Von Beamten und Beamtinnen

Von Anatol Stefanowitsch

Die neue Straßen­verkehrsor­d­nung ist ja in den let­zten Tagen wegen ihrer geschlechterg­erecht­en Sprache von den üblichen Verdächti­gen inten­siv kri­tisiert wor­den. Eine Ver­linkung auf die Kri­tiken ers­pare ich Ihnen und ver­linke stattdessen auf die aus­führliche sach­liche Diskus­sion des Lexiko­grafieblogs. Wie dort, und auch in der hier am Fre­itag disku­tierten Pressemel­dung des Auto Club Europa ange­merkt wird, sind bei der Anpas­sung vere­inzelt Wörter im Maskulinum ste­henge­blieben. In eini­gen Fällen, die das Lexiko­grafieblog auflis­tet, scheint das reine Nach­läs­sigkeit zu sein, da die betr­e­f­fend­en Wörter an anderen Stellen durch geschlecht­sneu­trale For­mulierun­gen erset­zt wur­den, doch bei einem Wort liegt das Prob­lem möglicher­weise tiefer. In Para­graf 36, Abs. 1 der StVO heißt es nach wie vor: Weit­er­lesen

Aprilscherz 2013: Auflösung

Von Anatol Stefanowitsch

Und hier die Auflö­sung des diesjähri­gen Aprilscherzes:

Nom­i­na­tiv, Dativ, Akkusativ und Gen­i­tiv — Deutschler­nen­den fall­en oft schon diese vier Fälle schw­er. Die Sprecher/innen ein­er Sprache in Aus­tralien kön­nen darüber nur müde lächeln: Sie haben gle­ich zwanzig ver­schiedene Fälle!

Diese Sprache gibt es tat­säch­lich: Kayardild, gesprochen in Queens­land in Austal­ien. Oder bess­er: es gibt sie noch, denn mit nur 23 Sprecher/innen, die alle nicht mehr ganz jung sind, wird sie schon in weni­gen Jahren für immer ver­schwun­den sein. Zwanzig Fälle sind auch gar nicht so exo­tisch, wie es vielle­icht klingt: Auch in Europa gibt es mit den finno-ugrischen Sprachen eine äußerst kasusver­liebte Sprach­fam­i­lie, deren Mit­glieder sich alle in etwa in diesem Bere­ich bewe­gen. Dabei ist es in dieser Sprach­fam­i­lie nicht ganz ein­fach, die genaue Zahl der Fälle zu bes­tim­men, denn Kasusendun­gen unter­schei­den sich dort for­mal kaum bis gar nicht von dem, was bei uns Prä­po­si­tio­nen (wie inunterzwis­chen) sind: Diese Sprachen haben näm­lich keine Prä- son­dern Post­po­si­tio­nen, die, wie ihr Name ver­muten lässt, hin­ter dem Wort ste­hen, auf das sie sich beziehen — also da, wo auch Kasusendun­gen ste­hen. Das führt dazu, dass z.B. die Zahl der Fälle im Ungarischen manch­mal mit null, manch­mal sog­ar mit über 30 angegeben wird (eine lin­guis­tisch halb­wegs fundierte Analyse würde von ca. 21 ausgehen).

Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart, Zukun­ft — mehr braucht ein Tem­pussys­tem doch nun wirk­lich nicht, oder? Doch, find­en die Sprecher/innen ein­er Sprache in Afri­ka: Sie haben gle­ich fünf Ver­gan­gen­heits­for­men, eine Gegen­warts­form und fünf Zukunftsformen!

