Großbritannien ist ja im allgemeinen nicht für sein gesteigertes Interesse an Fremdsprachen bekannt — dort sind, anders als in den meisten anderen (europäischen) Ländern für den höchsten Schulabschluss keine Kenntnisse einer Fremdsprache erforderlich. Die Zahl der Schüler/innen, die freiwillig Deutsch, Französisch oder Spanisch lernen und als Prüfungsteil ihres Sekundärabschlusses haben, fällt. Der GUARDIAN hat das jetzt in einem Artikel kommentiert und kritisch — vielleicht auch ein bisschen wehmütig — hinterfragt (Ed West, The long adieu: how Britain gave up learning French, THE GUARDIAN, 22. Januar 2016).
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Ta-Ta-ismus im Dschungel
Werbepause? Nicht wegschalten, bloß nicht wegschalten! Denn der Dschungel ist sogar für eine sprachwissenschaftliche Betrachtung gut, die für alle von uns was bereithält. ALLE! Für die, die den Dschungel lieben und für die, die ihn für den Untergang des guten Geschmacks halten, für Menschen, die Entlehnungsprozesse fasziniert verfolgen und sogar für diejenigen, die Anglizismen scheiße finden („Bahahawiepeinlich! Anglizismus voll falsch verwendet!“). Seit Wochen – ach, was sage ich: seit Jahren! – steht auf meiner To-Do-Liste: „Beim nächsten Dschungel: was zu ta schreiben!!DRÖLF!!!“. Denn wir wissen ja: Publicity, Publicity, Publicity!
Jenseits des Gastrechts: Sprachbilder und ihre Grenzen
Als Sahra Wagenknecht letzte Woche vom „Gastrecht“ der Flüchtlinge sprach, und davon das derjenige, der es missbrauche, irgendwann dann auch verwirkt habe, war die Empörungswelle vorprogrammiert.
Erstens, weil sie eben Sahra Wagenknecht und Linke nichts lieber tun als andere Linke allgemein, und Wagenknecht im Besonderen, mit Empörung zu überschütten. Schließlich hatten sowohl die rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Julia Klöckner als auch die Bundeskanzlerin Angela „Wir-schaffen-das“ Merkel nur ein paar Tage zuvor fast wortwörtlich dasselbe gesagt, ohne dass das das kleinste bisschen linker Kritik nach sich gezogen hätte („Wer das Gastrecht verwirkt, der wird irgendwann vor die Tür gesetzt“, Julia Klöckner; „Einige Straftäter von Köln haben ihr Gastrecht verwirkt“, Angela Merkel).
Zweitens, weil das Wort Gastrecht einen offenliegenden Nerv der deutschen Flüchtlingsdebatte trifft, für den Wagenknecht, Klöckner und Merkel eigentlich gar nichts können, sondern der etwas mit Sprache, Weltsicht und Wirklichkeit zu tun hat: der Frage, wie wir über Flüchtlinge reden und denken und worauf wir uns damit einlassen. Weiterlesen
Unwort des Jahres 2015: Gutmensch
An der Arbeit der Sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ habe ich ja selten etwas auszusetzen, und auch dieses Mal hätte sie es schlechter treffen können, als sie es mit der Wahl des Wortes Gutmensch getan hat. Die Verachtung und spöttische Delegitimation anständigen Verhaltens, die in diesem Wort zum Ausdruck kommt, hat nicht erst, aber auch im Jahr 2015 die öffentliche Diskussion geprägt und wenn die Wahl zum Unwort dabei hilft, eine Grundsatzdebatte darüber anzustoßen, dass die auf Solidarität und Hilfsbereitschaft aufbauenden Werte der Gutmenschen besser sind als die auf den eigenen Vorteil und das eigene Fortkommen aufbauenden Werte derer, die das Wort verwenden, wäre das ein Gewinn. Weiterlesen
Blogspektrogramm 2/2016
Neues Jahr, frische Links! In den Redaktionsbüros des Spektrogramms wird derzeit ganz emsig an Dissertationen gebastelt, aber ab und an rutscht dann halt doch ein Link in unseren Wahrnehmungsbereich. Kurz: jetzt ist die Hochphase der Wörterwahlen, und auch sonst bleibt alles beim Qualitätsversprechen: Emoji(s), Phrasendrescherei & Neusprech, Klassiker des Yoda-Sprech und eine Dialektkarte der modernen Art. Viel Spaß!
