Die Kandidaten für die Wahl zum Anglizismus des Jahres stehen fest — und werden von den Jurymitgliedern in den nächsten Wochen in Blogs und Foren diskutiert werden. Ich mache bei mir den kurzen Auftakt mit Shitstorm. Dieser Kandidat ist bereits zum zweiten Mal nach 2010 nominiert, wo er es in die Endrunde schaffte (war wenig aussichtsreich). Ich diskutierte Shitstorm bereits letztes Jahr in diesem Beitrag.
In die engere Auswahl schaffte es der Begriff also auch 2011. Shitstorm ist in einer schnellen Googlesuche 2011 etwa doppelt so häufig wie 2010. Grund genug, mal zurück und voraus zu blicken. Außerdem wenden wir uns der Frage zu, ob Shitstorm ein sogenannter Scheinanglizismus ist — das gehört auf den ersten Blick nicht hierher, aber irgendwie halt doch.
2010 schrieb ich:
Shitstorm lässt sich für das Deutsche allgemein definieren als ‘Sturm öffentlicher, massenhaft auftretender Entrüstung (im Web)’. Dabei bezieht sich Shitstorm aber nicht nur auf konstruktive Kritik oder erwartbaren Gegenwind, was ja die naheliegende Übersetzung Proteststurm bezeichnen würde, sondern es beinhaltet – mit den Worten des Bloggers Sascha Lobo – auch: “eine subjektiv große Anzahl von kritischen Äußerungen […], von denen sich zumindest ein Teil vom ursprünglichen Thema ablöst und [die] stattdessen aggressiv, beleidigend, bedrohend oder anders attackierend geführt [werden].” (Sascha Lobo, How to survive a shit storm, Vortrag auf der re:publica 2010)
Daran scheint sich im Grunde nichts wesentliches geändert zu haben. Es könnte sich aber eine Bedeutungsausweitung auf Kontexte eines handelsüblichen öffentlichen Protests bemerkbar machen. Die Welt schreibt im Dezember von öffentlichem Widerstand auch, aber nicht nur, auf Facebook gegen die Weihnachtswerbung einer Elektronikkette. (Die Überschrift muss ein Segen für den Journalisten gewesen sein!) Ganz ähnlich sieht es das Businessmagazin t3n, und kommt zu dem Schluss, dass Definitionen und Verwendungen uneinheitlich sind:
Aus der PR-Sicht sind viele der allgemein als Shitstorm bezeichneten PR-Krisen eigentlich gar keine. Erst wenn der Anteil der unsachlichen, persönlichen Kritik die argumentative Kritik übertönt, sprechen sie von einem Shitstorm. Berechtigte Kritik von Kunden an einem Unternehmen oder einer Marke fällt demnach nicht darunter.
Allgemein betrachtet wird der Begriff aber sehr viel weiter gefasst. Alles was die Reputation eines Unternehmens, einer Marke oder einer Person schadet und über das Social Web eine Eigendynamik entwickelt und eine kritische Masse überschreitet, wird schnell als Shitstorm bezeichnet. Ob das immer gerechtfertigt ist, ist die andere Frage.
Ich bin mir nicht sicher, ob die Aktion des Protests gegen den Elektronikkonzern unter die oben skizzierte Definition von Shitstorm fällt oder ob wir aufgrund dieser Verwendung und unterschiedlicher Auffassungen, wann ein Protest ein Shitstorm ist, von einer Bedeutungsausweitung des Begriffs sprechen dürfen. Bliebe abzuwarten — es spräche aber dafür, dass sich hier ein Begriff vom reinen Social-Media-Kontext in den öffentlichen, allgemeinen Sprachgebrauch verschiebt. Ein vorsichtiges Herzlichen Glückwunsch!
Die Herkunftsbedeutung im Englischen ist im Gegensatz zur Verwendung im Deutschen auf den ersten Blick sehr viel allgemeiner — also meist ganz ohne Web2.0, Social Media und gerne auch ohne die Öffentlichkeit. Nach wie vor findet sich kein Eintrag im OED oder im Merriam. Lediglich in Einträgen im Urban Dictionary (oft zweifelhafte Quellen/Erklärungen) für shitstorm und shit storm oder bei Wiktionary finden sich Definitionen.
Setzen wir mal auf die Definition im Wiktionary:
shitstorm, n.,
- (vulgar) A violent situation.
- (idiomatic, vulgar) Considerable backlash from the public.
