[AdJ 2011] Der Shitstorm ist zurück!

Von Susanne Flach

Die Kan­di­dat­en für die Wahl zum Anglizis­mus des Jahres ste­hen fest — und wer­den von den Jurymit­gliedern in den näch­sten Wochen in Blogs und Foren disku­tiert wer­den. Ich mache bei mir den kurzen Auf­takt mit Shit­storm. Dieser Kan­di­dat ist bere­its zum zweit­en Mal nach 2010 nominiert, wo er es in die Endrunde schaffte (war wenig aus­sicht­sre­ich). Ich disku­tierte Shit­storm bere­its let­ztes Jahr in diesem Beitrag.

In die engere Auswahl schaffte es der Begriff also auch 2011. Shit­storm ist in ein­er schnellen Google­suche 2011 etwa dop­pelt so häu­fig wie 2010. Grund genug, mal zurück und voraus zu blick­en. Außer­dem wen­den wir uns der Frage zu, ob Shit­storm ein soge­nan­nter Scheinan­glizis­mus ist — das gehört auf den ersten Blick nicht hier­her, aber irgend­wie halt doch.

2010 schrieb ich:

Shit­storm lässt sich für das Deutsche all­ge­mein definieren als ‘Sturm öffentlich­er, massen­haft auftre­tender Entrüs­tung (im Web)’. Dabei bezieht sich Shit­storm aber nicht nur auf kon­struk­tive Kri­tik oder erwart­baren Gegen­wind, was ja die nahe­liegende Über­set­zung Protest­sturm beze­ich­nen würde, son­dern es bein­hal­tet – mit den Worten des Blog­gers Sascha Lobo – auch: “eine sub­jek­tiv große Anzahl von kri­tis­chen Äußerun­gen […], von denen sich zumin­d­est ein Teil vom ursprünglichen The­ma ablöst und [die] stattdessen aggres­siv, belei­di­gend, bedro­hend oder anders attack­ierend geführt [wer­den].” (Sascha Lobo, How to sur­vive a shit storm, Vor­trag auf der re:publica 2010)

Daran scheint sich im Grunde nichts wesentlich­es geän­dert zu haben. Es kön­nte sich aber eine Bedeu­tungsausweitung auf Kon­texte eines han­del­süblichen öffentlichen Protests bemerk­bar machen. Die Welt schreibt im Dezem­ber von öffentlichem Wider­stand auch, aber nicht nur, auf Face­book gegen die Wei­h­nachtswer­bung ein­er Elek­tron­ikkette. (Die Über­schrift muss ein Segen für den Jour­nal­is­ten gewe­sen sein!) Ganz ähn­lich sieht es das Busi­ness­magazin t3n, und kommt zu dem Schluss, dass Def­i­n­i­tio­nen und Ver­wen­dun­gen unein­heitlich sind:

Aus der PR-Sicht sind viele der all­ge­mein als Shit­storm beze­ich­neten PR-Krisen eigentlich gar keine. Erst wenn der Anteil der unsach­lichen, per­sön­lichen Kri­tik die argu­men­ta­tive Kri­tik übertönt, sprechen sie von einem Shit­storm. Berechtigte Kri­tik von Kun­den an einem Unternehmen oder ein­er Marke fällt dem­nach nicht darunter.
All­ge­mein betra­chtet wird der Begriff aber sehr viel weit­er gefasst. Alles was die Rep­u­ta­tion eines Unternehmens, ein­er Marke oder ein­er Per­son schadet und über das Social Web eine Eigen­dy­namik entwick­elt und eine kri­tis­che Masse über­schre­it­et, wird schnell als Shit­storm beze­ich­net. Ob das immer gerecht­fer­tigt ist, ist die andere Frage.

Ich bin mir nicht sich­er, ob die Aktion des Protests gegen den Elek­tron­ikkonz­ern unter die oben skizzierte Def­i­n­i­tion von Shit­storm fällt oder ob wir auf­grund dieser Ver­wen­dung und unter­schiedlich­er Auf­fas­sun­gen, wann ein Protest ein Shit­storm ist, von ein­er Bedeu­tungsausweitung des Begriffs sprechen dür­fen. Bliebe abzuwarten — es spräche aber dafür, dass sich hier ein Begriff vom reinen Social-Media-Kon­text in den öffentlichen, all­ge­meinen Sprachge­brauch ver­schiebt. Ein vor­sichtiges Her­zlichen Glückwunsch!