Auch diese Sprache gibt es: Es ist das Bamileke-Dschang oder Yem­ba, gesprochen im Süd­west­en von Kamerun. Mit über 300 000 Sprecher/innen wird uns diese Sprache mit ihrem faszinieren­den Tem­pussys­tem auf abse­hbare Zeit erhal­ten bleiben. Dass die Zahl von fünf Ver­gan­gen­heits- und fünf Zukun­fts­for­men vie­len Sprachlogleser/innen in den Kom­mentaren und gestern auf Twit­ter nicht ungewöhn­lich vorkam, liegt übri­gens an einem Missver­ständ­nis dessen, was eine Tem­pus­form ist: Das Franzö­sis­che, z.B. hat laut der deutschen Wikipedia sechs Ver­gan­gen­heits­for­men — das Passé Com­pose, das Impar­fait, das Plus-que-Par­fait, das Passé Sim­ple, das Passé Anterieur und das Passé Récent. Tat­säch­lich hat es aber nur eine (oder max­i­mal zwei): Das Passé, für Ereignisse, die in der Ver­gan­gen­heit geschehen sind (und, wenn man es mitzählt, das Passé Récent für Ereignisse, die in der Ger­ade-erst-Ver­gan­gen­heit geschehen sind). Die übri­gen For­men ergeben sich (grob gesagt) daraus, dass das Passé mit anderen Bedeu­tun­gen kom­biniert wird, die in der Sprach­wis­senschaft als Aspekt oder Modal­ität beze­ich­net wer­den. Im Bamile-Dschang gibt es aber tat­säch­lich fünf ver­schiedene Ver­gan­gen­heits- und Zukun­fts­for­men, die fünf ver­schiedene Grade von Ver­gan­gen­heit und Zukün­ftigkeit ausdrücken.

Sin­gu­lar und Plur­al — ein ele­gantes Numerus-Sys­tem, das völ­lig aus­re­icht, oder? Niemals, find­en die Sprecher/innen ein­er Sprache in Asien: Ihr Numerus-Sys­tem unter­schei­det zwölf ver­schiedene Numera.

Obwohl nichts dage­gen spräche, für Men­gen von eins bis elf jew­eils eigene For­men zu haben, und erst ab zwölf in einen all­ge­meinen Plur­al zu wech­seln — diese Sprache gibt es nicht. Die Sprache mit der größten bekan­nten Zahl an Numerus-Unter­schei­dun­gen ist das Sur­su­run­ga, gesprochen in Papua-Neuguinea, mit immer­hin 5 Numeri: einem Sin­gu­lar (für genau eins), einem Dual (für genau zwei), einem Tri­al (für eine kleine Menge, aber min­destens drei), einem Quadral (für eine etwas größere Menge, aber min­destens vier), und einem Plur­al. Mit ca. 3000 Sprecher/innen ist das kurzfristige Über­leben dieser Sprache nicht in Gefahr, aber ob sie das 21. Jahrhun­dert über­dauern wird, muss bezweifelt werden.

Maskulinum, Fem­i­ninum, Neu­trum — das reicht doch, um jedem Sub­stan­tiv ein Genus zu geben, oder? Nein, find­en die Sprecher/innen ein­er Sprache in Afri­ka: Sie teilen ihre Sub­stan­tive in ein­undzwanzig ver­schiedene Gen­era ein!

Da der Aprilscherz ja bei den Numera ver­steckt war, gibt es natür­lich auch diese Sprache: es ist Ful­fulde oder Fula, gesprochen in Nige­ria. Mit etwa 12 Mil­lio­nen Sprecher/innen die Sprache in der diesjähri­gen Aus­gabe des Sprachlog-Aprilscherzes, um die wir uns am wenig­sten Sor­gen machen müssen. Das Ful­fulde gehört zu den Niger-Kon­go-Sprachen, die für ihre umfan­gre­ichen Genus- (bzw. Nominalklassen-)Systeme bekan­nt sind — auch die Ban­tu-Sprachen, wie z.B. Swahili, gehören in diese Groß­fam­i­lie. Allerd­ings ist das Ful­fulde auch in dieser Groß­fam­i­lie ein Spitzen­re­it­er: Die Menge der Nom­i­nalk­lassen der Ban­tu-Sprachen wird häu­fig mit ca. 18–20 angegeben, wobei aber berück­sichtigt wer­den muss, dass in der Ban­tu­is­tik Sin­gu­lar und Plur­al jew­eils als eigene Klasse gezählt wer­den. Täte man das auch beim Ful­fude, hätte es die dop­pelte Menge, also min­destens 42 Nom­i­nalk­lassen oder Genera!

Im Laufe dieses Jahrhun­derts kön­nten bis zu 90 Prozent aller derzeit gesproch­enen Sprachen ausster­ben. Die Gesellschaft für bedro­hte Sprachen bemüht sich, diese Sprachen zu doku­men­tieren und kann Ihre Spenden gebrauchen!

