, auch als Mehrzahl:

So kommt es, dass die gebür­tige Russin nun um den Globus jet­ten und ihr Geld als «Dig­i­tal Influ­encerin» ver­di­enen kann. [St. Galler Tag­blatt, 9.11.2016]

Die neuen Vor­bilder junger Mäd­chen sind soge­nan­nte Influ­encerin­nen wie Juliane Dies­ner alias Style Shiv­er. [NZZ am Son­ntag, 18.12.2016]

Häu­figkeit von Influ­encer im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus (Quelle)

Im Jahr 2017 vervielfacht sich die Gebrauchshäu­figkeit dann sprun­gar­tig: das Ref­eren­zko­r­pus des Insti­tuts für Deutsche Sprache zeigt einen Anstieg in Zeitung­s­tex­ten von 0,2 auf etwas über 2 Vorkom­men pro 1 Mil­lion Wörter. Damit ist Influ­encer in Zeitung­s­tex­ten genau­so häu­fig wie alteinge­sessene Per­so­n­en-beze­ich­nun­gen wie Auge­narzt, Bergar­beit­er, Dra­matik­erFriseurinKinobe­such­erMit­be­wohn­er, Tages­mut­terRaubkopier­er oder Wer­ber.

Dass die Ver­wen­dung­shäu­figkeit so stark angestiegen ist, liegt nicht daran, dass die Sprachge­mein­schaft plöt­zlich ein Inter­esse an Meth­o­d­en des Online-Mar­ket­ings ent­deckt hätte, son­dern daran, dass die Influencer/innen zu einem kul­turell rel­e­van­ten Phänomen gewor­den sind. Natür­lich wird auch die Wer­be­form selb­st disku­tiert – anhand von miss­lun­genen Kam­pag­nen, bei denen z.B. plöt­zlich dutzende bekan­nter Instagrammer/innen pen­e­trant-läs­sig lila Schoko­ladetafeln in ihre Lifestyle-Fotos ein­bauen – die Face­book­seite Perlen des Influ­encer-Mar­ket­ings hat sich dem Sam­meln solch­er Beispiele ver­schrieben. Oder anhand all­ge­mein­er Fra­gen zum Prob­lem der Schle­ich­wer­bung. Aber die Influencer/innen sind längst (Anti-)Held/innen der Pop­kul­tur. Mal wird der Influ­encer als neuer Trend-Beruf­swun­sch junger Men­schen präsen­tiert, mal die (fehlende) Ver­ant­wor­tung reich­weites­tark­er Youtu­ber (Inhaltswar­nung: Selb­st­tö­tung) disku­tiert. Und beson­ders gerne regt man sich über die „Dreistigkeit“ von Influencer/innen auf, wenn diese bei Hotels oder Restau­rants ihre Dien­ste im Aus­tausch gegen Kost und Logis anbieten.

Egal, ob man die Influ­encer nun liebt oder has­st, das Wort Influ­encer erlaubt eine klare und präzise Benen­nung des Phänomens. Während das Englis­che das Kom­posi­tum social media influ­encer benötigt, um die betr­e­f­fend­en Men­schen von anderen Arten von influ­encers zu unter­schei­den, hat das Deutsche mit dem Lehn­wort Influ­encer die Möglichkeit, diese Bedeu­tung direkt auszu­drück­en. Influ­encer ver­drängt damit nicht die manch­mal ver­wen­de­ten Alter­na­tiv­en Vor­bild, Mei­n­ungs­führer, Mei­n­ungs­mach­er, Mei­n­ungs­bild­ner oder Trend­set­ter, son­dern ergänzt sie. Damit ist das Wort Influ­encer eine Bere­icherung der deutschen Sprache.

Ob auch für die Influ­encer selb­st eine Bere­icherung darstellen, muss jede und jed­er für sich entschei­den. Ihr Ein­fluss auf jeden Fall ist – anders als der des influxus stel­larum der Spä­tan­tike – real, auch wenn 10 000 Likes für ein durschnit­tlich­es Self­ie mit Schoko­ladentafel fast so geheimnisvoll erscheinen wie der unsicht­bare Kräfte­fluss, von dem unsere Vor­fahren glaubten, dass er ihre Geschicke lenke.