Die Herkun­fts­be­deu­tung im Englis­chen ist im Gegen­satz zur Ver­wen­dung im Deutschen auf den ersten Blick sehr viel all­ge­mein­er — also meist ganz ohne Web2.0, Social Media und gerne auch ohne die Öffentlichkeit. Nach wie vor find­et sich kein Ein­trag im OED oder im Mer­ri­am. Lediglich in Ein­trä­gen im Urban Dic­tio­nary (oft zweifel­hafte Quellen/Erklärungen) für shit­storm und shit storm oder bei Wik­tionary find­en sich Definitionen.

Set­zen wir mal auf die Def­i­n­i­tion im Wiktionary:

shit­storm, n.,

  1. (vul­gar) A vio­lent situation.
  2. (idiomat­ic, vul­gar) Con­sid­er­able back­lash from the public.

Aber kom­men wir kurz zum Deutschen zurück: Für Shit­storm gibt es seit dem 08. Juni 2011 einen Ein­trag in der deutschen Wikipedia, der Shit­storm über­raschen­der­weise zu den Scheinan­glizis­men zählt — ver­mut­lich auch auf­grund des ober­fläch­lich all­ge­meineren Verwendung/Definition. Scheinan­glizis­men sind Wörter, die sich zwar laut­lich als Entlehnung aus dem Englis­chen tar­nen, die aber entwed­er dort nicht existieren oder eine nicht-ver­wandte Bedeu­tung haben. (Die Wikipedia-Def­i­n­i­tion zu Scheinan­glizis­mus muss hier mal fix her­hal­ten. Wer Tips für eine gute, inter­es­sante wis­senschaftliche Studie parat hat, ab in den Kom­men­tar­bere­ich! Wobei ich “Scheinan­glizis­mus” ohne­hin eher für ein begrif­flich­es Kon­strukt der Sprachkri­tik halte, das uns sagt, dass wir Anglizis­men auch noch “falsch” erfind­en. Aber gut, ich schweife ab.)

Shit­storm (dt.) und shit­storm (engl.) haben aber sehr klar miteinan­der ver­wandte Bedeu­tun­gen. Das, was wir bei Entlehnun­gen ja sehr oft sehen, näm­lich dass wir nur eine von mehreren Bedeu­tungss­chat­tierun­gen importieren, ist auch bei Shit­storm passiert (das ist nix neues gegenüber 2010). Also wenn wir davon aus­ge­hen, dass Shit­storm nicht gle­ich shit­storm ist. Und selb­st wenn wir Shit­storm in einem anderen Kon­text ver­wen­den, so sind die bildlichen Beziehun­gen zwis­chen bei­den Konzepten so deut­lich zu erken­nen, dass ich Shit­storm nicht in einen Topf mit son­st üblicher­weise als Scheinan­glizis­men beispiel­haft aufge­führten Handy oder Beam­er würde wer­fen wollen.

Aber shit­storm wird in der englis­chsprachi­gen Net­zwelt eben doch auch so benutzt, wie bei uns: Das zeigen diese Twit­ter­mel­dun­gen der let­zten Stun­den und Tage aus einem 500km-Radius um New York (Ort willkür­lich gewählt, Ort­sangabe beruht auf den Biografieangaben der Twitterer):

Thank you Novar­tis for not recall­ing per­co­cet and endocet…us pharm­ers would sure­ly be fac­ing a phar­maged­don shit­storm […] [Link,@_RxLauren]

Inter­est­ing arti­cle in immi­gra­tion and eco­nom­ics on #CiF: […] fol­lowed by the usu­al shit­storm of idiots, unfor­tu­nate­ly… [Link, @acatcalledfrank]

Peo­ple give Tebow crap because of his (well-mar­ket­ed) Chris­t­ian beliefs. Imag­ine the shit­storm if he was vocal­ly agnos­tic! [Link, @SeanTheBaptiste]

