Nein. Aber beginnen wir am Anfang.
Circeln (v.) ist also eine Derivation von Circles (n.) — im Englischen war’s eine Konversion: circle > to circle. Wo kommt’s her? Das hab ich mich natürlich gefragt — und hab mal wieder beim OED vorbeigesehen, weil ich wissen wollte, ob die Bedeutung von “in gewissen Kreisen” auch im Englischen von circle (n.) abgedeckt ist. Das könnte hier aber ähnlich unübersichtlich werden, wie bei master. Offenbar eignet sich die Kreis-Metapher für sehr, sehr viel versprachlichbare Wahrnehmung. Um die Geschichte abzukürzen — ja, tut es:
21.a.
A number of persons united by acquaintance, common sentiments, interests, etc.; a ‘set’ or coterie; a class or division of society, consisting of persons who associate together.
[Eine Gruppe von Personen, die durch Bekanntschaft, gemeinsame Ansichten, Interessen etc. verbunden ist, ‘[Kreise]’ oder Seilschaften, eine gesellschaftliche Klasse oder Einheit, die zusammen gehört.]
Der Ursprung wird hier sowohl mit germanisch angegeben, von circul (Altenglisch, Astronomie), als auch mit lateinisch-romanisch, circulus (lat.) und cercle (fr.). Bei uns gibt es das Kognat als zirkil schon im Althochdeutschen im 9. Jahrhundert als Instrument fürs Kreismalen. Die Bedeutung des Personenkreises war im 18. Jahrhundert bei uns gar ein Gallizismus (für alles: Etymologieeintrag im DWDS, Zirkel, nach Pfeifer):
Die Bedeutung ‘zu Geselligkeit oder zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen sich versammelnde Menschengruppe’ (1. Hälfte 18. Jh.) steht unter dem Einfluß von frz. cercle ‘in einem Salon versammelte Personen, Klub, Vereinigung Gleichgesinnter’ (zunächst ‘um den König oder die Königin versammelter Kreis von Vertrauten’, aus lat. circulus im Sinne von ‘Personenkreis, Gruppe’), das selbst Ende des 18. Jhs. in der Form Cercle übernommen und zeitweilig (bis ins 19. Jh.) neben Zirkel gebraucht wird. Dieses lebt in neuester Zeit vor allem als ‘Kreis von Lernenden, Lehrgang, Kursus’ (19. Jh.) weiter.
Ausgang dieser Überlegungen und des Exkurses war nämlich die Tatsache, dass ich Circel in genau dieser Schreibweise und in der Bedeutung ‘gesellschaftlicher Kreise’ im Zeitungskorpus (bei Cosmas II) aus dem Jahr 1996 fand, als ich nach circ*suchte:
Tatsächlich fand die UNO-Menschenrechtsbeauftragte für Bosnien, die frühere finnische Verteidigungsministerin Elisabeth Rehn, gestern in Wiener Circeln auffallend moderate Verteidigungsworte für die Serben[.] (Oberösterreichische Nachrichten, X96/JUL.12685)
Aber jetzt scheint man in gewissen Circeln unseres Außenministeriums so arrogant zu sein, daß man die Tiroler Landespolitik, die bisher letztlich, zumindest was Südtirol betrifft, mit der Außenpolitik des Bundes übereinstimmte, verhöhnen darf, indem man einfach auf die Schutzmachtfunktion unserer Republik für Südtirol verzichtet (oder vergißt?). (Die Presse, P96/MAR.12830)
Insgesamt gibt es drei Belege aus den Oberösterreichischen Nachrichten und den einen aus Die Presse, was mich zu der Annahme verleitete, es handele sich um einen Austriazismus, aber vermutlich nur in der Schreibweise. Belege aus der deutschen Presse sind zahlreich, nur eben mit Zirkel(n), ein Beleg soll mal genügen (z.B. aus dem Kernkorpus, DWDS):
Das ius sanguinis, das Abstammungsprinzip, war kein Codewort elitärer Zirkel, es offenbarte sich langfristig auch in (fast) jeder Zeitung. (27.09.1996, Die Zeit)