- they als genderneutrales Pronomen ist das amerikanische Wort des Jahres 2015 (#woty15) — anwesende Linguist/innen auf der Jahrestagung der Linguistic Society of America (LSA) und die American Dialect Society haben aber auch eine ganze Latte an Wörtern, Phrasen und Hashtags ausgezeichnet.
- Ben Zimmer, Vorsitzender des „New Word Committee“ der ADS kommentiert die Wahl in seinem Blog.
- Martin Haase (@martinhaase) und Kai Biermann (@kaibiermann) von NEUSPRECH.ORG haben auf dem CCC (#32C3) Ende des Jahres über „Nach bestem Wissen und Gewissen – Leere Floskeln in der Politik“ gevortragt.
- Im Deutschen – würde ich behaupten – ist das kaum ein Zweifelsfall, im Englischen offenbar schon: was ist der Plural von Emoji? Dazu Robinson Meyer in THE ATLANTIC.
- Natürlich, klar, wie könnte es ein Star Wars-Film geben, ohne dass sich Linguist/innen zu Yodas Syntax äußern?
- Karte der Woche: Jack Grieve (@JWGrieve) hat die Ausbreitung von neuen Wörtern im Amerikanischen Englisch visualisieren (lassen). Neue Wörter haben ihren Ursprung häufig in einer geografischen gut eingrenzbaren Region — oder in geografisch verstreuten, aber netzgemeinschaftlich verbundenen Sprachgemeinschaften.
Blogspektrogramm 51/2015
Und hier unsere Links der (letzten) Woche(n): Um welche Art von Sprache ging es eigentlich bei der Ichhabpolizei-Debatte? Warum sind Punkte in Textnachrichten so bedeutungsschwanger geworden? Was assoziiert man so mit dem Wort Flüchtling? Nach welchen Kriterien wählt man in Österreich das Jugendwort des Jahres? Und was stellt Migration eigentlich mit Sprache an?
- In der ZEIT analysiert David Hugendick die Debatte um Jan Böhmermanns »Ich hab Polizei« aus, unter anderem, soziolinguistischer Perspektive: »[D]ie Sprache [ist] nicht bloß soziokultureller Herkunftsnachweis: Es ist eine artifizielle Schöpfung. Womöglich übersehen das Böhmermanns Kritiker, wenn sie sagen, er veralbere nicht bloß Haftbefehls Sprachduktus, sondern damit auch das sogenannte Kanak-Deutsch einer Minderheit. Es sei gewissermaßen Klassenkampf von oben, in dem einer ohnehin schon minoritären Gemeinschaft und ihrer als authentisch zugeschriebenen Ausdrucksform des Gangsterraps wieder ihr sozialer und kultureller Platz zugewiesen werde. Diese Argumentation birgt mehrere Denkfehler.«
- Warum kommen Punkte am Ende von Textnachrichten nicht gut an? Anatol kommentiert für DEUTSCHLANDRADIO KULTUR eine aktuelle Studie von Celia Klin: »Wer am Ende einer Textnachricht einen Punkt setzt, wirkt auf den Empfänger borniert und unaufrichtig. Das hat eine amerikanische Studie herausgefunden. Die Forscher konstatieren: Satzzeichen haben eine symbolische Eigendynamik entwickelt.«
- Dass Flüchtling das Wort des Jahres ist, haben Sie sicher mitbekommen — das FREIE RADIO hat sich mit Anatol darüber unterhalten, welche Assoziationen es hervorruft: »Wenn Sie sich so’n Wort wie Asylant angucken, das eindeutig negativ behaftet ist, dann sehn Sie, dass das mit so Wörtern wie illegal und kriminell und so vorkommt, überdurchschnittlich häufig, und das ist bei dem Wort Flüchtling eben nicht der Fall, das kommt mit ganz neutralen Wörtern in ganz vielen verschiedenen Zusammenhängen vor.«