[…] Once the pub­lic at large becomes aware of #NDAA, Oba­ma is going to learn what “polit­i­cal shit­storm” means. [Link, @Kaveros]

And it was writ­ten by a con! RT @techweenie Pre­pare for con­ser­v­a­tive shit­storm@Newsweek: Pre­sent­ing this week’s cover://t.co/Xlm26rgX #p2 [Link, @thejoshuablog]

Hal­ten wir ein­fach fest: Shit­storm ist kein Scheinan­glizis­mus. Wir haben eben im ersten Schritt nur die eine Bedeu­tung einge­führt. Diese scheint sich auszuweit­en — Kri­teri­um der Bere­icherung für den Sprachge­brauch erfüllt. Die Fest­stel­lung der Bedeu­tung auf­grund der Belegsamm­lung aus dem Englis­chen — obgle­ich in let­zter Instanz irrel­e­vant für unseren Sprachge­brauch — zeigt, dass es ein gen­uin­er Anglizs­mus ist.

Faz­it

Was Shit­storm trotz mein­er Skep­sis aus dem let­zten Jahr in diesem Jahr sog­ar zu einem recht guten Kan­di­dat­en macht: Wir sind offen­bar dabei, den Begriff aus den Face­book- und Twit­ter-Uni­versen rauszu­holen und dem all­ge­meinen Sprachge­brauch zu übergeben — inklu­sive ein­er Bedeu­tungserweiterung. Wie Falk Hede­mann bei t3n schreibt, wird der Begriff “infla­tionär” ver­wen­det — was früher Kri­tik war, sei heute ein Shit­storm.

Ich sehe das anders: Kri­tik und Shit­storm mögen gemein­sam auf einem Protestkon­tin­u­um liegen; die Aus­prä­gun­gen, Aus­führung­sor­gane und Über­mit­tlungskanäle sind aber unter­schiedlich. Das wird auch daran liegen, dass mit steigen­den Nutzerzahlen der son­st stammtis­chliche (hier: eben nicht aus tra­di­tionellen Medi­en abge­feuert­er) Protest in den öffentlichen Raum getra­gen wird. Shit­storm fügt dem Kon­tin­u­um also einen Hal­te­bere­ich hinzu — und gibt dem bish­er unge­hörten, aber neuerd­ings vokalisier­baren Unmut einen Namen.

Kandidaten für den Anglizismus des Jahres: Occupy

Von Anatol Stefanowitsch

Die Amer­i­can Dialect Soci­ety hat vor ein paar Tagen das amerikanis­che „Word of the Year“ bekan­nt gegeben: occu­py (als Verb und als Sub­stan­tiv). Damit hat nach dem deutschen Wort des Jahres Stresstest schon das zweite der für den Anglizis­mus des Jahres nominierte Wort diese Ausze­ich­nung erhal­ten — ein Zeichen dafür, dass unsere Kan­di­daten­liste so schlecht nicht sein kann.

Zur Begrün­dung zitiert die Soci­ety den Vor­sitzen­den ihres „New Words Com­mit­tee“, Ben Zim­mer: „Es ist ein sehr altes Wort, aber in nur weni­gen Monat­en hat es dank ein­er nationalen und glob­alen Bewe­gung ein ganz anderes Leben begonnen und sich in eine neue, uner­wartete Rich­tung entwick­elt.“ Zim­mer spricht dem Wort sog­ar eine entschei­dende Rolle bei der Occu­py-Bewe­gung zu: „Die Bewe­gung selb­st wurde durch das Wort angetrieben.“

Die Amer­i­can Dialect Soci­ety legt bei ihrer Auswahl ähn­liche Kri­te­rien an, wie die Deutsche Gesellschaft für Sprach­wis­senschaft: Das Wort des Jahres muss wed­er brand­neu, noch sprach­wis­senschaftlich inter­es­sant sein, son­dern es muss im betr­e­f­fend­en Jahr im öffentlichen Diskurs zu neuer Promi­nenz gekom­men sein. Das­selbe gilt ja für den Anglizis­mus des Jahres, nur, dass der außer­dem noch eine beson­dere Bere­icherung für die deutsche Sprache darstellen und sprach­lich möglichst inter­es­sant sein soll.