So, jetzt sind wir beim Verb. Da ist es natürlich etwas komplizierter — das ‘direkte’ Kognat von to circle, zirkeln beschränkt sich überwiegend auf:
zirkeln Vb. ‘mit dem Zirkel zeichnen, abmessen’ (älter auch ‘kreisen, sich drehen’), übertragen ‘mit Sorgfalt und Genauigkeit abmessen, entwerfen, ausarbeiten’, mhd. zirkeln ‘mit dem Zirkel messen, nach dem Zirkelmaß verfertigen’ (spätmhd. auch ‘als Wache die Runde machen’); (DWDS, Zirkel)
Man kennt zirkeln ja noch aus dem Fußballsprech: Er zirkelt den Freistoß um die Mauer, in sowas wie gezirkelte Spitzfindigkeiten (DWDS) oder vom Zirkeltraining (als Nomen). Die direkte Verbindung zu (ein)kreisen, dem ‘erweiterten’ Kognat von to (en)circle, ist es also nicht. Oder anders: wir differenzieren an dieser Stelle. Aber die ganze semantische Verbindung ist natürlich gegeben mit diesen ganzen Kreisen überall.
Wem noch nicht schwindlig ist: circlen kommt zu uns und bringt also praktischwerweise Differenzierungspotential mit. Anders als bei den meisten bisherigen Kandidaten, die hier bei mir diskutiert wurden, eignet sich circeln hervoragend dazu, das abzudecken, was weder die Kognate kreisen, einkreisen und schon gar nicht zirkeln leisten können. Zwar kam auch erst mit Google+ das Konzept von “meinen Kreisen im Netz” wirklich definiert und technisch konzentriert auf den Bildschirm oder war vorher je nach Netzwerk mit adden oder frienden dem Netzwerk entsprechend gut abgedeckt — aber ich würde mal sagen: Kriterium erfüllt. Und anders als Kristin für adden festgestellt hat (“hat 2011 nichts Besonderes geleistet”), hat circlen einfach die Gnade der 2011er-Geburt.
Die Aktualität
Google+ startete im Juni 2011. Ende der Durchsage.
Die Verbreitung und Integration
So, zum Schluss kommen wir zum Kritikpunkt der mangelnden Verbreitung zurück, den AdJ-Leser/-in impala geäußert hatte: Das Wort sei zu selten. Ich denke, hier müssen wir aber circlen gegenüber fair bleiben.
Die nakten Zahlen, die impala anführt, sagen nämlich lediglich erstmal, dass leaken bzw. Wikileaks — obächtle! — weitere Kreise gezogen hat und leaken natürlich viel allgemeiner auf mehrere Kontexte anwendbar ist. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass circlen bisher nur ein halbes Jahr Zeit hatte, sich zu etablieren — wenn man dann noch die Suchanfrage für leaken und seine flektierten Formen auf 2010 beschränkt, werden auch dort die Ergebniszahlen geringer. Natürlich ist es richtig, dass gecirclet/-d nicht auf ähnliche Zahlen kommen kann, wie leaken. Das hat auch noch einen Anwendungsgrund: Bei Wikileaks ging es nämlich um das Leaken an sich, bei Google+ aber nicht ums circlen, sondern mehr um die Potentiale des neuen Netzwerks.
Trotz dieser Überlegungen: die Zahlen sind gar nicht so mau, wie impala sie gefunden hat. Er/sie schreibt, dass die Treffer “auf deutschen Webseiten” gefunden wurden, vermutlich mit der Anfrage site:de. Das ist aber womöglich der falsche Ansatz. Unter der Annahme, dass gecircelt/gecirclet/gecirceld/gecircled morphologisch durch das Partizip Präfix ge- recht zuverlässig auf eine deutschsprachige Textumgebung hinweist, weiten wir die Suche auf alles von Google aus. Und siehe da: Allein auf der ersten Ergebnisseite kamen bei drei Stichproben in verschiedenen Schreibweisen etwa 8 von 10 Treffern von anderen Topleveldomains (.fm, .com), davon meist gut die Hälfte direkt aus Google+ selbst (.com).
