Gestern war mal wieder “Tag der deutschen Sprache”. So genau war mir nie richtig klar, was die Initiatoren damit wirklich bezwecken wollen. Naja, nutzen Sie halt mal die deutsche Sprache! Brüllen Sie schnell zehn Mal “deutsch” in Großbuchstaben! Stoppen Sie den sintflutartigen Sprachwandel mit bloßen Händen und passen Sie auf, dass Ihnen kein Anglizismus durch die Finger glitscht! Und vermeiden Sie bloß sone neumodischen Indefinitdemonstrativartikel!
Die Badische Zeitung, die zu diesem Anlass bereits im letzten Jahr mit einem “Floskel-Alphabet” was Volontierendes beschäftigt hat, macht dieses Jahr mit einem ABC der “Bedrohten Wörter” auf. These Ergebnis: “Immer mehr Begriffe, die wir lieben, geraten in Vergessenheit.” Dieser Spruch setzt sich zwar sofort dem Verdacht eines Oxymorons aus, weil ein Wort ja per Definition nur dann aussterben kann, wenn es nicht mehr genutzt wird. Dieser Einwand wäre jetzt aber nur unnötig verkürzend: mir kann ja ein Wort gefallen und ich kann es nutzen — aber wenn es sonst keiner tut, werde ich mein Lieblingswort mit ins Grab nehmen. Umgekehrt gilt natürlich, dass nicht jedes Wort, was ich als selten ansehe oder empfinde, auch selten ist.
In der Hoffnung, dass alle mit der folgenden Definition leben können, verknüpfen wir an ‘bedroht’ die Erfüllung folgender Bedingungen*:
- Es ist in der Vergangeheit überhaupt genutzt worden.
- Es ist in der Vergangenheit (dauerhaft) deutlich häufiger genutzt worden, als heute.
AutorIn “bwa” von der Badischen Zeitung setzt folgende Begriffe auf die Liste der bedrohten Wörter:
abermals, blümerant, Chose, dort**, etepetete, frohlocken, garstig, hanebüchen, Ingrimm, Jubelperser, knorke, Labsal, Meschugge, Nuckelpinne, Ohrenschmaus, poussieren, Quasselstrippe, Ratzefummel, Sommerfrische, Schurigeln, töricht, unhold, Vetter, Wendehals, Xanthippe, Yuppie, Zierrat
Auf welcher subjektiven Grundlage die Liste erstellt wurde, bleibt das Geheimnis von “bwa”. Sie basiert aber sicher nicht auf wirklichem Sprachgebrauch. Dabei wär das sogar recht einfach gewesen: Der folgenden Eingruppierung liegt eine kurze Suche über GoogleNgrams zugrunde (konservativ bewertet, Zeitraum 1800–2000, smoothing=3):
Die absoluten Stars der Liste, da ihre Frequenz zumindest bis 2000 kontinuierlich ansteigt — mal mehr, mal weniger -, sind blümerant, Chose, etepetete, hanebüchen, Jubelperser, knorke, Meschugge, Quasselstrippe und Yuppie. Bei einigen dieser Wörter ist gegen Ende eventuell ein kleiner Abfall reininterpretierbar — aber es dürfte a) fraglich sein, ob dies ein eindeutiger Trend ist und b) trotz der Tatsache, dass GoogleBooks bei 2000 aufhört, eher unwahrscheinlich sein, dass sie deshalb als ‘bedroht’ empfunden werden müssen.
Damit keiner ohne bunte Bildchen nach Hause gehen muss, eine kleine Auswahl aus der Kategorie “hat Karriere vor sich”:
Größtenteils unverändert (lies: stabil) bzw. unter Umständen sehr stark schwankend, aber keineswegs im Untergang begriffen sind garstig, Ohrenschmaus, Sommerfrische, schurigeln, Unhold, Vetter, Wendehals (den steilen Anstieg ab den 80ern ignoriere ich geflissentlich) und Xanthippe. Keine Aussagen erlaubt NGram zu Nuckelpinne und Ratzefummel. Und zumindest bei Nuckelpinne ist in meiner subjektiven Einschätzung weder (1) noch (2) erfüllt — es grenzt irgendwie schon fast an einen Okkasionalismus.