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Die Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2011

Von Anatol Stefanowitsch
Button für den Anglizismus des Jahres 2011

But­ton für den Anglizis­mus des Jahres 2011

Mit ange­hal­tenem Atem wartet die Welt auf die Bekan­nt­gabe der Wörter, die es in die zweite Runde der Wahl zum Anglizis­mus des Jahres geschafft haben, und da es unge­sund ist, zu lange den Atem anzuhal­ten und da wir wahrhaftig wichtigere Prob­leme haben als einen lex­ophil bed­ingten Sauer­stoff­man­gel, will ich die Welt nicht länger warten lassen und präsen­tiere hier­mit die Nominierun­gen, die die Vorauswahl der streng­sten Wörter­wahljury Deutsch­lands über­lebt haben.

Um das zwangsläu­fig fol­gende Kopf­schüt­teln und die Empörung in Gren­zen zu hal­ten, zwei Vorbe­merkun­gen. Erstens, dass ein Wort in die zweite Runde kommt, bedeutet noch nicht unbe­d­ingt, dass es sich auch tat­säch­lich endgültig qual­i­fiziert hat. Es bedeutet zunächst nur, dass die Jury dies mehrheitlich für möglich hält. Die Wörter wer­den in den näch­sten Wochen in den Blogs der Jurymit­glieder genauer über­prüft und kön­nen dort natür­lich auch disku­tiert wer­den. Dabei schei­det sich­er noch der eine oder andere Wortkan­di­dat aus. Zweit­ens, ein Wort zählt im Rah­men dieses Wet­tbe­werbs als „neu“, wenn es im Jahr 2011 erst­mals in den Sprachge­brauch ein­er bre­it­eren Öffentlichkeit gelangt ist, bzw. dort einen deut­lichen Häu­figkeit­sanstieg verze­ich­net. Das Wort kann in sprach­lichen Sub­kul­turen also dur­chaus älter sein, ohne sich deshalb gle­ich zu disqualifizieren.

Klar für die zweite Runde qual­i­fiziert haben sich nach unseren Vor­ber­atun­gen (in alpha­betis­ch­er Rei­hen­folge) die fol­gen­den Wörter:

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Anglizismus des Jahres: Vorschau und Rückblick

Von Anatol Stefanowitsch
Button für den Anglizismus des Jahres 2011

But­ton für den Anglizis­mus des Jahres 2011

Die erste Phase der Wahl zum Anglizis­mus des Jahres 2011 war ein voller Erfolg: über sechzig Wörter sind nominiert wor­den, mehr als anderthalb Mal so viele wie im Vorjahr.

Natür­lich waren, genau wie im Vor­jahr, viele Wörter dabei, die die Kri­te­rien nicht erfüllen, z.B. weil sie nicht mehr neu genug sind oder weil sie sich im all­ge­meinen Sprachge­brauch (noch) nicht durchge­set­zt haben. In den let­zten Tagen hat die Jury sich deshalb inten­siv mit den Nominierun­gen befasst und zunächst die klaren Fälle aussortiert.

Übrig geblieben sind rund 20 Wörter, die ich mor­gen hier im Sprachlog und auf der Web­seite des Wet­tbe­werbs bekan­nt geben werde. Damit begin­nt dann die zweite Phase der Wahl: Bis Ende Jan­u­ar wer­den die Jurymit­glieder diese Wörter aus­führlich in ihren Blogs behan­deln, um Zweifels­fälle zu klären, Favoriten her­auszuar­beit­en und dabei über Entlehnung im Beson­deren und Sprachen­twick­lung im All­ge­meinen zu diskutieren.

Ende Jan­u­ar ste­ht dann (hof­fentlich) die Short­list, die sowohl öffentlich zur Abstim­mung gestellt wird (um den Anglizis­mus der Herzen 2011 zu ermit­teln) als auch intern berat­en wird (um den Anglizis­mus des Jahres 2011 zu ermit­teln). Die Bekan­nt­gabe erfol­gt dann in der ersten Februarhälfte.