April, April (2013 Edition)

Von Anatol Stefanowitsch

Da Aprilscherze am ersten April auch in Blogs nicht uner­wartet kom­men, gibt es im Sprachlog schon lange die Tra­di­tion, an diesem Tag vier schein­bare Aprilscherze zum The­ma „Sprache“ zu präsen­tieren, von denen drei aber tat­säch­lich die reine Wahrheit sind. So natür­lich auch dieses Jahr. Wer erken­nt den Aprilscherz unter diesen vier unglaub­würdi­gen Behaup­tun­gen? Um das Googeln zu erschw­eren, ver­rate ich die Namen der betr­e­f­fend­en Sprachen erst in der Auflö­sung, die mor­gen Nach­mit­tag erscheint. Und natür­lich wer­den Ihre Kom­mentare mit den Antworten bis dahin nicht freigeschal­tet! Weit­er­lesen

Blogspektrogramm 13/2013

Von Sprachlog

Das Sprachlog wün­scht aller­seits fro­he weiße Ostern und eine glück­liche Zei­tum­stel­lung! Auch heute müssen Sie aber nicht lange nach den Links der Woche suchen, in denen es unter anderem um Oster­wörter, neue geis­teswis­senschaftliche Forschungsrich­tun­gen und die StVO geht:

Sprachbrocken 13/2013

Von Anatol Stefanowitsch

Bun­desverkehrsmin­is­ter Peter Ram­sauer gerierte sich stets als Beschützer der deutschen Sprache vor dem verderblichen Ein­fluss des Englis­chen und ern­tete dafür aus sprach­nörgeli­gen Kreisen viel Lob. In Erin­nerung bleiben wird der denen jet­zt aber wohl (ver­mut­lich gän­zlich unver­di­en­ter Weise) als ihr Zer­stör­er, als jemand, der sich vom Tugend­furor der poli­tisch Kor­rek­ten dazu treiben lassen hat, die Straßen­verkehrsor­d­nung nicht nur um einige saftige (aber abso­lut angemessene) Erhöhun­gen von Bußgeldern, son­dern auch ein Bemühen um geschlechterg­erechte Sprache ergänzt zu haben. Zu Fuß gehende statt Fußgänger und Fahrzeugführende statt Fahrzeugführer heißt es dort nun. Das dürfte vie­len nur ein Schul­terzuck­en wert sein, eini­gen von uns vielle­icht ein anerken­nen­des Nick­en angesichts der sprach­lich gut gemacht­en Über­ar­beitung. Aber für den Verkehrsrecht­sex­perten des AUTO CLUB EUROPA, einen Volk­er Lempp, ist es ein Quell „unfrei­williger Komik“, der nur einem „Stu­di­en­ab­brech­er im Fach Ger­man­is­tik“ zu ver­danken sein kann. Was genau er an der gerecht­en Sprache so komisch find­et, und warum er sein feines Sprachge­fühl nicht lieber dem Dep­pen­leerze­ichen im Namen des Vere­ins wid­met, für den er arbeit­et, ver­schweigt er uns dabei. Nur, dass die Polizeibeamten in der StVO immer noch ganz maskulin Polizeibeamte heißen, lässt ihn — inner­lich männlich gluck­send — nach Alice Schwarz­er schreien. Und wem bei Geschlechterg­erechtigkeit nur Alice Schwarz­er ein­fällt, der ist als Verkehrsrecht­sex­perte bei einem Verkehrsvere­in ja auch ganz gut aufge­hoben. Weit­er­lesen

Blogspektrogramm 12/2013

Von Sprachlog

Kaf­fee gekocht? Wärm­flasche an den Füßen? Der Kamin knis­tert? Für den richti­gen Start in einen gemütlichen Son­ntag zu Hause unsere Auswahl an lesenswerten Artikeln — heute mit neuen Wörtern, ger­ade gebraucht­en Wörtern, ver­schleiern­den Wörtern, gaaaaanz vie­len Wörtern und: Delfinen.