Das Deppenleerzeichen gibt es nicht: Eine Art Replik

Von Kristin Kopf

Ich habe kür­zlich ein Gespräch mit Michel Winde von der dpa geführt — über Leerze­ichen und Binde­striche in Kom­posi­ta. Es ging dabei um sehr emo­tion­al beset­zte Schrei­bun­gen wie z.B.

Johannes Guten­berg-Uni­ver­sität

dpa-Kinder­nachricht­en

Wür­fel Zucker

Nun ist ein Artikel ent­standen, in dem sich Spurenele­mente des Inter­views wiederfind­en. ((Meine Zitate wur­den freigegeben, den ganzen Text kan­nte ich vorher nicht.)) Der Text nervt mich. Neben inhaltlichen Aspek­ten (dazu gle­ich mehr) finde ich es unredlich, dass durch extreme Zitat­mon­tage der Ein­druck entste­ht, alle Inter­viewten hät­ten ein Gespräch miteinan­der geführt, aufeinan­der Bezug genom­men. So z.B.:

Sprache ändert sich. „Aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht finde ich das span­nend“, sagt Kopf über das Dep­pen­leerze­ichen. Allerd­ings gehen auch Aus­drucksmöglichkeit­en ver­loren. Ein „Chefin­ge­nieur“ sei nun mal etwas anderes als ein „Chef Inge­nieur“, sagt Lutz.

Ich hat­te aber wed­er mit den wis­senschaftlicheren Stim­men noch mit Bas­t­ian Sick oder Titus Gast irgen­deine Art von Aus­tausch und der sug­gerierte Kon­sens zum The­ma existiert auch nicht.

Ganz abge­se­hen davon habe ich wirk­lich keinen blassen Schim­mer, was denn ein <Chef Inge­nieur> anderes sein soll als ein <Chefin­ge­nieur>. Kann mir da jemand helfen? Und welche “Aus­drucksmöglichkeit­en” sollen das sein, die man da ver­liert? In der gesproch­enen Sprache gibt’s auch keine Getren­nt- und Zusam­men­schrei­bung und trotz­dem funk­tion­ert die Kom­mu­nika­tion ganz wun­der­bar. Das Englis­che, wo Kom­posi­ta oft getren­nt geschrieben wer­den, lei­det meines Wis­sens auch nicht ger­ade an Ausdrucksarmut.

Die Deppen, das sind die anderen

Der zweite über­greifende Punkt, der mich nervt, ist, dass das Wort “Dep­pen­leerze­ichen” über­all vorkommt und so getan wird, als sei das ein etabliert­er Fach­be­griff. In Wirk­lichkeit ist das Wort ein­fach nur wider­lich: Weit­er­lesen

Laudatio zum Anglizismus des Jahres 2016: Fake News

Von Anatol Stefanowitsch

Die Jury hat sich die Wahl zum Anglizis­mus des Jahres auch dies­mal nicht leicht gemacht, aber mit Fake News gab es einen Kan­di­dat­en, der 2016 eine so plöt­zliche und mas­sive Präsenz im öffentlichen Diskurs erlangt hat, dass es am Ende doch keine ern­sthafte Alter­na­tive gab. Damit haben wir seit langem wieder ein­mal einen Anglizis­mus des Jahres, von dem nie­mand behaupten kann, ihn nicht zu ken­nen, und dem nie­mand vor­w­er­fen kann, er sei zu alt.

Dabei begin­nt die Geschichte dieses Aus­drucks schon im späten 19. Jahrhun­dert. Die früh­este Ver­wen­dung, die ich find­en kon­nte, stammt aus der Zeitschrift Amer­i­can His­tor­i­cal Reg­is­ter vom Novem­ber 1894 in ein­er Diskus­sion über die Rolle und Qual­ität von Lokalzeitun­gen in den USA wird eine Mel­dung über eine (ange­bliche) Flucht Napoleons nach Flo­renz beschrieben. Die Autorin stellt dann fest, dass Napoleon zur betr­e­f­fend­en Zeit auf der Höhe seines Erfolges war und dass es außer den Wun­schvorstel­lun­gen sein­er Geg­n­er keine Belege für die beschriebe­nen Ereignisse gibt – Or was it “fake news”?, fragt sie rhetorisch.

