Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat eine sehr gemischte Nachvollziehbarkeitsbilanz, wenn es um das Wort des Jahres geht. Die Kriterien, die ein Wort zu einem Anwärter um diesen Titel machen, beschreibt die Gesellschaft so:
Ausgewählt werden Wörter und Ausdrücke, die die öffentliche Diskussion des betreffenden Jahres besonders bestimmt haben, die für wichtige Themen stehen oder sonst als charakteristisch erscheinen („verbale Leitfossilien“ eines Jahres). Es geht nicht um Worthäufigkeiten. Auch ist mit der Auswahl keine Wertung bzw. Empfehlung verbunden. [Webseite der GfdS]
Um Wort des Jahres zu werden, soll ein Wort also einerseits im laufenden Jahr „wichtig“ und „charakteristisch“ gewesen sein, gar die „öffentliche Diskussion … besonders bestimmt haben“, auf der anderen Seite muss es aber nicht besonders häufig gewesen sein.
Ein analytisch denkender Mensch könnte da einen gewissen Widerspruch erkennen, und dieser Widerspruch würde auch erklären, warum die Wörter des Jahres von milde interessant (Teuro [2002], Stresstest [2011], Hartz IV [2004]) über milde trivial (Finanzkrise [2008], Klimakatastrophe [2007]) bis mildes Kopfschütteln auslösend (Wutbürger [2010], Das alte Europa [2003]) reichen.
Aber, und ich will da gar nicht lange um den heißen Brei herumreden, selbst bei einer an dieses Wörterwirrwar angepassten Erwartungshaltung kann ich das Gefühl, das mich beim diesjährigen Siegerwort erfasst, nur als „nicht einmal fassungslos“ bezeichnen. Die Jury selbst scheint zu ahnen, dass sie da eine merkwürdige Wahl getroffen hat, denn auch in der Pressemitteilung wiederholt sie noch einmal, dass „[n]icht die Häufigkeit eines Ausdrucks“ entscheidend sei, sondern „seine Signifikanz bzw. Popularität“.
So, wie beim Wort Rettungsroutine, halt:
Dieses Wort spiegelt nicht nur das schon seit einigen Jahren dauerhaft aktuelle Thema der instabilen europäischen Wirtschaftslage wider, sondern beschreibt zudem die zahlreichen und wiederkehrenden Maßnahmen, die bisher zur Stabilisierung unternommen wurden. Sprachlich interessant ist die widersprüchliche Bedeutung der beiden Wortbestandteile: Während eine Rettung im eigentlichen Sinn eine akute, initiative, aber abgeschlossene Handlung darstellt, beinhaltet Routine – als Lehnwort aus dem Französischen – eine wiederkehrende, wenn nicht gar auf Dauer angelegte und auf Erfahrungen basierende Entwicklung.
Ich meine, es ist ja das gute Recht der Jury, sich nicht an Vorkommenshäufigkeiten zu binden, aber.
Aber.
Ein Wort, das im Deutschen Referenzkorpus des Instituts für Deutsche Sprache genau einen Treffer hat? Und das in der Schweizer Tageszeitung St. Galler Tagblatt? Aus dem Jahr 2001? In einem Zusammenhang, der so gar nichts mit der Bedeutung zu tun hat, mit der die Gesellschaft das Wort versieht? Nämlich:
Ist der Zusammenstoss unvermeidlich, könnte eine Früherkennung zumindest das Verletzungsrisiko der Passagiere mindern. Denn heute starten Sicherheitssysteme wie Airbag oder Gurtstraffer ihre Rettungsroutine erst, wenn sich die Kontrahenten tatsächlich berühren und die Sensorik eine bedrohliche Situation erkannt hat. [St. Galler Tagblatt, Das sehende Auto, 9.11.2001]
Ein Wort, das selbst der Spiegel im gemeinsamen Archiv von Print und Online nur ein einziges Mal findet? Und zwar ebenfalls in einem Zusammenhang, der keinen Bezug zu Wirtschaft und Stabilisierung hat? Nämlich:
1614 Einsätze fuhren die Nothelfer letztes Jahr, retteten dabei 1933 Menschen, holten verletzte Maschinisten von Frachtern und klaubten im Sturm Männer von Bohrinseln. … Häufig findet die Rettungsroutine im tückischen Brandungsbereich statt, bei hohen Grundseen und mit nur wenigen Metern Wasser unter dem Kiel. [Der Spiegel, Sie rauschen weiter, bis es böse knallt, 15.9.1975]
Ein Wort, für das sich nur mit Mühe überhaupt relevante Treffer finden lassen, die nicht mit der Wörterwahl selbst zusammenhängen? Ein Wort, das hauptsächlich in einem einsamen Zitat des CDU-Politikers Wolfgang Bosbach überliefert ist? Nämlich:
Bosbach hat schon mehrfach gegen Rettungsmaßnahmen gestimmt. Dennoch rechnet er mit einer klaren eigenen Mehrheit der Koalition im Parlament: „Alleine der Umstand, dass die EFSF noch einige Jahre parallel läuft zum ESM, wird nicht dazu führen, dass die Regierung keine eigene Mehrheit bekommt“, sagte er. Bosbach beklagte „eine Art Rettungsroutine“, die sich bei den Euro-Hilfen eingestellt habe. [dpa, zit. laut. Wirtschaftswoche, 28.3.2012]
Einem Zitat, das, wie die dpa in ihrer Meldung feststellt, die einzige Fundstelle ist, die sie für das Wort in den „470 000 Artikeln, die alle deutschsprachigen Dienste der Nachrichtenagentur dpa dieses Jahr bis zum Donnerstag verbreiteten“ finden kann?
Wenn dieses Wort „populär“ und „signifikant“ ist, dann mehr so im Stillen und gut versteckt vor der deutschen Sprachgemeinschaft. Wenn es „öffentliche Diskussion des betreffenden Jahres besonders bestimmt“ hat, dann muss das unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen sein. Wenn es „charakteristisch“ ist, dann in dem Sinne, in dem Delphine charakteristisch für die Sahara sind.
Das ist kein „verbales Leitfossil“, das ist eine verbale Zufallsmutation, die es kaum aus der Mundhöhle heraus geschafft hat, in der sie geschlüpft ist. Wenn es den Wettbewerb „Das bedrohte Wort“ noch gäbe, man würde aufgeregt herbeieilen, denn ein derart seltenes Wort hat man selbst dort mit viel Mühe nie finden können.
Um ein Wort zu finden, das es noch weniger verdient, Wort des Jahres zu werden, wird die Gesellschaft für deutsche Sprache den Sieger im nächsten Jahr gleich selbst erfinden müssen. Vielleicht Wörterwahlfälschung. Oder Signifikanzverbot. Oder Populärm (wie in Viel Populärm um Nichts).