Intertextuelle Illusionen

Von Anatol Stefanowitsch

Eine Siebzehn­jährige schreibt einen Roman, der inhaltlich und sprach­lich weit über ihren Erfahrung­shor­i­zont hin­aus­ge­ht. Da es um Sex und Dro­gen geht und die Siebzehn­jährige blond und – nun ja, siebzehn ist, kann sich das deutsche Lit­er­atur­feuil­leton kaum einkriegen vor erregten Lobpreisun­gen. Sie bescheini­gen ihr eine „ern­ste Wild­heit, die in eine expres­sive Sprachge­walt drängt“ (Saar­brück­er Zeitung), beze­ich­nen das Buch als „lit­er­arischen Kugel­blitz“ (Die ZEIT) und „großen Com­ing-of-age-Roman der Nuller­jahre“ (Frank­furter All­ge­meine Zeitung) und behaupten ohne Ironie, dass sich „wohl alle deutschsprachi­gen Roman­de­büts [an ihm] messen lassen müssen“ (Tagesspiegel).

Dann stellt sich — eigentlich wenig ver­wun­der­lich — her­aus, dass der Roman „Axolotl Road­kill“ nicht nur jen­seits des sprach­lichen und inhaltlichen Erfahrung­shor­i­zonts der Ver­fasserin Helene Hege­mann liegt, son­dern auch jen­seits ihrer sprach­lichen und erzäh­lerischen Fähigkeit­en: Sie hat Teile daraus aus dem Roman „Strobo“ des Autors Airen abgeschrieben, wie Deef Pir­masens in seinem Blog Gefühlskon­serve zeigt.

Wie gesagt, es ver­wun­dert mich nicht. Natür­lich gibt es lit­er­arische Wun­derkinder; man denke an Jonathan Safran Foer, der ger­ade ein­mal 24 war, als sein über­wälti­gen­des Debüt Every­thing is Illum­ni­at­ed (dt. „Alles ist erleuchtet“) erschien. Nur schreiben die üblicher­weise über Dinge, von denen sie etwas ver­ste­hen. Wenn jemand über Dinge schreibt, von denen er oder sie nichts wis­sen kann, sollte man stutzig wer­den (diese Strate­gie ver­wende ich seit Jahren erfol­gre­ich, um Pla­gia­ris­mus in Sem­i­nar- und Exa­m­en­sar­beit­en aufzuspüren).

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Es woar dә Mutius

Von Susanne Flach

Wenn, in sein­er wirk­lich ein­fach­sten und stark verkürzten Form, der bes­timmte Artikel einen Ref­er­enten (z.B. ein Objekt oder eine Per­son) als bes­timmt oder definit markiert, dann ist der Artikel in vie­len im vorigen Beitrag ange­führten Kon­tex­ten eigentlich über­flüs­sig. Ein Früh­ling, in welchem ich nach Eng­land fahre, ist immer noch der gle­iche Früh­ling, ob mit oder ohne bes­timmten Artikel.

Noch “unl­o­gis­ch­er” wird es bei Artikeln in Verbindung mit Namen. Weit­er­lesen

Jetzt wird’s typoLOGISCH

Von Susanne Flach

Die Ver­mu­tung, dass Stan­dar­d­englisch mit sein­er Artikel­losigkeit meist allein auf weit­er Flur ste­ht, hat mich ver­an­lasst, eine kleine Umfrage unter Mut­ter­sprach­lern europäis­ch­er Sprachen mit bes­timmten Artikeln (oder deren Äquiv­a­len­ten) durchzuführen. Dazu bat ich um Über­set­zun­gen von acht Beispiel­sätzen, in denen das irische Englisch ange­blich so sig­nifikant vom Stan­dar­d­englisch abwe­icht. Darunter habe ich derzeit Beispiele aus dem Franzö­sis­chen, Ital­ienis­chen, Ungarischen, Schwedis­chen und Bul­gar­ischen. Und aus meinem eige­nen Dialekt, dem Hochrheinalemannischen.*

Zwar ver­wen­den nur Französich und Ital­ienisch in allen Kon­tex­ten der Beispiel­sätze Definitheits­mark­er, aber die Akzep­tanzrate — mehr noch, die Notwendigkeit — von bes­timmten Artikeln in eini­gen Kon­tex­ten ist für alle Sprachen verblüffend.