  • Unser Autor Ana­tol Ste­fanow­itsch ist auf EPHEMERA unter die Sprachgueril­la gegan­gen — falls Sie Ihren Wortschatz um gute grä­co­lateinis­che Wort­bil­dung­spro­duk­te erweit­ern wollen, kom­men Ihnen vielle­icht der Aver­tismus, die Par­i­to­pho­bie und die Oppres­so­manie grade gelegen.
  • AdJ-Jurymit­glied Kil­ian Evang leis­tet Nominierung­shil­fe für die „Unwort des Jahres“-Wahl und schlägt Tugend­furor vor.
  • Schon etwas älter (von 2011), aber unter­halt­sam stellen Erez Lieber­man Aiden und Jean-Michel Bap­tiste GoogleN­Grams in einem TED-TALK vor (Englisch, mit deutschen Untertiteln).
  • In Sara­so­ta in Flori­da hat man die Rufe von Delfinen unter­sucht — und kommt zu dem Schluss, dass diese sich in Sozialver­bän­den mit „Namen“ rufen. Der SPIEGEL berichtet und ver­linkt zu ein­er Mel­dung des Lokalsenders CHANNEL 8 (Englisch, mit Video).
  • Wer für die EU-Finanzkrise noch Euphemis­men sucht, wird bei NEUSPRECH fündig — heute: Banken­ab­gabe (mit Querver­weisen zur Erweiterung Ihres Euphemismuswortschatzes).

Sprachbrocken 12/2013

Von Anatol Stefanowitsch

Von ein­er Zeitschrift, die nach einem mächti­gen weißen Mann benan­nt ist, erwarten wir, dass sie die Befind­lichkeit­en mächtiger weißer Män­ner ver­tritt, und der CICERO erfüllt diese Erwartun­gen immer wieder in vor­bildlich­ster Weise. Im April hat man(n) sog­ar das Titelthe­ma ganz der Unter­drück­ung mächtiger weißer Män­ner gewid­met. Und der grausamen Mech­a­nis­men, mit­tels der­er sie unter­drückt wer­den – dem „Veg­gie Day“, zum Beispiel, der den Fleis­chess­er im Manne unter­drückt, in dem ihm vorgeschla­gen wird, an einem Tag in der Woche auf Fleisch zu verzicht­en. Oder Uni­sex-Toi­let­ten, die den het­ero­sex­uellen, cis-gegen­derten Mann im Manne unter­drück­en, indem sie ein­fach nur da sind. Aber das grausam­ste Unter­drück­ungswerkzeug von allen ist natür­lich die Sprache, die den Ver­bal­lib­ertären im Manne zu „schrill­sten PC-Blüten“ – wo habe ich nur kür­zlich schon ein­mal das Wort „schrill“ gele­sen? – zwingt. Bei den Bele­gen für diese schrillen PC-Blüten ver­mis­cht man(n) munter wün­schenswerte, aber nicht-exis­tente Beispiele gerechter Sprache wie Bürg­er­meis­terIn­nenkan­di­datIn (350 Google-Tre­f­fer, alle­samt auf Seit­en, die sich über „Polit­i­cal Cor­rect­ness“ beöm­meln) mit mächtigeweißemän­ner­hu­mori­gen Pseudobeispie­len gerechter Sprache wie Max­i­malpig­men­tierte. Außer­dem wird viel gejam­mert. Weit­er­lesen

Donnerstagsrätsel (3)

Von Kristin Kopf

Im Märzrät­sel geht es um Büch­er und Filme — natür­lich mit Lin­guis­tikzusam­men­hang. Wie immer kann in den Kom­mentaren bis Anfang näch­ster Woche drau­flos­ger­at­en wer­den. Viel Spaß!

1.

Wom­it quält sich ein gewiss­er Dok­tor Murke in ein­er nach ihm benan­nten Erzäh­lung herum?

a) mit Mehrsprachigkeit b) mit Kasus­mor­pholo­gie c) mit Pro­to­type­nse­man­tik d) mit gen­er­a­tiv­er Syntax

2.

Für welche/n der fol­gen­den Filme/Serien wurde nicht eigens eine Sprache entwickelt?

a) Game of Thrones b) Avatar c) Herr der Ringe d) Star Trek

3.

In welchem dieser lit­er­arischen Werke kommt kein/e Linguist/in vor?

a) Pyg­malion (Shaw) b) Perl­manns Schweigen (Merci­er) c) Dou­ble Neg­a­tive (Car­keet) d) Edu­cat­ing Rita (Rus­sell)

4.