Dieser frühe Beleg hat damit schon fast alle Eigen­schaften dessen, was die heutige Ver­wen­dung des Begriffs aus­macht – der Aus­druck fake news beze­ich­net hier bere­its eine frei erfun­dene Nachricht, die einen poli­tis­chen Geg­n­er in ein schlecht­es Licht stellt und die deshalb dankbar aufgenom­men wird, weil sie ins Welt­bild der­er passt, an die sie sich richtet. Das einzige, was sie von den heuti­gen Fake News unter­schei­det, ist die Tat­sache, dass diese Nachricht in ein­er kleinen Landzeitung in den USA ste­ht, und nicht auf einem Screen­shot auf Face­book. Übri­gens: Auch in Eng­land und den Kolonien gab es damals schon Geset­ze, die die Ver­bre­itung gefälschter Nachricht­en unter Strafe stellen – die wer­den damals aber (noch) nicht als fake news, son­dern als false news bezeichnet.

Das Wort fake news bleibt lange eine Gele­gen­heit­ser­schei­n­ung. Erst seit den 1990er Jahren wird es langsam zu einem fest­ste­hen­den Begriff. Dabei beze­ich­net es meis­tens satirische Nachricht­ensendun­gen und ‑mag­a­zine, wie Jon Stew­arts The Dai­ly Show oder das amerikanis­che Vor­bild und Äquiv­a­lent des Pos­til­lon, The Onion. Auch zu dieser Zeit wer­den in pro­pa­gan­dis­tis­ch­er Absicht ver­bre­it­ete absichtliche Falschmel­dun­gen haupt­säch­lich als false news (items/reports) beze­ich­net. Aber punk­tuell find­et sich auch der Aus­druck fake news in dieser Bedeu­tung, z.B. in Frank Kel­ly Richs Buch „The Great­est Sto­ry Ever Sold: The Decline and Fall of Truth in Bush’s Amer­i­ca“, in dem eine fake news fac­to­ry der Bush-Regierung beschrieben wird, in der fake jour­nal­ists Pro­pa­gan­da im Nachricht­enge­wand erstellen.

Die Bedeu­tungsen­twick­lung des Aus­drucks geht dann aber zunächst in eine andere Rich­tung – immer häu­figer beze­ich­net er bewusste Falschmel­dun­gen in sozialen Net­zw­erken, die entwed­er in kom­merzieller Absicht ver­bre­it­et wer­den – um Klicks auf Seit­en mit Wer­beanzeigen zu erzeu­gen –, oder schlicht aus Freude daran, Men­schen beispiel­sweise mit erfun­de­nen Tode­sanzeigen Promi­nen­ter zu verwirren.

In dieser Bedeu­tung taucht der Aus­druck seit eini­gen Jahren ab und zu auch in deutschen Tex­ten auf. Ein früh­es Beispiel ist ein Bericht im Juli 2014 über eine Mel­dung, dass Manuel Neuer im Finale der Fußball­welt­meis­ter­schaft aus­fall­en werde. Allerd­ings gab und gibt es im Deutschen für solche Mel­dun­gen schon Wörter wie Hoax-Nachricht oder Hoax-Mel­dung, gegen die sich der Neuankömm­ling Fake News nicht durch­set­zen konnte.