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[Veranstaltungstipp] 47. StuTS

Von Kristin Kopf

Ich habe heute schon zum zweit­en Mal inner­halb weniger Tage von der Mainz­er StuTS geträumt. Albgeträumt, um genau zu sein. In Traum 1 war es Mittwoch, der 12. Mai, und es gab genau eine Anmel­dung. In Traum 2 hat­ten wir, immer­hin, 35 Anmel­dun­gen, aber keine Vorträge und keine richtige Unterkun­ft. Wir mussten eine portable Dusche auf einem Grün­streifen auf­stellen und alle 35 Teil­nehmer wur­den bei Armin zuhause (er wohnte in einem Hochhaus in Wies­baden) ein­quartiert. Die Leute aus dem Orgateam wer­den unsere momen­ta­nen logis­tis­chen Prob­leme schnell erkennen …

So, was aber ist die StuTS? In ihrer Lang­form heißt sie “Stu­den­tis­che Tagung Sprach­wis­senschaft”, und das sagt schon das meiste: Studierende aus dem gesamten deutschsprachi­gen Raum (und manch­mal auch darüber hin­aus) tre­f­fen sich jedes Semes­ter für vier Tage an ein­er anderen Uni und tauschen sich über das aus, was sie so beschäftigt. Es ist eine Mis­chung aus Wis­senschaft und Klassen­fahrt, will sagen: großar­tig. Und im Som­merse­mes­ter 2010 find­et die StuTS in Mainz statt: vom 12. bis 16. Mai.

Wir sind seit let­ztem Som­mer wie wild am Organ­isieren – das Geld läp­pert sich so zusam­men, die Unterkun­ft sträubt sich noch ein wenig, das kul­turelle Pro­gramm sieht vielver­sprechend aus und einen span­nen­den Gastvor­trag haben wir auch schon. Und seit kurzem kann man sich tat­säch­lich anmelden: Hier. Wir freuen uns auf viele alte und neue Gesichter, und natür­lich muss man nicht unbe­d­ingt Lin­guis­tik studieren, auch mit Inter­esse an Sprach­wis­senschaft im Rah­men ander­er Fäch­er (z.B. Anglis­tik, Ger­man­is­tik, …) wird man auf der StuTS eine Menge Spaß haben.

Wer vorher mehr Infos will, schaut am besten auf unser­er Home­page vor­bei, oder auf der all­ge­meinen StuTS-Seite, oder befre­un­det sich mit der 47. StuTS bei Face­book (auch als Ver­anstal­tung) und im Stu­di­VZ (da gibt’s auch eine Gruppe).

So, ich hoffe ich kann jet­zt wieder ruhig schlafen.

Nachruf auf eine Sprache: Aka-Bo

Von Anatol Stefanowitsch

Man schätzt, dass alle ein bis zwei Wochen eine der derzeit noch sechs- bis sieben­tausend men­schlichen Sprachen für immer ver­schwindet, weil ihr let­zter Sprech­er oder ihre let­zte Sprecherin stirbt. Meis­tens geschieht das, ohne dass es jeman­dem auf­fällt. Aber da inzwis­chen in vie­len Gegen­den der Welt Sprach­wis­senschaftler ver­suchen, ausster­bende Sprachen in einem Wet­t­lauf gegen die Zeit zu doku­men­tieren, erfahren wir ab und zu davon.

Diese Woche ging der Tod der 85-jähri­gen Boa Sr., der let­zten Sprecherin des Aka-Bo, durch die Medien.

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[Surftipp] Sprachlog

Von Kristin Kopf

Den Umzug und die damit ein­herge­hende Umbe­nen­nung des Bre­mer Sprachlogs will ich zum Anlass für einen schnellen Link­tipp nehmen – wer das Bre­mer Sprach­blog nicht kan­nte, der sollte jet­zt auf jeden Fall das Sprachlog kennenlernen.