In welchem der fol­gen­den Büch­er begleit­et der Erzäh­ler eine Expe­di­tion des Lin­guis­tis­chen Som­merin­sti­tuts (SIL) in den südamerikanis­chen Regenwald?

a) Die Stadt der wilden Göt­ter (Allende) b) Am Rio de la Pla­ta (May) c) Laub­sturm (Gar­cía Márquez) d) Der Geschicht­en­erzäh­ler (Var­gas Llosa)

Habt Ihr noch Hin­weise auf weit­ere Büch­er und Filme, in denen Lin­guis­tik eine Rolle spielt? Gerne her damit!

Ver­gan­gene Donnerstagsrätsel:

[Edit: Hier geht es nun zur Lösung!]

 

Blogspektrogramm 11/2013

Von Sprachlog

Das elfte Blogspek­tro­gramm des Jahres ist ganz beson­ders etwas für Lieb­haberIn­nen des Englis­chen: Wer braucht ein e in Whisk(e)y? Welche Trends zeich­nen sich in der Welt der Onlinewörter­büch­er ab? Und was hat das Oxford-Kom­ma mit Gefühlen zu tun?

  • Während in Rom gewählt wurde, fragten sich sicher­lich einige, warum es das Kon­klave heißt und nicht die. Dr. Bopp hat geant­wortet. (Wir wur­den auch gefragt.)
  • Offiziell sind Whisky und Whiskey nicht das­selbe — was aber der Unter­schied ist, daran schei­den sich Wörter­büch­er und Sprachen. Das hat Michael Mann im LEXIKOGRAPHIEBLOG mit inter­es­san­ten Ergeb­nis­sen analysiert.
  • Der CHRONICLE OF HIGHER EDUCATION (Englisch) beschreibt span­nende Phänomene aus dem Bere­ich von Onlinewörter­büch­er — zum Beispiel wie die Benutzung auf die Wörter­büch­er selb­st zurück­wirken kann und wie sie wichtige Ereignisse wider­spiegelt. (Via Lexiko­gra­phieblog)
  • Anne Curzan schreibt, eben­falls im CHE, zu Kom­ma­ta, Orthografie(,) und Stan­dar­d­isierung — inspiri­ert von ein­er Studieren­den­frage nach ihrer Ein­stel­lung zum sogen­nan­ten Oxford-Kom­ma.
  • Im NEW ZEALAND HERALD (Englisch) macht man sich Gedanken über die aus­geprägte Mehrsprachigkeit neuseeländis­ch­er Bürger/innen — und darüber, wie sie von staatlich­er Seite ignori­ert wird. (Via @livingtongues)
  • Manx, die Sprache der Isle of Man, galt offiziell als aus­gestor­ben — Grund­schulkinder haben aber ihre erstaunlichen Qual­itäten als Geheim­sprache ent­deckt, wie bei BBC NEWS (Englisch) zu sehen und hören ist. (Via Super­lin­guo)

Steile Kurven

Von Susanne Flach

Bei Streifzü­gen durch die MOOC-Welt, Sta­tis­tik­tu­to­ri­als auf YouTube oder kleinen Pro­gram­mierselb­sthil­fe­foren stoße ich in let­zter Zeit wieder­holt auf eine Wortwen­dung, die mich aber schon immer ver­wirrt hat: die steile Lernkurve oder vielmehr — da die meis­ten Onlin­eange­bote auf Englisch vorhan­den sind — die der steep learn­ing curve.

Denn ganz offen­sichtlich war­nen alle Dozieren­den davor, Kurse und Pro­gramme zu unter­schätzen: „It will be hard work, as R ini­tial­ly has a steep learn­ing curve“ (‚Es ist harte Arbeit, weil R am Anfang eine steile Lernkurve hat‘). Zu den emo­tionalen Hür­den beim Erler­nen ein­er Pro­gram­mier­sprache mach(t)e ich mir ja keine Illu­sio­nen. Was mich aber immer ver­wirrt hat, war der unklare Bezug des Adjek­tivs steil. Denn die vie­len, vie­len Ver­wen­dung von steep learn­ing curve sug­gerieren sofort, dass der Zeitaufwand (t) hoch, der Wis­sens­gewinn (w) aber anfangs frus­tri­erend ger­ing ist. Würde man das auf­malen wollen, wäre die War­nung in diesem Dia­gramm durch die grüne Lin­ie repräsentiert:

Abbil­dung 1: Steile (grün) und noch steilere (rot) Lernkur­ven
(eigene Zeich­nung).