- Auch in Österreich gab’s kürzlich Wörterwahlen, der ORF berichtet, darunter ein Jugendwort, das tatsächlich in Gebrauch sein soll: »Das Jugendwort „zach“, ein echter „Austriazismus“, sei derzeit unter Jugendlichen stark in Verwendung. „Seine ursprüngliche Bedeutung ‚zäh‘ wurde massiv erweitert, sodass es heute jede Art Negatives meint und damit für alles verwendet wird, was mühsam, schwierig, problematisch usw. ist“, so die Jury.«
- Was tut Migration mit Sprache? Für THE ATLANTIC beschäftigt sich John McWhorter mit Multiethnolekten wie Kiezdeutsch, aber auch Black English in den USA und Shaba Swahili im Kongo: »If an adult immigrates to Germany, chances are that his or her German will always be imperfect. A language that, like German, forces you to remember that forks are feminine, spoons are masculine, and knives are neuter seems designed to resist anyone speaking it well if they learn it after adolescence. On the other hand, that immigrant’s children, growing up amid native German-speakers, will likely be able to speak perfect German. But they might also speak something else.«
Flüchtlinginnen und Flüchtlinge
Dass das Wort „Flüchtling“ bezüglich seiner Wortbildung und vor allem seiner Verwendung im allgemeinen Sprachgebrauch nicht unbedingt abschätzig ist, habe ich ja im vorangehenden Beitrag gezeigt, aber anlässlich der Wahl zum Wort des Jahres greift mein Kollege Peter Eisenberg (bis zu seiner Emeritierung an der Universität Potsdam, also gleich um die Ecke, tätig), in der FAZ ein anderes potenzielles Problem an diesem Wort auf:
Interessant ist, dass „Flüchtlinge“ sich bei genauerem Hinsehen als politisch inkorrekt erweist. Es handelt sich um eine Personenbezeichnung im Maskulinum, die von der Bedeutung her eigentlich einem Femininum zugänglich sein sollte wie bei „Denker/Denkerin“, „Dieb/Diebin“. Aber die Form „Flüchtlinginnen“ gibt es nicht. [Eisenberg]
Auf dieses Problem hat schon im Oktober meine Kollegin Luise Pusch in ihrem Blog hingewiesen:
Rein sprachlich gesehen sind aber die „Flüchtlinge“ durchaus ein Problem, denn das Wort „Flüchtling“ ist — wie alle deutschen Wörter, die mit „-ling“ enden — ein Maskulinum, zu dem sich kein Femininum bilden lässt. [Pusch]
Als Problem betrachten das beide, auch wenn sie bezüglich einer möglichen Lösung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen: Pusch greift Sascha Lobos Vorschlag auf, das Wort Vertriebene zu nehmen, oder ein anderes aus einem Partizip gebildetes Wort, wie Geflüchtete, Geflohene oder Willkommene. Diese Wörter können männlich (der Vertriebene) oder weiblich (die Vertriebene) sein, im Plural (die Vertriebenen) sind sie sogar geschlechtsneutral.
Eisenberg kann sich mit dieser Lösung nicht anfreunden, denn er sieht an „willkürlichen Normsetzungen“ wie Geflüchtete ein ungelöstes „Kernproblem“:
Die beiden Wörter bedeuten nicht dasselbe. Auf Lesbos landen Tausende von Flüchtlingen, ihre Bezeichnung als Geflüchtete ist zumindest zweifelhaft. Umgekehrt wird auch ein aus der Adventsfeier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.