Erst im Novem­ber 2016 schafft Fake News einen plöt­zlichen und hefti­gen Durch­bruch in den all­ge­meinen Sprachge­brauch. Dieser geht ein­her mit ein­er weit­eren Bedeu­tungsver­schiebung: Das Wort beze­ich­net im Englis­chen inzwis­chen wieder die Art von Manip­u­la­tion­s­ab­sicht­en und Wun­schvorstel­lun­gen getriebene Pro­pa­gan­da, die schon im Erst­be­leg über Napoleons Flucht anklingt – erweit­ert um den Aspekt der Ver­bre­itung über die Sozialen Medi­en, der auch für der Ver­wen­dung zur Beze­ich­nung von Hoax-Mel­dun­gen charak­ter­is­tisch ist. Ins öffentliche Bewusst­sein und in den all­ge­meinen Sprachge­brauch gelangt es in Diskus­sio­nen um die Ursachen­find­ung zum Wahler­folg des US-Präsi­den­ten Don­ald Trump, der ange­blich auf Fake News zurück­zuführen gewe­sen sei (was inzwis­chen von wis­senschaftlich­er Seite bezweifelt wird).

Das Wort Fake News – im Deutschen auch Fake-News oder sog­ar Fak­e­news geschrieben – füllt damit dif­feren­zierend eine Lücke zwis­chen den etablierten Wörtern Falschmel­dung und Pro­pa­gan­da. Anders als die Falschmel­dung, die ja sowohl absichtlich als auch unab­sichtlich falsch sein kann, sind die Fake News immer absichtlich falsch. Und anders als die Pro­pa­gan­da, die das Ziel hat, das öffentliche Bewusst­sein sys­tem­a­tisch und tief­greifend zu bee­in­flussen, sind die Fake-News eher auf die Bestä­ti­gung beste­hen­der Vorurteile bei bes­timmten Ziel­grup­pen aus­gerichtet. Ganz im Sinne eines post­fak­tis­chen Zeit­geistes geht es häu­fig auch gar nicht darum, dass die Fake News tat­säch­lich geglaubt, son­dern nur, dass sie für möglich gehal­ten wer­den und so ein Gegengewicht zu den tat­säch­lichen Nachricht­en in den „etablierten“ Medi­en (vul­go „Lügen­presse“) bilden können.

Diese Lücke kann das Wort unter anderem füllen, weil das Wort fake, anders als das Wort falsch in Wörtern wie Falschmel­dung oder dem neu geprägten Falschnachricht ein­deutig die bewusste Fälschung und Täuschungsab­sicht hin­ter den Fake News anspricht. Anders als falsch (oder das englis­che false) beze­ich­net das Adjek­tiv fake bewusste, in Täuschungsab­sicht hergestellte Nach­bil­dun­gen von Din­gen – Pelze, Pässe, Bärte, Wim­pern, Geld, Schmuck, Schnee und nun eben auch news. Dieses bedeu­tungs­d­if­feren­zierende Poten­zial hat das Adjek­tiv fake schon vor drei Jahren auf die Short­list zum Anglizis­mus des Jahres gebracht und es ist auch Bestandteil der einzi­gen Ein­deutschung des Wortes Fake News, der wir Erfolg prog­nos­tizieren: Fak­e­nachricht­en.

Wörterwolke Anglizismus 2016

Warum man Fake News nicht verbieten kann: Eine Fallstudie

Von Anatol Stefanowitsch

Zufäl­lig war ich heute auf der Suche nach Wei­h­nachts­geschenken in den Schön­hauser-Allee-Arkaden (einem Einkauf­szen­trum im Pren­zlauer Berg), als der Ein­gang und die Straße und der U‑Bahnhof vor dem Einkauf­szen­trum von der Polizei abges­per­rt wur­den. Ein fre­undlich­er Beamter erk­lärte auf Nach­frage, dass man einen verdächti­gen Gegen­stand gefun­den habe, der nun unter­sucht würde.