Aber kommen wir kurz zum Deutschen zurück: Für Shitstorm gibt es seit dem 08. Juni 2011 einen Eintrag in der deutschen Wikipedia, der Shitstorm überraschenderweise zu den Scheinanglizismen zählt — vermutlich auch aufgrund des oberflächlich allgemeineren Verwendung/Definition. Scheinanglizismen sind Wörter, die sich zwar lautlich als Entlehnung aus dem Englischen tarnen, die aber entweder dort nicht existieren oder eine nicht-verwandte Bedeutung haben. (Die Wikipedia-Definition zu Scheinanglizismus muss hier mal fix herhalten. Wer Tips für eine gute, interessante wissenschaftliche Studie parat hat, ab in den Kommentarbereich! Wobei ich “Scheinanglizismus” ohnehin eher für ein begriffliches Konstrukt der Sprachkritik halte, das uns sagt, dass wir Anglizismen auch noch “falsch” erfinden. Aber gut, ich schweife ab.)
Shitstorm (dt.) und shitstorm (engl.) haben aber sehr klar miteinander verwandte Bedeutungen. Das, was wir bei Entlehnungen ja sehr oft sehen, nämlich dass wir nur eine von mehreren Bedeutungsschattierungen importieren, ist auch bei Shitstorm passiert (das ist nix neues gegenüber 2010). Also wenn wir davon ausgehen, dass Shitstorm nicht gleich shitstorm ist. Und selbst wenn wir Shitstorm in einem anderen Kontext verwenden, so sind die bildlichen Beziehungen zwischen beiden Konzepten so deutlich zu erkennen, dass ich Shitstorm nicht in einen Topf mit sonst üblicherweise als Scheinanglizismen beispielhaft aufgeführten Handy oder Beamer würde werfen wollen.
Aber shitstorm wird in der englischsprachigen Netzwelt eben doch auch so benutzt, wie bei uns: Das zeigen diese Twittermeldungen der letzten Stunden und Tage aus einem 500km-Radius um New York (Ort willkürlich gewählt, Ortsangabe beruht auf den Biografieangaben der Twitterer):
Thank you Novartis for not recalling percocet and endocet…us pharmers would surely be facing a pharmageddon shitstorm […] [Link,@_RxLauren]
Interesting article in immigration and economics on
#CiF: […] followed by the usual shitstorm of idiots, unfortunately… [Link, @acatcalledfrank]People give Tebow crap because of his (well-marketed) Christian beliefs. Imagine the shitstorm if he was vocally agnostic! [Link, @SeanTheBaptiste]
[…] Once the public at large becomes aware of
#NDAA, Obama is going to learn what “political shitstorm” means. [Link, @Kaveros]And it was written by a con! RT @techweenie Prepare for conservative shitstorm@Newsweek: Presenting this week’s cover://t.co/Xlm26rgX
#p2 [Link, @thejoshuablog]
Halten wir einfach fest: Shitstorm ist kein Scheinanglizismus. Wir haben eben im ersten Schritt nur die eine Bedeutung eingeführt. Diese scheint sich auszuweiten — Kriterium der Bereicherung für den Sprachgebrauch erfüllt. Die Feststellung der Bedeutung aufgrund der Belegsammlung aus dem Englischen — obgleich in letzter Instanz irrelevant für unseren Sprachgebrauch — zeigt, dass es ein genuiner Anglizsmus ist.
Fazit
Was Shitstorm trotz meiner Skepsis aus dem letzten Jahr in diesem Jahr sogar zu einem recht guten Kandidaten macht: Wir sind offenbar dabei, den Begriff aus den Facebook- und Twitter-Universen rauszuholen und dem allgemeinen Sprachgebrauch zu übergeben — inklusive einer Bedeutungserweiterung. Wie Falk Hedemann bei t3n schreibt, wird der Begriff “inflationär” verwendet — was früher Kritik war, sei heute ein Shitstorm.
Ich sehe das anders: Kritik und Shitstorm mögen gemeinsam auf einem Protestkontinuum liegen; die Ausprägungen, Ausführungsorgane und Übermittlungskanäle sind aber unterschiedlich. Das wird auch daran liegen, dass mit steigenden Nutzerzahlen der sonst stammtischliche (hier: eben nicht aus traditionellen Medien abgefeuerter) Protest in den öffentlichen Raum getragen wird. Shitstorm fügt dem Kontinuum also einen Haltebereich hinzu — und gibt dem bisher ungehörten, aber neuerdings vokalisierbaren Unmut einen Namen.