Das Deutsche ist so bildungsmächtig, dass man sich andere Wörter als Ersatz vorstellen kann: Vertriebene, Geflohene, Zwangsemigranten, Entheimatete und viele weitere, von denen eins schöner ist als das andere. Aber es bleibt dabei: Sie alle bedeuten etwas anderes als Flüchtlinge. [Eisenberg]
Überhaupt ist er gezielter Sprachplanung gegenüber skeptisch: „Die Sprache wird nicht akzeptiert, wie sie ist, sondern sie gilt als manipulierbarer Gegenstand mit unklaren Grenzen dieser Manipulierbarkeit.“
Eisenberg und Pusch gehören beide zu den Sprachwissenschaftler/innen, die mich am stärksten geprägt haben, aber in diesem Fall bleiben sie mir beide etwas zu sehr an der Oberfläche der zugrundeliegenden sprachlichen Phänomene. Sehen wir uns das Problem also genauer an.
Kein Femininum zu Flüchtling
Eisenberg und Pusch sind sich einig, dass es zum maskulinen Flüchtling kein feminines Gegenstück gibt. Pusch stellt das als Tatsache lediglich fest, Eisenberg geht einen Schritt weiter und liefert eine sprachwissenschaftliche Begründung dafür, dass die Bildung Flüchtlingin „ausgeschlossen“ sei. Er erklärt, dass die Suffigierung (also das Anhängen von Nachsilben an Wörter) bestimmten Regeln folgt, speziell, dass dabei eine gewisse Reihenfolge einzuhalten sei. Das kann zum (wortbildnerischen) Problem werden, wenn zwei Elemente in dieser Reihenfolge die gleiche Position einnehmen:
Es kommt vor, dass in einer solchen Hierarchie zwei Suffixe sozusagen parallel geschaltet sind und dann nur alternativ auftreten, niemals aber gemeinsam, egal in welcher Reihenfolge. Das gilt für ‑in und ‑ling. Beide bilden im Gegenwartsdeutschen Personenbezeichnungen, das eine Maskulina, das andere Feminina. Das System sieht sie als miteinander unverträglich an. [Eisenberg]
Es gebe eben Fälle, so Eisenberg weiter, „in denen das Sprachsystem die vielleicht verbreitetste Form des Genderns nicht zulässt“, und das müsse „jeder, der auf diesem Gebiet tätig wird, wissen und akzeptieren“.
Auch die sprachreformerisch nicht gerade zurückhaltende Luise Pusch weiß und akzeptiert das ja, aber stimmt es eigentlich? Spricht tatsächlich ein tiefliegender sprachsystemischer Grund dagegen, an Maskulina mit -ling zusätzlich das feminine Suffix -in zu hängen?
Ein kurzer Blick in die jüngere Sprachgeschichte zeigt, dass das nicht der Fall ist. Im Deutschen Textarchiv finden sich rund 50 Treffer für Wörter, die beide Nachsilben kombinieren – am häufigsten Lieblingin, gefolgt von Läuflingin, Flüchtlingin und Fremdlingin, aber auch Neulingin, Schützlingin, Täuflingin u.a.:
- Seit jhr so eine Frembdlingin in der Welt / daß jhr das nicht wisset? antwortete Santscho Panssa. [1648]
- Die Novitiatin oder Neulingin tragen zum Gedaͤchtniß der Unſchuld des Seligmachers ein weiſſes Scapulier. [1715]
- Es ward ihm aufgegeben, die Fluͤchtlingin einzuholen, nachdem ihre Flucht und ihr grober Diebſtal zu jedermanns Wiſſenſchaft drang. [1779]
- Kommt mein Sohn Paris, wie mein väterlicher Wunſch iſt, glücklich nach Troja zurück, und bringt er eine entführte Griechin mit ſich, ſo ſoll euch dieſe ausgeliefert werden, wenn ſie anders nicht als Flüchtlingin unſern Schutz anfleht. [1839]
- Täuflingin hatte, während ihr das Mützchen gelöſt ward, dreimal kräftig genieſt: item, ſie war ein Weltwunder von Geiſt und Gaben; [1871]
- Sie ſehen in mir die Abkömmlingin eines Geſchlechtes, das ſich ſeit hundert Jahren nur von Frauengut und ohne jede andere Arbeit oder Verdienſt erhalten hat, bis der Faden endlich ausgegangen iſt. [1882]
Die Treffer reichen bis ins späte 19. Jahrhundert hinein, und sie stammen von Autor/innen, deren Kompetenz bezüglich der deutschen Sprache außer Frage steht, darunter Gustav Schwab (Bsp. [4]) und Gottfried Keller (Bsp. [6]).