Das wurde auch schnell von eini­gen lokalen Medi­en auf Twit­ter bekan­nt­gegeben, z.B. hier (um 14:33):

Der Gegen­stand wurde am Ende ergeb­nis­los gesprengt (es war, je nach Mel­dung, eine Tüte, ein Kof­fer oder ein leer­er Schuhkar­ton) und mein Wei­h­nachts­geschenk habe ich auch nicht gefun­den, aber dafür eine schöne Fall­studie darüber, wie man Fake News ver­fasst, ohne dabei zu lügen. Weit­er­lesen

Laudatio für den Anglizismus des Jahres 2014: Blackfacing

Von Anatol Stefanowitsch

Anders als beim Wort des Jahres und beim Unwort des Jahres geht es bei unser­er Wörter­wahl nicht darum, ein Wort zu find­en, das das ver­gan­gene Jahr im pos­i­tiv­en oder neg­a­tiv­en Sinne charak­ter­isiert. Stattdessen wählen wir ein englis­ches Lehn­wort, das eine inter­es­sante Lücke im Wortschatz des Deutschen füllt und das sich (deshalb) mess­bar im all­ge­meinen Sprachge­brauch ver­bre­it­et hat. Solche Lück­en tun sich typ­is­cher­weise auf, weil die Sprachge­mein­schaft über neue tech­nis­che oder gesellschaftliche Entwick­lun­gen sprechen will, für die es bis­lang keine Wörter gibt. Unsere Anglizis­men des Jahres reflek­tieren diese Entwick­lun­gen und charak­ter­isieren so am Ende doch ein Stück weit das ver­gan­gene Jahr. Leak­en spiegelte 2010 die ger­ade erst begonnene Diskus­sion um ein neues Ver­hält­nis zwis­chen Staats­ge­heimnis­sen und öffentlichem Infor­ma­tion­sin­ter­esse wider, Shit­storm griff 2011 Verän­derun­gen in der öffentlichen Kom­mu­nika­tion­skul­tur auf, Crowd­fund­ing wies 2012 auf ein neu entste­hen­des Wirtschaftsmod­ell hin, und –gate ver­wies 2013 auf einen Triv­i­al­isierungsef­fekt im Umgang mit Skan­dalen, der unter anderem mit ein­er Gewöh­nung an die von leak­en und Shit­storm aufgezeigten Verän­derun­gen zusammenhängt.

Der diesjährige Anglizis­mus des Jahres set­zt diese Tra­di­tion fort: Black­fac­ing, eine eingedeutsche Form des englis­chen black­face. Diese Beze­ich­nung für die Darstel­lung schwarz­er Men­schen durch dunkel geschmink­te weiße Men­schen reflek­tiert einen Kon­flikt zwis­chen ein­er Mehrheit, die für sich eine uneingeschränk­te kul­turelle Deu­tung­shoheit in Anspruch nimmt, und ein­er (wach­senden) Min­der­heit, die das nicht mehr stillschweigend hinnimmt.

Das Wort stammt ursprünglich aus der US-amerikanis­chen Tra­di­tion der min­strel shows des 19. Jahrhun­derts, bei dem weiße Vari­etékün­stler mit schwarz geschmink­ten Gesichter (in black­face) Stereo­type von naiv­en, immer fröh­lichen Sklaven zur Schau stell­ten und die bru­tale Unter­drück­ung schwarz­er Men­schen damit unsicht­bar macht­en. Mit Bezug auf diese Tra­di­tion (die sich nach der Erfind­ung des Films darin fort­set­zte, schwarze Fig­uren durch weiße Schaus­piel­er dargestellt wur­den), find­et sich das Wort black­face ab dem Jahr 2000 vere­inzelt außer­halb der Fach­lit­er­atur. Zu diesem Zeit­punkt dürfte es dem größten Teil der Sprachge­mein­schaft aber noch nicht aufge­fall­en sein. Erst ab 2009 nimmt es in sein­er Häu­figkeit und Ver­bre­itung langsam zu, vor allem, weil es nun auch auf Ereignisse im deutschen Sprachraum angewen­det wird. Ein früh­es Beispiel ist die Kri­tik an Gün­ter Wall­raffs Film „Schwarz auf Weiß“, für dem er All­t­agsras­sis­mus doku­men­tieren wollte, indem er schwarz geschminkt durch Deutsch­land reiste – und damit genau wie die Min­strel­darsteller des 19. Jahrhun­derts seine ober­fläch­lich Darstel­lung über die Lebenswirk­lichkeit der schwarzen Men­schen stellte, die diesen Ras­sis­mus tat­säch­lich jeden Tag erleben. ((Noah Sow, Ein ange­mal­ter Weißer ist kein Schwarz­er, tagesschau.de, 20.10.2009; Cristi­na Nord und Daniel Bax, Ist Gün­ter Wall­raff ein Aufk­lär­er?, taz.de, 24.10.2009.))