Im let­zen Jahr waren sich die Jury und die Öffentlichkeit ja einig: bei­de wählten das Wort leak­en auf den ersten Platz. Bevor mor­gen die neue Runde eröffnet wird, soll­ten wir noch ein­mal kurz zurück­blick­en und uns fra­gen, ob wir mit dieser Wahl richtig lagen — ob wir tat­säch­lich ein Wort gewählt haben, das mit­tel­fristig einen Beitrag zur deutschen Sprache leis­ten wird, oder ob es sich um ein Mod­e­wort gehan­delt hat, das wegen den Vorgän­gen rund um die Enthül­lungsplat­tform „Wik­iLeaks“ kurzfristig in den all­ge­meinen Sprachge­brauch gespült wurde und dann wieder ver­schwun­den ist.

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Zur Erlustigung was über frühneuhochdeutsche Grammatikschreibung

Von Kristin Kopf

(Hin­weis: Die orangen Pas­sagen wur­den nachträglich geändert/hinzugefügt.)

Hach, wie schön es sich über Sprache schwär­men lässt … hier aus Der Hóchdeutsche Schlüszel zur Schreib­richtigkeit oder Rechtschrei­bung (Samuel Butschky, Leipzig 1648), weit­ge­hend wortwörtlich von Her­rn Schot­telius geklaut:

Sehr wohl ver­gle­icht Herr
Schot­tel / unsere Hóchdeutsche
Haupt= und Helden­spráche / einem
ansehlichen/fruchtbringendenBau=
me / welch­er seine saftre­iche Wur=
tzeln/ tief in den Erd­bó­den / und da=
rinn weit aus­gestrekt / also / daß er
die Feuchtigkeit / und das Mark der
Erden / ver­mit­tels sein­er äderlein/
an sich zeucht ; seineWurtzeln/durch
ein fruchtre­ich­es saftiges Naß /
zeucht ‘zieht’
durchhärtet/tauer­hafft macht / und
sich selb­st in die Natur einpfropffet:
Denn die Wurtzeln / und saftige
Stamwörter / unser­er Spráche /
haben den Kern/und das Mark/aus
der Ver­nun­ft geso­gen / und sich auf
die Haupt­gründe der Natur ge=
stam­met: ihren Stamm aber lassen
sie hóch empor ragen ; ihre Zweige/
tauer­hafft ‘dauer­haft’
und Reiser­lein / in unaussäglicher
Menge/ in steter Gewißheit / wun=
der­samer man­nig­faltigkeit / und an=
sehlich­er Pracht her­aus wachsen /
also/daß die Erlus­ti­gung an diesem
Wun­der­stükke / könne stets völlig/
Reiser­lein ‘Ästchen’
und die Genüßung dero süssesten
Früchte / unendlich seyn.
Genüßung ‘Genuss’

Viel Blabla? Die ganze Baum­meta­pher klingt zwar sehr abge­dreht, aber wenn man genau hin­li­est und nach­schaut, wovon im Text drumherum die Rede ist, wird klar, dass Wurzeln, Stamm, Äste und Reis­er den Kom­plex­itäts­grad von Wörtern beze­ich­nen. Weit­er­lesen

Fetzenlogik

Von Anatol Stefanowitsch

Ich wollte zum Vor­sitzen­den des Rechtschreibrates und dessen abstrusen Phan­tasien vom Zusam­men­hang zwis­chen Anal­pha­betismus und der „Fet­zen­lit­er­atur“ auf Twit­ter eigentlich nichts schreiben — ich kann schließlich nicht jeden Blödsinn kom­men­tieren, den irgen­dein Laien­sprach­nör­gler von sich gibt. Aber da ihr nicht aufhört, mir Links auf diese Geschichte zu schick­en, muss ich es wohl doch tun.