Aber was soll an der grü­nen Lin­ie beson­ders steil sein, so zum Anfang? Zum Zeit­punkt (t) habe ich mir nur Wis­sen (w1) angeeignet. Steil ist dabei doch höch­stens die rote Lin­ie, die aber genau das Gegen­teil zeigt, näm­lich, dass man sich in kürz­er­er Zeit (t) rel­a­tiv viel Wis­sen (w2) aneignen kann. Wollen die mir mit dun­kler Wel­tun­ter­gangsstimme sagen, dass man mit wenig Zeit viel erre­icht? Dass man also vor ein­er Lernkurve warnt, weil sie schnellen Lern­er­folg verspricht?

Da stimmt doch was nicht.

Die erste logis­che Anlauf­stelle Wikipedia weiß Bescheid: dort spricht man von ein­er „akademis­chen“ Ver­wen­dung der Redewen­dung (Stoff­menge in Abhängigkeit von Zeit, rote Lin­ie) und einem umgangssprach­lichen Ver­ständ­nis, das der „akademisch als kor­rekt zu betra­ch­t­en­den Def­i­n­i­tion“ „diame­tral“ gegenüber ste­ht. Let­zteres entspricht zwar nicht ganz mein­er grünkurvig dargestell­ten Ver­wirrung, diese ist aber immer­hin diame­tral. ((Auf Wikipedia kor­re­liert man das Laien­ver­ständ­nis mit der soge­nan­nten Blender-Kurve, welche mit anderen Vari­ablen hantiert, die aber, drehte man die Achsen sin­nvoll um, in groben Kur­ven der grü­nen Lin­ie in Abbil­dung 1 entspräche.)) Ist das wirk­lich nur ein weit­eres Beispiel dafür, dass Fach- und all­ge­mein­er Sprachge­brauch nicht übere­in­stim­men, wenn auch ein beson­ders extremes?

Nein. Das Durch­forsten von Kor­po­ra und der Ver­such, learn­ing curve ein quan­ti­ta­tives Muster abzurin­gen, bringen’s ans Licht: hier wer­den Äpfel und Bir­nen als Orangen bezeichnet.

Zunächst: Die akademis­che Inter­pre­ta­tion ist zweifel­los die math­e­ma­tis­che Funk­tion w(t). Dass man von ein­er steilen Lernkurve spricht, liegt daran, dass wir das Mehr an Quan­tität (hier: Lern­er­folg) über die Zeit mit ein­er nach oben gerichteten Lin­ie mit großer ‚Stei­gung‘ illus­tri­eren. Man ken­nt diese Darstel­lung beispiel­sweise von Börsenkursen: Kurs­gewinne zeigen nach oben, Ver­luste nach unten. Solche Dia­gramm­for­men sind dabei let­z­tendlich reine Kon­ven­tion, weil man ja lediglich die math­e­ma­tis­che Abhängigkeit ein­er Vari­ablen von ein­er anderen abbildet — man kön­nte das Dia­gramm um 180° oder auch nur um 90° drehen, ohne Infor­ma­tion­s­ge­halt einzubüßen. Aber dass diese anschauliche Darstel­lung die intu­iti­vere Kon­ven­tion ist, liegt daran, dass unsere Wahrnehmung all­ge­mein von der konzeptuellen Meta­pher MEHR IST OBEN (MORE IS UP) geprägt ist, die auf Erfahrung mit unser­er Umwelt basiert: je höher der Stapel Klausuren auf meinem Schreibtisch, desto mehr habe ich zu tun. Deshalb nehmen wir diese Kur­ven als steil wahr, obwohl steil ja nur ihre Darstel­lung ist.