Einige Jahre lang bezieht das Wort Blackface/Blackfacing (zur Form unten mehr) danach auch in deutschsprachi­gen Zusam­men­hän­gen auss­chließlich auf Film und The­ater. Bekan­nte Fälle sind zum Beispiel eine Insze­nierung des Stücks „Clybourne Park“ am Deutschen The­ater 2011, die dessen Autor Bruce Nor­ris unter­sagte, weil eine schwarze Fig­ur von ein­er weißen Schaus­pielerin gespielt wer­den sollte, ((Schwarz und weiß, Spiegel 51/2011.)) oder Dieter Haller­vor­dens Insze­nierung des Stücks „Ich bin nicht Rapa­port“, in dem der weiße Schaus­piel­er Joachim Bliese eben­falls eine schwarze Fig­ur spielte. ((Hadi­ja Haruna, Schwarz auf Weiß, tagesspiegel.de, 11.1.2012.)) Im Zuge der Diskus­sion um diese Insze­nierun­gen wurde die Plat­tform Büh­nen­watch gegrün­det, ((Nadia Schnei­der, Black­face in Ger­many — Eine kurze Geschichte der Igno­ranz oder der Anfang von Büh­nen­watch, buehnenwatch.com. 2.2012.)) die seit­dem Fälle von Black­face an deutschen The­atern doku­men­tiert und die durch Tagun­gen und Veröf­fentlichun­gen wertvolle Arbeit dabei leis­tet, den Begriff des Blackface/Blackfacing aus dem ursprünglichen amerikanis­chen Kon­text her­aus zu ver­all­ge­mein­ern und zu zeigen, wie und warum er auch auf das deutsche The­ater des 21. Jahrhun­derts Anwen­dung find­en muss. ((z.B. Black­face, White­ness and the Pow­er of Def­i­n­i­tion in Con­tem­po­rary Ger­man The­atre, Tex­tures, 2013/2014.)) Es mag in Deutsch­land keine Min­strel Shows gegeben haben, aber auch auf deutschen Büh­nen wird schwarzen Men­schen durch Black­face die Möglichkeit genom­men, sich selb­st zu repräsentieren.

Die Diskus­sion um Black­face auf deutschsprachi­gen The­ater­büh­nen wird bis heute inten­siv geführt. Für die Bedeu­tungs­geschichte des Wortes Blackface/Blackfacing ist aber entschei­dend, dass es sich spätestens seit Ende 2013 auch außer­halb von Diskus­sio­nen um Film und The­ater find­et. Entschei­dende Momente in dieser Ausweitung waren zum Beispiel: ein Auftritt des weißen Lit­er­aturkri­tik­ers Denis Scheck, der sich schwarz geschminkt über über die Ent­fer­nung ras­sis­tis­ch­er Sprache aus Kinder­büch­ern empörte ((Han­nah Pilar­czyk, Die Maske des Denis Scheck, Spiegel Online, 30.01.2013.)); eine Saal­wette bei der Fernsehsendung „Wet­ten, dass?…“, bei der Zuschauer/innen von Mod­er­a­tor Markus Lanz aufge­fordert wur­den, sich mit­tels „Schuhcreme, Kohle, was auch immer“ als Kinder­buch- und Pup­pen­spielfig­ur Jim Knopf zu verklei­den ((Marie-Sophie Adeoso, „Wet­ten, dass..?“ in Augs­burg; Ras­sis­tisch auf mehreren Ebe­nen. Frank­furter Rund­schau, 18.12.2013.)); ein Auftritt des weißen Radiomod­er­a­tors Chris Stephan, der sich schwarz geschminkt auf den Wiener Opern­ball begab und sich der amerikanis­chen Schaus­pielerin Kim Kar­dashi­an als deren dama­liger Ver­lobter (inzwis­chen Ehe­mann) Kanye West vorstellte ((Olja Alvir, Opern­ball: N‑Wort und Black­face, derStandard.at, 28. Feb­ru­ar 2014.)); ein Auftritt weißer deutsch­er Fußball­fans, die sich bei einem WM-Spiel der deutschen National­mannschaft schwarz geschminkt als Fans der geg­ner­ischen ghanais­chen National­mannschaft verklei­de­ten. ((Vera Kern, Zu viel WM-Patri­o­tismus in Deutsch­land?, DW, 25.6.2014.)) Neben diesen Einzel­ereignis­sen gab es auch Diskus­sio­nen um Black­fac­ing bei Sternsingern und im Karneval. ((Paul Wrusch, Ras­sis­tis­che Klis­chees im Karneval: Afro-Tuck­en und Zige­uner-Huren, taz.de, 5. Feb­ru­ar 2014.))