Ana­tol Ste­fanow­itsch, Pro­fes­sor für Englis­che Sprach­wis­senschaft an der Uni Bre­men, liefert seit ziem­lich genau drei Jahren Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen und Mei­n­un­gen zu sprach(wissenschaft)lichen The­men. Die Auswahl ist mir manch­mal etwas zu VDSlastig – skur­rile Pressemit­teilun­gen über die Zer­störung der deutschen Sprache durch Anglizis­men zu sezieren hat sich­er seine Berech­ti­gung, aber mir per­sön­lich gefall­en die weniger kämpferischen Beiträge bess­er. Glück­licher­weise sind davon auch eine ganze Menge vorhanden.

Was das Sprachlog zudem span­nend macht, sind die Diskus­sio­nen in den Kom­mentaren – da gibt es einen richti­gen Mei­n­ungsaus­tausch, der oft wirk­lich inter­es­sant zu lesen ist. (Jet­zt mal davon abge­se­hen, dass viele Kom­men­ta­toren mit­tler­weile darauf kon­di­tion­iert zu sein scheinen, bei jed­er Gele­gen­heit Häme über den VDS auszuschütten.)

Wer noch nie im (Bre­mer) Sprach(b)log gele­sen hat, dem möchte ich hier ein paar mein­er Favoriten nahelegen:

  • Wor­tarten Teil 1 | Teil 2 – warum es nicht sin­nvoll ist, Wor­tarten nach ihrer Seman­tik zu benen­nen (was Ter­mi­nolog- und Pädagogisches)
  • Schneeschuhknüpfer und Ale­man­nen – woher Volks­beze­ich­nun­gen stam­men kön­nen und wie Deutsch­land in anderen Sprachen heißt (was Etymologisches)
  • Schweiz­er und Deutsche machen Sinn – wie “Sinn haben” und “Sinn machen” in Deutsch­land und der Schweiz verteilt sind (was Kor­puslin­guist- und Statistisches)

Respektlose Lehnwörter

Von Anatol Stefanowitsch

Bun­desverkehrsmin­is­ter Peter Ram­sauer ist schon öfter durch eine Abnei­gung gegen englis­ches Wortgut aufge­fall­en. Im let­zten Jahr strich er zum Beispiel aus dem Wahl­pro­gramm der CSU die „Anglizis­men“ her­aus und begrün­dete dies mit den Worten: „Wie will man in Deutsch­land etwas poli­tisch umset­zen, wenn man es nicht mal auf Deutsch sagen kann?“ [PNP.de/Kain 2009]. Ander­er­seits scheint er kein Eifer­er zu sein: Ende 2008 sprach er sich dage­gen aus, Deutsch als „Staatssprache“ im Grundge­setz zu ver­ankern [DONAUKURIER.de/Rücker 2008].

In den let­zten Tagen hat er durch anti-anglizis­tis­che Verord­nun­gen für sein Min­is­teri­um von sich reden gemacht:

Er erließ für sein Haus ein strik­tes „Denglisch“-Verbot, also die Ver­mis­chung deutsch­er und englis­ch­er Begriffe, berichtete die „Bild“-Zeitung. So heißt das „Trav­el Man­age­ment“ im Verkehrsmin­is­teri­um kün­ftig wieder „Reis­es­telle“.

Statt „Task Forces“ arbeit­en bei Ram­sauer jet­zt wieder „Pro­jek­t­grup­pen“. Und statt zum „Inhouse Meet­ing“ kom­men die Min­is­te­ri­al­beamten nun zum „hau­seige­nen Sem­i­nar“ zusam­men. „Ich will, dass im Haus wieder mehr deutsch gesprochen wird“, sagte Ram­sauer der Zeitung mit Blick auf seine Deutsche-Offen­sive im eige­nen Haus. [WELT.de]

Diese Maß­nah­men erscheinen mir nicht über­mäßig kon­tro­vers. Wie selb­st Sprach­nör­gler schon ver­wun­dert fest­stellen mussten, ver­suche auch ich, Fremd­wörter zu ver­mei­den, wenn es weit ver­bre­it­ete und im Zusam­men­hang angemessene deutsche Alter­na­tiv­en gibt. Ich tue das nicht aus Angst vor ein­er Über­schwem­mung des Deutschen mit frem­dem Wortgut, son­dern um zu zeigen, wie sprachge­wandt und gebildet ich bin.