Die beiden Nachsilben haben keine nennenswerte Bedeutungsveränderung erfahren, aus der sich die Veränderung in ihrer Kombinierbarkeit erklären würde – es ist also nur ein historischer Zufall, dass sie derzeit nicht gemeinsam vorkommen können.
Solche Zufälle gibt es auch ganz ohne das Suffix -ling: die feminine Form Gästin, zum Beispiel, ist im Deutschen Textarchiv bis ins frühe 18 Jahrhundert belegt, klingt aber heute im allgemeinen Sprachgebrauch merkwürdig bis falsch. ((Das Wort erlebt aber möglicherweise ein Comeback – Im Google-Books-Korpus zeigt sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts ein Aufwärtstrend und der Duden hat Gästin 2013 offiziell aufgenommen)) Da es keine tiefergehenden Gründe für die derzeitige Nicht-Kombinierbarkeit der Suffixe gibt, kann dieser Zustand durchaus vorübergehend sein – wenn die Sprecher/innen des Deutschen aufgehört haben, diese Nachsilben zu kombinieren, können sie auch wieder damit anfangen.
Ist der Flüchtling überhaupt männlich?
Aber wäre es überhaupt ein Problem, wenn die Nachsilben unkombinierbar und der Flüchtling damit ein reines Maskulinum bliebe? Im Prinzip nicht, und die Gründe dafür liegen in einer Funktionsweise menschlicher Sprachen, die auch weiter unten noch einmal relevant wird: Wörter erhalten ihre Bedeutung nicht (bzw. nicht ausschließlich) aus sich selbst heraus, sondern zu einem großen Teil durch ihre Opposition zu ähnlichen Wörtern: Die Wörter Stuhl und Sessel unterscheiden sich in ihrer Bedeutung, eben weil es zwei Wörter für Sitzgelegenheiten gibt: im Englischen gibt es für beides nur das Wort chair, das – anders als die deutschen Wörter — harte und weiche Sitzmöbel gleichermaßen bezeichnet.
Die meisten Personenbezeichnungen im Deutschen haben eine maskuline und eine feminine Form, und aus dieser Opposition ergibt sich die Bedeutung „männlich“ und „weiblich“. Wörter, die in keiner solchen Opposition stehen – der Mensch, die Person und eben auch der Flüchtling – sind im Prinzip geschlechtsneutral.
Leider nur im Prinzip, denn ganz so einfach ist es dann doch nicht, wie Luise Pusch schreibt:
Diese maskulinen Bezeichnungen [„Flüchtling“, „Lehrling“, „Täufling“, „Säugling“ usw.] verdrängen Mädchen und Frauen aus unserem Bewusstsein; sie lassen in unseren Köpfen automatisch Bilder von Jungen oder Männern entstehen.“
Das stimmt unglücklicherweise, es liegt aber an einem Problem, für das die Sprache nur teilweise etwas kann: an einer kulturell bedingten kognitiven Verzerrung, die uns immer dann, wenn von Menschen die Rede ist, davon ausgehen lässt, dass Männer gemeint sind, solange nicht explizit das Gegenteil kommuniziert wird. Dieser Verzerrung mögen wir uns nicht bewusst sein, sie ist aber dutzendfach experimentell nachgewiesen, sie greift schon bei Kindern und existiert in allen bisher untersuchten Kulturen – auch solchen, in deren Sprachen Geschlecht nie oder nur ausnahmsweise markiert wird.
Das Wort Flüchtling selbst ist also nicht verantwortlich für die stereotyp männliche Bedeutung, die es auslöst. Die allgemeine kognitive Verzerrung wird aber in absehbarer Zeit nicht einfach verschwinden (damit das geschieht, müsste zuerst das Patriarchat und die Erinnerung daran verschwinden). Es könnte also nützlich sein, eine grammatisch feminine, semantisch weibliche Alternative für das Wort Flüchtling zu haben, mit der man dort, wo nötig, dieser Verzerrung entgegenwirken könnte.