Der umgangssprach­lichen Ver­wen­dung für steile Lernkurve liegt eine ganz ähn­liche Moti­va­tion zugrunde, die gegenüber der hil­f­sweisen Darstel­lung der math­e­ma­tis­chen Funk­tion aber grundle­gend metapho­risch ist. Was meinen wir damit? Schauen wir zur Erk­lärung mal ein paar Beispiele aus dem Cor­pus of Con­tem­po­rary Amer­i­can Eng­lish (COCA) an:

Over­all, you’ll face a fair­ly steep learn­ing curve to mas­ter OpenOffice’s eccen­tric­i­ties, but you can’t beat the price.

[Ins­ge­samt haben Sie eine recht steile Lernkurve vor sich, um die Ver­schroben­heit­en von OpenOf­fice zu meis­tern, aber der Preis ist unschlagbar.]

Any­body who rides a moun­tain bike wants to do what we do, but there’s a real­ly steep learn­ing curve so they usu­al­ly end up just watch­ing,“ he says.

[„Jede/r, der/die ein Moun­tain­bike fährt, möchte machen, was wir machen, aber das hat eine wirk­lich steile Lernkurve, weshalb sie meis­tens nur zusehen.“]

sec­ond Life pro­vides an addi­tion­al way for stu­dents to explore class mate­r­i­al, but it doesn’t appeal to every­one.“ A steep learn­ing curve can also dis­cour­age stu­dents who are not high­ly moti­vat­ed to use SL, he says.

[„sec­ond Life stellt zusät­zliche Möglichkeit­en für Studierende bere­it, um das Kurs­ma­te­r­i­al zu erkun­den, aber das ist nicht für jede/n attrak­tiv.“ Eine steile Lernkurve kann Studierende zusät­zlich ent­muti­gen, die wenig motiviert sind, SL zu nutzen, sagt er.]

Nahezu alle Belege für learn­ing curve hauen in die gle­iche Kerbe:  Ler­nen ist müh­sam, aufwändig, anstren­gend, mitunter ent­muti­gend. Es über­rascht nicht, dass das Nomen learn­ing curve nur ein einziges sig­nifikantes Adjek­tivkol­lokat hat: steep. ((Für diese Erken­nt­nis haben Dat­en aus der Kol­loka­tions­daten­bank des British Nation­al Cor­pus (via BNCweb) herge­hal­ten. Span­nweit­en von 1;0 bis 5;5. Der Serv­er für COCA ist ger­ade unten, aber am Woch­enende hab ich mir von dort noch schwache Assozi­a­tio­nen zu effi­cient, upward, shal­low und sharp notiert.)) Umgekehrt mod­i­fiziert steep — das wird nie­man­den vom Hock­er hauen — über­wiegend  Nom­i­na der Erhöhung oder des Auf­stiegs wie hillclimbridgery, rise oder ascent. ((In der Kol­loka­tion­sliste ste­hen auch Begriffe der absteigen­den Rich­tung wie cliff, slope, decline oder descent.)) Wir assozi­ieren Ler­nen also mit einem Weg (nach oben) zur Erken­nt­nis. Eine andere Per­spek­tive auf die Beschw­er­lichkeit­skon­no­ta­tion für steep learn­ing curve ist, dass es häu­fig in Struk­turen auf­taucht, die mit dem Verb to face ‚gegenüber­ste­hen‘ ein­geleit­et wer­den. In solchen face-Kon­struk­tio­nen ste­hen in der Objek­t­po­si­tion wiederum sig­nifikant häu­fig chal­lenges, risks, prob­lems, obsta­cles, hard­ships, dilem­mas und prob­lems, also eher weniger spaßige Dinge.