Die Bedeu­tungsausweitung ist nicht nur inhaltlich und kul­turgeschichtlich inter­es­sant, son­dern eben auch – und darum geht es bei unserem Wet­tbe­werb ja – sprach­wis­senschaftlich. Sie zeigt, dass Lehn­wörter nicht, wie von Kri­tik­ern oft angenom­men, pas­siv und ohne Nachzu­denken über­nom­men wer­den, son­dern dass die entlehnende Sprachge­mein­schaft sie aktiv in ihre eige­nen Diskus­sion­szusam­men­hänge integriert.

Die zunehmende Inte­gra­tion des Wortes Black­fac­ing in die deutsche Sprache zeigt sich nicht nur an dieser Bedeu­tungsen­twick­lung, son­dern auch an der Ver­schiebung der Form weg vom ursprünglichen englis­chen black­face und hin zum (schein­bar) englis­chen Par­tizip Präsens Black­fac­ing. Diese Form kommt zwar auch im Englis­chen vere­inzelt vor, wird im Deutschen aber ab 2011 die dom­i­nante Form. Damit liefert das Wort Black­fac­ing ein Beispiel für die Beobach­tung, dass die Nach­silbe ‑ing im Deutschen zwar (noch) auf Stämme englis­chen Ursprungs beschränkt ist, aber dur­chaus pro­duk­tiv angewen­det wird. ((Peter Eisen­berg, Anglizis­men im Deutschen, 2013.)) Vor allem wird sie von den Sprecher/innen des Deutschen als Mit­tel zur Bil­dung von Sub­stan­tiv­en aus Ver­ben erkan­nt, was umgekehrt die Möglichkeit eröffnet, aus einem Sub­stan­tiv mit ‑ing ein Verb abzuleit­en. Genau dies ist im Falle von Black­fac­ing geschehen: Ab 2011 find­et sich immer öfter auch in stan­dard­sprach­lichen Tex­ten das Verb black­facen (z.B. „Deswe­gen wollen wir weit­er black­facen dür­fen…“, taz, Feb­ru­ar 2014). Hier­bei han­delt es sich um ein gen­uin deutsches Verb, zu dem es im Englis­chen keine direk­te Entsprechung gibt (hier ver­wen­det man statt eines ein­fachen Verbs kom­plexe Prädikate wie to per­form in black­face oder to wear black­face oder auch schlicht to black up).

Natür­lich zwingt uns die Exis­tenz des Lehn­wortes Black­fac­ing nicht dazu, seine Bedeut­samkeit als gesellschaftlich­es Phänomen auch in der deutschsprachi­gen Welt anzuerken­nen. Aber es eröffnet uns die Möglichkeit, darüber nachzu­denken und zu disku­tieren. Das Wort Black­fac­ing ist in gewiss­er Weise eine Hypothese: dass all diese Einzelfälle in all diesen schein­bar so unter­schiedlichen Zusam­men­hän­gen möglicher­weise Aus­for­mungen eines gemein­samen ras­sis­tis­chen Grundgedankens sind: Weiße Men­schen müssen nicht auf schwarze Men­schen hören, wenn es um deren Lebenswel­ten geht.