Also doch alternative Wörter für Flüchtling?
Solche Alternativen gibt es ja, wie oben diskutiert, bereits: Pusch und Eisenberg nennen das von Lobo und anderen vorgeschlagene Vertriebene, das auch von der Wort-des-Jahres thematisierte Geflüchtete/r und dessen Variante Geflohene, Eisenberg außerdem Zwangsemigranten und Entheimatete. Sie alle werden bereits verwendet und haben maskulin-männliche und feminin-weibliche Formen, wären also gute Alternativen – wenn sie nicht, wie Eisenberg betont, andere Bedeutungen transportieren würden als Flüchtling.
Kann also keine dieser Alternativen das Wort Flüchtling ersetzen? Theoretisch doch, denn auch hier greift das Prinzip der Opposition: die Wörter bilden ein Wortfeld, in dem jedes der Wörter seine Bedeutung durch Bezüge und Abgrenzungen der anderen vorhandenen Wörter erhält. Würde das Wort Flüchtling mit einem Mal verschwinden, würden eins oder mehrere der anderen Wörter den freiwerdenden Bedeutungsbereich mit abdecken. Wie ich im letzten Beitrag beschrieben habe, zeigt das Wort Geflüchtete/r tatsächlich jetzt schon erste Anzeichen einer Ausdehnung in den Bedeutungsbereich von Flüchtling.
Schlussgedanken
Eisenbergs Argumentation geht also an mindestens zwei Stellen implizit von einer statischen Vorstellung von Sprache aus: erstens dort, wo er die derzeitige Nicht-Kombinierbarkeit von -ling und -in als unveränderliche Eigenschaft des Sprachsystems darstellt und zweitens dort, wo er die Bedeutungen der Alternativen für Flüchtling als gegeben und ebenfalls unveränderlich annimmt. Aus dieser angenommenen Statik des Systems ergibt sich zum Teil seine oben zitierte Kritik an denen, die die Sprache nicht so akzeptieren, „wie sie ist“. Zum anderen Teil ergibt sie sich – vermute ich – aus dem in der Sprachwissenschaft weit verbreiteten Axiom, dass Sprache sich nicht von außen verändern lässt, sondern sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt.
Aber natürlich „ist“ Sprache nie, sie ist zu jedem Zeitpunkt im Werden. Und natürlich lässt sie sich in ihrer Entwicklung beeinflussen: die Sprachgemeinschaft hat eine Reihe diskriminierender Wörter aus dem allgemeinen Sprachgebrauch genommen, sodass sie ganz verschwunden oder in einzelne Subkulturen abgedrängt worden sind.
Man kann – wie Eisenberg, und wie auch ich – der Meinung sein, dass keine Notwendigkeit besteht, das auch mit dem Wort Flüchtling zu tun. Ich stimme ihm zu, dass die Bedeutungsvielfalt der Wörter im Wortfeld „Menschen auf der Flucht“ eine Ressource zur Bedeutungsdifferenzierung ist, die wir nicht vorschnell aufgeben müssen und sollten. Das Problem des Genderns würden wir allein mit einer Neubewortung sowieso nicht in den Griff bekommen, denn im scheinbar geschlechtsneutralen Plural, in dem die Wörter typischerweise verwendet werden, käme ohnehin die oben erwähnte kognitive Verzerrung wieder ins Spiel (bei die Geflüchteten denken wir zunächst genauso sehr nur an Männer wie bei dem Wort die Flüchtlinge).
Aber man sollte die grundsätzlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten sprachplanerischer Eingriffe nicht mit dem Argument abtun, das Sprachsystem sei, wie es ist. Sprache ist, was ihre Sprachgemeinschaft aus ihr macht.
Flüchtlinge zu Geflüchteten?
Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat in der Begründung zu ihrer Wahl von Flüchtlinge zum Wort des Jahres am Rande thematisiert, dass das Wort „für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig“ klinge, und das deshalb „neuerdings … öfters alternativ von Geflüchteten die Rede sei. Es bleibe aber abzuwarten, ob sich diese Alternative „im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen“ würde. Der Vorsitzende der GfdS, der Hannoveraner Sprachwissenschaftler Peter Schlobinski, wurde gegenüber der dpa deutlicher: „Ich glaube, dass Flüchtling letztlich bleibt, dass Geflüchtete keine Chance hat“.
Beide Fragen – ob Flüchtlinge einen negativen Beiklang hat und ob das Wort Geflüchtete (oder auch Flüchtende) eine aussichtsreiche neutrale Alternative wäre, stoßen auf anhaltendes Interesse (der Sprachlog-Beitrag aus dem Jahr 2012 zu diesem Thema gehört zu den am kontinuierlichsten abgerufenen, auch der Deutschlandfunk hat in seiner Berichterstattung zum Wort des Jahres darauf verlinkt). Ich möchte die Gelegenheit deshalb nutzen, diesen Beitrag um einige Perspektiven zu ergänzen, die über die üblichen subjektiven Eindrücke hinausgehen, die die GfdS auch dieses Jahr anstelle sprachwissenschaftlicher Analysen von sich gegeben hat. Weiterlesen
Wort des Jahres 2015: Flüchtlinge
Die Gesellschaft für deutsche Sprache versucht mit dem „Wort des Jahres“ jedes Jahr, Wörter zu präsentieren, die „das zu Ende gehende Jahr besonders gut charakterisieren“. Das gelingt nur selten: Im letzten Jahr war es das schnell verflogene Lichtgrenze, im Jahr davor das bleiern-ansgestrengte GroKo, und im Jahr davor das völlig abstruse Rettungsroutine. In diesem Jahr ist es ausnahmsweise gelungen, vermutlich, weil selbst die alltagsabgewandte GfdS nicht in der Lage war, das beherrschende Thema des Jahres zu ignorieren: Weiterlesen
Revolutionär*innen, die auf Sternchen starren
Die Grünen haben am Wochenende auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz unter anderem beschlossen, in Parteitagsbeschlüssen in Zukunft verbindlich den Gender-Stern (Student*innen, Kindergärtner*innen, Terrorist*innen) zu verwenden. Angesichts der Empfindlichkeit, mit der die deutsche Öffentlichkeit auf geschlechtergerechte Sprache reagiert, wurde diese Satzungsänderung natürlich vor, während und nach dem Parteitag in den Medien diskutiert. Die Fronten waren dabei vorhersehbar verteilt: „Gender-Gaga“ war der Beschluss z.B. für die Bild (der es dabei nicht nur um die Sprache ging: sie störte sich auch an der Idee von „Extra-Zelten für transsexuelle Flüchtlinge“). Der Cicero sah in dem Beschluss ein Zeichen für die „Rückverwandlung einer Partei in eine Krabbelgruppe“. Und die Ostthüringer Zeitung konnte es sich nicht verkneifen, in ihrer Schlagzeile von „Grün*innen“ zu sprechen. Die taz dagegen verteidigt den Beschluss sehr fachkundig, und die Süddeutsche Zeitung sagt zum Gender-Stern „Schön ist das nicht — aber richtig“.
Wer ab und zu das Sprachlog liest, wird vermuten, dass ich mich hier dem zweiten Lager anschließen und die Grünen für ihren Beschluss loben werde. Diese Vermutung muss ich aber enttäuschen – anders als die Süddeutsche finde ich den Gender-Stern schön, aber falsch. Natürlich stimme ich auch dem ersten Lager nicht zu. Das Problem ist nicht, dass der Beschluss der Grünen „Gender-Gaga“ ist, sondern, dass er nicht gender-gaga genug ist. Die Grünen entwickeln sich nicht zu einer Krabbelgruppe, sie verabschieden sich von der weltverändernden Anarchie, die jeder Krabbelgruppe innewohnt. Weiterlesen