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Englisch vor Gericht

Von Anatol Stefanowitsch

Obwohl es sich die Leser/innen meines alten und auch neuen Blogs
manch­mal anders wün­schen, beschäftigt sich ein ansehn­lich­er Teil meiner
Beiträge mit den Sprachkri­tik­ern, die häu­fig den öffentlichen Diskurs
über Sprache dominieren. Zum einen wäre es aus mein­er Sicht ein großer
Fehler, ihnen unwider­sprochen das Feld zu über­lassen, zum anderen
fasziniert mich die über­hitzte irra­tionale Rhetorik, mit der sie bei
den nichtig­sten Anlässen um sich werfen.

Ein Lehrstück sprachkri­tis­ch­er Redekun­st und Logik bietet eine
Presseerk­lärung des Vere­ins Deutsche Sprache (VDS) vom 11. Jan­u­ar 2010
mit dem leicht größen­wahnsin­ni­gen Titel „Sprach­schützer greifen
Jus­tizmin­is­ter an“. Anlass für diese Presseerk­lärung sind aktuelle
Pläne der Jus­tizmin­is­ter von Nor­drhein-West­falen und Ham­burg, die die
Voraus­set­zun­gen schaf­fen sollen, um inter­na­tionale Wirtschaftsprozesse
vor deutschen Gericht­en in Zukun­ft bei einem entsprechen­den Wun­sch der
Prozess­parteien in englis­ch­er Sprache zu ver­han­deln. Auf diese Art
sollen, wie die FAZ schon am 8. Jan­u­ar 2010 erläuterte, der
Jus­tiz­s­tan­dort Deutsch­land gestärkt und die Inter­essen deutsch­er Firmen
bess­er gewahrt werden: 

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Schweizer und Deutsche machen Sinn

Von Anatol Stefanowitsch

In den Kom­mentaren zu meinem let­zten Beitrag haben gle­ich zwei Leser die Ver­mu­tung geäußert, dass die Redewen­dung Sinn machen in den Schweiz­er Dialek­ten des Deutschen anders ver­wen­det wird als in den bun­des­deutschen. Nach Hek­tor Ks Ein­druck wird die oft als „richtige“ Alter­na­tive emp­foh­lene Redewen­dung Sinn haben in den ihm ver­traut­en Schweiz­er Dialek­ten gar nicht ver­wen­det, während Sinn machen weit ver­bre­it­et ist. Matthias hat eine genauere Ver­mu­tung: sein­er sprach­lichen Erfahrung nach wird Sinn haben in der Deutschschweiz nur in verneinen­den Zusam­men­hän­gen ver­wen­det (hat keinen Sinn), während Sinn machen bevorzugt wird, um pos­i­tive Aus­sagen zu machen.

Das sind zwei Hypothe­sen, die sich sprach­wis­senschaftlich sehr schön über­prüfen lassen, und das will ich hier kurz tun. Dazu habe ich aus den Kor­po­ra (Textsamm­lun­gen) des Insti­tuts für Deutsche Sprache in Mannheim jew­eils eine Schweiz­er und eine bun­des­deutsche Tageszeitung aus­gewählt, für die dort Jahrgänge vorhan­den sind, die etwa die gle­iche Zeitspanne abdeck­en (so ver­mei­de ich, dass Sprach­wan­del­prozesse das Bild verz­er­ren). Für die Schweiz war das das St. Galler Tag­blatt, für die Bun­desre­pub­lik die Rhein-Zeitung (kann es etwas Bun­desre­pub­likanis­cheres als das Rhein­land geben?). Das IDS hat für bei­de Zeitun­gen Jahrgänge zwis­chen 1996/97 und 2008, wobei beim St. Galler Tag­blatt einige Jahrgänge in der Mitte fehlen. Weit­er­lesen