Ratzefummel klingt für mich nach Kindersprache. Eine nicht-repräsentative Umfrage unter meinem einzigen Facebook-Kontakt, der in der 10. Klasse derzeit noch die Schulbank drückt, hat das bestätigt: ‘Nein, in der Grundschule [vielleicht,] aber jetzt nicht mehr’ — immerhin kannte er es. Um die Überlebenschancen von Ratzefummel muss man sich aber keine Sorgen machen: die handvoll Belege aus dem Wortschatzportal der Uni Leipzig bezeichnen mit Ratzefummel sinnigerweise eine Art Papstgewand.
[ke hat meine Quelle kontrolliert und mich darauf aufmerksam gemacht, dass mit Ratzefummel in diesen Belegen immer noch ein Radiergummi gemeint ist, diesmal mit dem Konterfei des Papstes. Jetzt weiß ich gar nicht, ob ich mich für ne Schludrigkeit entschuldigen muss oder mich für die Erfindung der Bedeutungserweiterung ‘Papstgewand’ loben darf.]
Kriterien (1) und (2) erfüllen lediglich abermals, frohlocken, Ingrimm, Labsal, poussieren und töricht. Aber bevor wir beklagen, dass zum Beispiel abermals vom Aussterben bedroht ist: das Wort ist einfach noch viel zu häufig, um von niemandem mehr verwendet oder gar verstanden zu werden.
Natürlich sind die vorgeschlagenen Wörter alle sehr unterschiedlich frequent und damit schon potentiell unterschiedlich ‘bedroht’. Und natürlich bewegen wir uns bereits weit unterm Promillebereich, wo niedrigfrequente Lexeme auch mal schnell weg vom Fenster sind (womit aber die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir sie gar nicht vermissen werden). Im Großen und Ganzen: ganz so düster ist es halt nicht mit diesen Kandidaten — im Gegenteil: der überwiegende Anteil dieser Liste bedrohter Wörter erfreut sich innerhalb seines Frequenzbereichs bester Gesundheit.
Und falls doch nicht: Ohne Ingrimm lässt es sich leichter leben.
PS: Die BILD-Zeitung listet “die zehn längsten deutschen Wörter” (Link können Sie derzeit vermutlich noch googeln):
- Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung
- Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz
- Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft
- Gleichgewichtsdichtegradientenzentrifugation
- Elektrizitätswirtschaftsorganisationsgesetz
- Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
- Hochleistungsflüssigkeitschromatographie
- Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus
- Telekommunikationsüberwachungsverordnung
- Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz
Diese sollen “in mindestens vier Texten belegt” sein. Ja, die meisten vermutlich hier, hier, hier und hier.
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*Danke an Dierk Haasis für die Lösung eines logischen Fehlers in der Bedinungsbedingung.
**Was das hochfrequente dort dort (oder hier?) zu suchen hat, entzieht sich meinem Interpretationshorizont. Begründet wird es derweil mit einer Art Deixis-Problem:
“Vorsicht auf der A5 zwischen Freiburg-Süd und Freiburg-Mitte. Hier kommt Ihnen einen Falschfahrer entgegen”. “Hier?” Sätze wie diesen sagt der Mann im Radio fast jeden Tag. Richtig sind sie dennoch nicht. Die Sache mit dem Falschfahrer mag stimmen, die Sache mit dem “Hier” aber nicht. Dass auch durchaus begnadete Reportagenschreiber das Wörtchen “hier” zunehmend falsch einsetzen, macht es nicht besser. “Hier” ist stets da, wo sich Hörer oder Leser gerade aufhalten. Am Frühstückstisch, im Bett oder sonst wo. Aber nicht zwingend auf der A5 zwischen Freiburg-Mitte und Freiburg-Süd.
Ja, aber die HörerInnen, die vom Geisterfahrer potentiell betroffen sind, gehören eben auch zu den HörerInnen. So einfach ist das. Und möglicherweise gibt es einen psychologischen Vorteil, so eine Art Signalwirkung, dass hier gegenüber einem dort besser vor der Gefahr warnt, weil man mit hier seine unmittelbare Umgebung assoziiert. Wer weiß.