Die Geschichte begann eigentlich schon Ende Novem­ber 2011, als der Rechtschreibrat in ein­er Presseerk­lärung eine all­ge­meine Besorg­nis um die schrift­sprach­lichen Fähigkeit­en der Jugendlichen in Deutsch­land. Der Rat habe in ein­er Sitzung festgestellt,

dass der Sprache und ins­beson­dere ihrer Rechtschrei­bung hohe Bedeu­tung beigemessen, aber im Umgang mit ihr nach­läs­sig ver­fahren wird. In dieser Hal­tung ist mit eine Ursache dafür zu sehen, dass unge­fähr zwanzig Prozent eines Jahrgangs der 15-Jähri­gen als Anal­pha­beten gel­ten müssen; ein Zus­tand, der nicht hin­genom­men wer­den darf. [Presseerk­lärung des Rechtschreibrates, 29. Novem­ber 2011 (PDF)]

Kern­stück der Presseerk­lärung ist dann die Forderung nach ein­er besseren, benutzer­grup­pe­nadäquat­en Ver­mit­tlung der deutschen Rechtschrei­bung im deutschen Schul­sys­tem: „Rechtschrei­bung muss eine stärkere Rolle in Schule und Lehreraus­bil­dung ein­nehmen“, lautet das Rezept.

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Auch in 2012 darf man „in 2012“ sagen

Von Anatol Stefanowitsch

Im Zuge der Nominierun­gen zum Anglizis­mus des Jahres ist auch die Ver­wen­dung von in mit Jahreszahlen nominiert. „Es ist für mich der kle­in­ste aber wider­wär­tig­ste Anglizis­mus, den jedes hal­bakademis­che Bull­shit­bin­goopfer in jed­er Besprechung allzu häu­fig ver­wen­det“, schreibt der Nominierende. „Warum müssen wir in unserem Sprachge­brauch ein Wort ein­fü­gen, wo es bei uns gar nicht notwendig ist? Das hat­ten wir bere­its 2010 disku­tiert und nicht in 2010 – meinetwe­gen im Jahre 2010.“

Mit dieser Abnei­gung ist er nicht allein. Immer wieder wird behauptet, dass es sich dabei um einen „lästi­gen Anglizis­mus“ aus dem „Wirtschaft­s­jar­gon“ han­delt, der von „schlechtem Stil zeugt“, und dass er zwar „weit ver­bre­it­et“ aber „tat­säch­lich falsch“ sei.

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Was macht eigentlich … leaken?

Von Kristin Kopf

Die Nominierungsphase für den Anglizis­mus des Jahres 2011 läuft (noch bis zum 31.12.!) – eine schöne Gele­gen­heit, mal besinnlich zu wer­den und nachzuschauen, wie es dem Gewin­ner von let­ztem Jahr ergan­gen ist: leak­en. Es gab damals zwei recht aus­führliche Analy­sen von suz und mir, denen aber für 2010 die Dat­en fehlten: Das Wort trat ja erst im Herb­st so richtig ans Licht der bre­it­en Öffentlichkeit, und das DeReKo (eine enorm große Samm­lung von Zeitung­s­tex­ten, zugänglich via Cos­mas II) umfasste damals nur die erste Jahreshälfte. Mit­tler­weile sind die Dat­en da und ich hab mal reingeschaut, allerd­ings mit ernüchtern­dem Ergeb­nis: Das Verb leak­en tritt 2010 grade mal zweimal auf, inklu­sive ein­er scherzhaften Verwendung:

  • Ulmen schlüpft in die Rolle sein­er Kun­st­fig­ur Uwe Wöll­ner und erk­lärt aktuelle Begriffe wie „Leak­ing“ („Wenn ich niese, zum Beispiel, leake ich meine Erkäl­tung“). (Mannheimer Mor­gen, 13.12.2010, S. 28)
  • Wiki leakt weit­er. Die «Rund­schau» reist nach Island zu Mit­stre­it­ern von Julian Assange. (St. Galler Tag­blatt, 15.12.2010, S. 12)

Im Jahr 2011 (erste Jahreshälfte) dann bish­er drei Tre­f­fer, ein­er scherzhaft:

  • Leak­en, das heisst etwas vor der Veröf­fentlichung ver­bre­it­en, sei «grund­sät­zlich ein anar­chis­tis­ch­er Akt». (St. Galler Tag­blatt, 28.01.2011, S. 9)
  • Merke: „Ein klein­er Wiki leakt in jedem von uns!“ (Nürn­berg­er Nachricht­en, 03.03.2011, S. 8)
  • Wohin der Weg eines trans­par­enteren Staates führen kön­nte, zeigte eine Äußerung des Bun­des­daten­schutzbeauf­tragten Peter Schaar: „Wenn Möglichkeit­en zur Freiga­be von Dat­en erle­ichtert wer­den, min­dert das den Druck, Dat­en zu leak­en.“ (Rhein-Zeitung, 18.04.2011, S. 32)

Für die Vor­jahre sieht das immer­hin noch schlechter aus, wie ich in meinem let­ztjähri­gen Artikel schon erwäh­nt habe (2005 gibt es drei Ver­wen­dun­gen für Computerspiele/Musik, die aus der Wikipedia stam­men, das war’s), aber Ten­den­zen kann man daraus nun wirk­lich keine ableiten.

In mein­er Daten­not habe ich auf Google­News zurück­ge­grif­f­en. Das ist aus mehreren Grün­den keine beson­ders gute Idee, darunter z.B.:

  •  Man hat keine Ahnung, wieviele Tex­twörter ins­ge­samt durch­sucht wer­den. Da das von Jahr zu Jahr vari­ieren kann, kön­nte die rel­a­tive Vorkom­men­shäu­figkeit eine ganz andere sein, als die absolute nahelegt. Wenn man davon aus­ge­ht, dass die Textzahl jedes Jahr steigt, dann ist auch der Anstieg von leak­en nicht mehr so ungewöhnlich.
  • Die Datierung ist unzu­ver­läs­sig. Der Tre­f­fer, den ich für 2002 hat­te, bezieht sich z.B. anachro­nis­tis­cher­weise auf Wik­ileaks und stammt dann auch in Wirk­lichkeit von 2010. Wer weiß, wie viel da son­st noch im Argen liegt.

Nichts­destotrotz habe ich die Suche unter­nom­men, und zwar mit der Suchanfrage

leak­en” OR “leake” OR “leakst” OR “leakt” OR “leak­te” OR “leak­test” OR “leak­tet” OR “leak­ten” OR “geleakt” OR “geleak­te” OR “geleak­ten” OR “geleak­ter” OR “geleak­tes” OR “geleak­tem”

Die sollte so ziem­lich alle erwart­baren ver­balen und adjek­tivis­chen Vorkom­men abdeck­en. Für die let­zten zehn Jahre find­et man dann die fol­gen­den Ergeb­nisse in absoluten Zahlen (von mir bereinigt):


Einen Anstieg kann man daraus, wie bere­its bemerkt, nicht ableit­en, aber man kann sich das Ver­hält­nis der ver­schiede­nen Anwen­dungs­bere­iche zueinan­der anschauen. Die Ein­teilung ist recht grob, weil ich bei Fil­men, Musik und Tech­nik nicht sauber aus­sortiert habe, wann es sich um ein geleak­tes Pro­dukt han­delte und wann um Infor­ma­tio­nen dazu (sind auch teil­weise im roten Balken gelandet, aber nicht so furcht­bar sys­tem­a­tisch) – wenn jemand Zeit hat … Momen­tan sieht es so aus, als sei prozen­tu­al nur die Film-Musik-Tech­nik-Bedeu­tung etwas gestiegen (2010 56%, 2011 65%) und die Über­tra­gung auf die Infor­ma­tions­be­deu­tung ließe noch auf sich warten (falls sie jemals so richtig kommt; 2010 25%, 2011 24%). Vielle­icht tut sich aber, wie gesagt, etwas im Über­schnei­dungs­bere­ich “Infor­ma­tio­nen zu Fil­men, Musik, Technik”.

Ich fürchte, wir müssen in einem Jahr wieder nach­schauen, wie es dem Leak­en so geht.