Das ist keine angenehme Hypothese und das Wort Black­fac­ing ist kein angenehmes Wort. Aber wie auch immer die Bew­er­tung dieser Hypothese im Einzelfall aus­ge­hen mag, es ist ein Wort, das die deutsche Sprachge­mein­schaft schon lange hätte gebrauchen kön­nen. Dank der Möglichkeit, Wörter – und damit ver­bun­dene Ideen – von anderen Sprachge­mein­schaften zu übernehmen, haben wir es jet­zt. Was wir daraus machen, liegt ganz bei uns.

[Zur Pressemel­dung der Aktion Anglizis­mus des Jahres]

Lek­türe zum The­ma Blackface/Blackfacing

 

Sexting [Kandidaten für den Anglizismus 2014]

Von Anatol Stefanowitsch

Der let­ze Wortkan­di­dat auf der Short­list für unseren Anglizis­mus des Jahres 2014 beze­ich­net die schön­ste Neben­sache der Welt 2.0: Sex­ting – das Versenden von Tex­ten und ero­tis­chen Self­ies. Sehen wir uns an, ob dieses Wort den Ansprüchen unseres Wet­tbe­werbs stand­hält und vielle­icht sog­ar in let­zter Minute an Social Freez­ing, Phablet, Big Data, Inter­net of ThingsSmart­watch, Pho­to­bomb­ing, Black­fac­ing, Self­ie und Emo­ji vor­beizieht. Weit­er­lesen

Blackfacing (Kandidaten für den Anglizismus 2014)

Von Anatol Stefanowitsch

Das Wort Blackfacing/Blackface war 2012 schon ein­mal für den Anglizis­mus des Jahres nominiert. Die Beleglage war sein­erzeit aber zu dünn, um dieses anson­sten sehr inter­es­sante Wort in die engere Wahl zu ziehen (mein dama­liger Beitrag, aus dem ich im Fol­gen­den einzelne Pas­sagen übernehme, find­et sich hier [Hin­weis: dieser und andere hier ver­link­te Texte enthal­ten z.T. ras­sis­tis­che Sprache und/oder Abbil­dun­gen]). Heute werde ich unter­suchen, ob sich an der Häu­figkeit und vor allem Bre­ite der Ver­wen­dun­gen in der Zwis­chen­zeit geän­dert hat.

Zunächst zur all­ge­meinen Ori­en­tierung: Das Wort black­face (engl. black “schwarz” und face “Gesicht”) beze­ich­net ursprünglich eine im 19. und frühen 20. Jahrhun­dert in den USA prak­tizierte The­ater– und Vari­eté-Tra­di­tion, bei der weiße Schauspieler/innen oder Sänger/innen auf über­trieben stereo­typ­isierte Weise als Schwarze geschminkt auf­trat­en (einen Überblick bietet die englis­chsprachige Wikipedia). Die Bedeu­tung des Wortes hat sich über die Jahre aus­geweit­et und beze­ich­net inzwis­chen all­ge­mein Sit­u­a­tio­nen, in denen sich weiße Men­schen schminken, um schwarze Men­schen darzustellen. Das black­face ist in dop­pel­ter Weise ras­sis­tisch belegt: Erstens, weil die Tra­di­tion aus einem zutief­st ras­sis­tis­chen geschichtlichen Zusam­men­hang stammt, in dem ein Auftreten schwarz­er Schauspieler/innen als inakzept­abel galt, und zweit­ens, weil beim Black­face nicht nur das Make-Up selb­st und die dazuge­hörige Mimik über­trieben stereo­typ­isiert ist (dicke rote Lip­pen, strup­pige Haare, weit aufgeris­sene Augen), son­dern auch die Zusam­men­hänge, in denen es ver­wen­det wurde (Schwarze als naive, fröh­liche Unter­hal­ter). Weit­er­lesen