Die Niederländer kommen uns mit einer ähnlichen Morphologie in die Quere (stichprobenartig überprüft für eine .nl-Suche z.B. 4 Treffer für gecircelt und 39 für gecircled). Das ist natürlich die Apfel-Birnen-Saga, zeigt uns aber, dass niederländische Treffer nicht ausreichend aus den .com-Treffern rausgefiltert werden können. Aber für einen Einblick in die Häufigkeit und Verbreitung von circlen muss es halt schlicht reichen (Trust Google searches with a pinch of salt). Eine allgemeine Anfrage und eine mit den flektierten Formen löst übrigens auch das Problem der Grafikendung cirleN, das zumindest so häufig oder beliebt zu sein scheint, dass sie schon die ersten Trefferseiten verdünnt.
So kommen wir auf folgende Näherungswerte (Gesamt-Google, gesamter Zeitraum):
- gecircelt: 9,030
- gecircled: 4,890
- gecirceld: 1,130
- gecirclet: 400
Näherungsergebnisse für circlen/circeln (hier aber site:de, 28.06.–31.12.2011):
- circlen: 15,300
- circeln: 61
Hier sind wie immer die absoluten Zahlen nicht so entscheidend, sondern die Verhältnisse zwischen den Varianten. Und da zeigt sich meiner Meinung nach enorm Erstaunliches: der Infinitiv ist orthografisch eindeutig die englische Variante circlen. Beim Partizip kristallisieren sich bei vier möglichen zwei mehr oder weniger konkurrenzfreudige Alternativen heraus: gecircelt und gecircled. Dabei ist gecircelt gleich doppelt eingebürgert (-el und -t), gecircled behält die nativ-englische Schreibung für -le und das englische Partizipmorphem -d. Also: Integration ganz oder gar nicht! Derzeit liegt hier die deutsche Orthografie vorn, die sich vermutlich auch noch weiter etablieren wird. Was im Vergleich dazu aber erstaunlich ist, ist die deutliche Präferenz für den orthografischen englischen Infinitiv. Will sich jemand an einer Erklärung versuchen?
(Das Problem ist aber allgemein, dass bei den Partizipien für den Zeitraum seit der Gründung von Google+ bis Jahresende z.B. für gecircelt gar keine Ergebnisse aufgeworfen werden (?!?), mir unerklärlich. Man darf also die Infinitiv-Gruppe nicht mit der Partizip-Gruppe vergleichen, da sie sich auf andere Zeiträume beziehen und mit unterschiedlichen Einschränkungen auf Topleveldomains gefunden wurden. Vergleiche sind also nur innerhalb der Gruppen “möglich”. Für den Rest verstehe ich Googlesuchen manchmal eh nicht.)
Fazit
Ist aussichtsreich dabei, definitiv. Auch wenn ich Google+ bisher fast nur von Buttons auf Seiten kenne. Ich finde die Re-Re-Integration der entfernten und entfremdeten Verwandtschaft ohnehin faszinierend (die Kognatskreisläufe sind so toll!). Zwar ist circlen vermutlich solange auf Google+-Kontexte beschränkt, wie nur Google+ mit solchen Kreisen operiert. Aber ich finde die Möglichkeit der Abbildung des gesellschaftlichen Konstrukts der Kreise auf die Onlinewelt faszinierend, auch sprachlich — und sie hat Potential. Mit circlen haben wir dafür also ein Wort übernommen, was ganz ausgezeichnet differenziert — denn mal ehrlich: Würden Sie Ihre Freunde wirklich einkreisen wollen?