Dreh den Stresstest auf

Von Anatol Stefanowitsch

Ohne Wörter­wahlen wäre die Welt vielle­icht kein besser­er, aber ganz sich­er auch kein schlechter­er Ort — aber da ich selb­st in ver­ant­wortlich­er Posi­tion an ein­er Wörter­wahl beteiligt bin, füh­le ich mich verpflichtet, auch die Arbeit der anderen wohlwol­lend zu kommentieren.

Vom Jugend­wort des Jahres war ich ja durch­schnit­tlich ange­tan (wobei die Jury selb­st noch weniger begeis­tert wirk­te). Ich will aber klarstellen (das habe ich in meinem Beitrag let­zte Woche ver­säumt), dass das Jugend­wort 2011 — swag — bei Weit­em das beste Jugend­wort seit Langem ist, ein­fach schon deshalb, weil es nicht ein­fach frei erfun­den ist.

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Frauen natürlich ausgenommen

Von Anatol Stefanowitsch

Nach­dem ich vor eini­gen Wochen über die grund­sät­zlich diskri­m­inierende Struk­tur von Sprache geschrieben habe, möchte ich heute auf ein spezielles Prob­lem des Deutschen (und viel­er ander­er Sprachen) zurück­kom­men, das auch hier im Sprachlog schon mehrfach zu erhitzten Debat­ten geführt hat: Das soge­nan­nte „gener­ische Maskulinum“. Es hält sich, sowohl im Sprachge­brauch selb­st als auch in der Diskus­sion über Sprache, hart­näck­ig das Gerücht, man könne bei geschlechtlich gemis­cht­en Grup­pen von Men­schen ein­fach masku­line Beze­ich­nun­gen ver­wen­den, also etwa eine Gruppe von Stu­dentin­nen und Stu­den­ten ein­fach als Stu­den­ten beze­ich­nen, und die weib­lichen Mit­glieder dieser Gruppe seien dann „mit­ge­meint“.

Bemühun­gen, diese Art der sprach­lichen Unsicht­bar­ma­chung von Frauen zu ver­mei­den — etwa durch explizite Nen­nung bei­der Gen­era (Stu­dentin­nen und Stu­den­ten), durch kom­binierte For­men wie die Schrägstrich­form (Student/innen) oder das Binnen‑I (Stu­dentIn­nen) oder durch die Schaf­fung inklu­siv­er For­men (Studierende) — stoßen bei vie­len Men­schen auf Ablehnung.

Wenn über­haupt ein­mal sach­liche Argu­mente für diese Ablehnung genan­nt wer­den, dann sind das nor­maler­weise die folgenden:

  1. Das „gener­ische Maskulinum“ sei nun ein­mal weit ver­bre­it­et und jed­er wisse, dass Frauen hier eingeschlossen seien. Es sei deshalb albern/überflüssig/Teil eines Plans zur fem­i­nis­tis­chen Weltherrschaft, auf sprach­lichen Alter­na­tiv­en zu bestehen.
  2. Geschlecht­sneu­trale und geschlechterg­erechte For­mulierun­gen seien umständlich und behin­derten das Leseverständnis.

Wenn diese Aus­sagen stim­men wür­den, wäre das nicht unbe­d­ingt ein Grund, auf eine sprach­liche Gle­ich­be­hand­lung der Geschlechter zu verzicht­en. Es ist auch umständlich und über­flüs­sig, die Flagge eines Staats­gastes vor dem Reich­stags­ge­bäude zu hissen, Men­schen nett zu begrüßen und sich nach ihrem Befind­en zu erkundi­gen oder mit Mess­er und Gabel zu essen. Trotz­dem gel­ten diese Gesten als Zeichen von Respekt, Inter­esse und gutem Benehmen. Genau­so kön­nte es umständlich und über­flüs­sig sein, statt eines „gener­ischen Maskulinums“ eine der anderen Alter­na­tiv­en zu ver­wen­den — ein Zeichen für das Ziel ein­er all­ge­meinen Gle­ich­berech­ti­gung wäre es trotzdem.

Aber stim­men die Aus­sagen denn über­haupt? Sagen wir es so: Die Forschungslage in diesem Bere­ich reicht aus, um bei­de Aus­sagen stark in Zweifel zu ziehen.

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