Die neg­a­tive Per­spek­tive aufs Ler­nen ist auch in der Wikipedia-Def­i­n­i­tion erwäh­nt. Dort hat man ver­sucht, die math­e­ma­tis­che Def­i­n­i­tion als pos­i­tive, die Laien­ver­wen­dung als neg­a­tive Ein­stel­lung zu deuten. Das ist nicht ganz falsch (abge­se­hen davon, dass eine math­e­ma­tisch-quan­ti­ta­tive rel­a­tiv wenig mit ‚pos­i­tiv‘ oder ‚Ein­stel­lung‘ zu tun hat), aber eben eine ungün­stige Ver­mis­chung von Ebe­nen. Aber jet­zt — um auf die Äpfel und Orangen zurück zu kom­men — kön­nen wir die Laien­ver­wen­dung auf konzeptuellen Meta­phern zurück­führen, also auf die grundle­gende kog­ni­tiv­en Strate­gie, abstrak­te Dinge durch greif­bare, konkrete Din­gen zu konzep­tu­al­isieren. Eine bekan­nte und hier nahe­liegende, über­ge­ord­nete Meta­pher wäre DAS LEBEN IST EINE REISE (LIFE IS A JOURNEY). Und auf dieser Rei­he geht es auf dem WEG zur Erken­nt­nis eben auch mal müh­sam nach oben. Wen diese Idee inter­essiert, find­et in Lakoff & John­son (1980a, 1980b) eine äußert dankbare Lek­türe. Wer mehr so auf bunte Bild­chen steht:

Abbil­dung 2: Steile und flache Lernkur­ven
(eigene Zeich­nung, CC BY-NC-SA 3.0 DE)

Bei der steilen Lernkurve ste­ht nicht der Lern­er­folg an sich im Vorder­grund (oder dessen Quan­tifizierung), son­dern die Anstren­gung a: wenn ich auf dem grü­nen Pfad mit der flacheren Lernkurve unter­wegs bin, hab ich zum Zeit­punkt t (oder wahlweise zum Wis­sen­stand w) mit a1 weniger Anstren­gung hin­ter mir, als wenn ich die rote Route (steile Lernkurve) nehmen muss. Konkrete, physis­che Empfind­un­gen während ein­er anstren­gen­den Bergbestei­gung oder eines flauschi­gen Hügelspazier­gangs dienen uns dabei als Quelle zur Ver­bal­isierung abstrak­ter Emo­tio­nen während ein­er Lern­er­fahrung. Die Y‑Achse ist zur Verdeut­lichung einge­zo­gen: bei der WEG/REISE-Meta­pher spielt die Quan­tifizierung — und stre­it­bar­erweise sog­ar der Betrag des Wis­sen­stands — nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Was bei Lernkur­ven inter­essiert ist der Grin­seg­rad auf dem Weg zur Erken­nt­nis zum Zeit­punkt t.

Denn wenn ich heute sage, dass R für eine funk­tionale Tech­nikanal­pha­betin ne steile Lernkurve hat, sage ich doch über­haupt nichts darüber aus, ob die R‑o­nautin­nen-Aus­bil­dung quan­ti­ta­tiv bei mir gefruchtet hat oder nicht.

P.S.: Fürs Deutsche ist die Meta­phern­strate­gie der steilen Lernkurve ähn­lich, wenn auch quan­ti­ta­tiv offen­bar nicht so stark mess­bar. Als einzige sin­nvolle Kol­lokate spuckt COSMASII aus dem Deutschen Ref­eren­zko­r­pus (DeReKo) steil, flach und — öbach­tle! — PHP aus. Auch im DWDS sind sig­nifikante Verbindun­gen für Lernkurve mit lediglich schwachen Assozi­a­tio­nen zu steil eher mager (aber DWDS & DeReKo mit BNC & COCA ver­gle­ichen zu wollen, ist für diese Unter­suchung ohne­hin prob­lema­tisch). Das Wortschatz­por­tal der Uni­ver­sität Leipzig liefert als auf­fäl­lige Verbindung rechts von Lernkurve außer­dem vor sich, was auf die WEG-Meta­pher hin­weist (sie haben einen weit­en Weg vor sich). Der Ein­druck ist aber ein wenig, dass die Berg­steigemeta­pher im Deutschen schwäch­er aus­geprägt ist und bei Lernkurve häu­figer vom math­e­ma­tis­chen Konzept die Rede ist.

Lakoff, George & Mark John­son. 1980a [2003]. Metaphors we live by. Uni­ver­si­ty of Chica­go Press. [Auf Deutsch: Leben in Meta­phern: Kon­struk­tion und Gebrauch von Sprach­bildern. Carl Auer Verlag.]

Lakoff, George & Mark John­son. 1980b. Con­cep­tu­al metaphor in every­day lan­guage. Jour­nal of Phi­los­o­phy 77(8). 453–486. [Link]