Die neue Straßenverkehrsordnung ist ja in den letzten Tagen wegen ihrer geschlechtergerechten Sprache von den üblichen Verdächtigen intensiv kritisiert worden. Eine Verlinkung auf die Kritiken erspare ich Ihnen und verlinke stattdessen auf die ausführliche sachliche Diskussion des Lexikografieblogs. Wie dort, und auch in der hier am Freitag diskutierten Pressemeldung des Auto Club Europa angemerkt wird, sind bei der Anpassung vereinzelt Wörter im Maskulinum stehengeblieben. In einigen Fällen, die das Lexikografieblog auflistet, scheint das reine Nachlässigkeit zu sein, da die betreffenden Wörter an anderen Stellen durch geschlechtsneutrale Formulierungen ersetzt wurden, doch bei einem Wort liegt das Problem möglicherweise tiefer. In Paragraf 36, Abs. 1 der StVO heißt es nach wie vor: Weiterlesen
Aprilscherz 2013: Auflösung
Und hier die Auflösung des diesjährigen Aprilscherzes:
Nominativ, Dativ, Akkusativ und Genitiv — Deutschlernenden fallen oft schon diese vier Fälle schwer. Die Sprecher/innen einer Sprache in Australien können darüber nur müde lächeln: Sie haben gleich zwanzig verschiedene Fälle!
Diese Sprache gibt es tatsächlich: Kayardild, gesprochen in Queensland in Austalien. Oder besser: es gibt sie noch, denn mit nur 23 Sprecher/innen, die alle nicht mehr ganz jung sind, wird sie schon in wenigen Jahren für immer verschwunden sein. Zwanzig Fälle sind auch gar nicht so exotisch, wie es vielleicht klingt: Auch in Europa gibt es mit den finno-ugrischen Sprachen eine äußerst kasusverliebte Sprachfamilie, deren Mitglieder sich alle in etwa in diesem Bereich bewegen. Dabei ist es in dieser Sprachfamilie nicht ganz einfach, die genaue Zahl der Fälle zu bestimmen, denn Kasusendungen unterscheiden sich dort formal kaum bis gar nicht von dem, was bei uns Präpositionen (wie in, unter, zwischen) sind: Diese Sprachen haben nämlich keine Prä- sondern Postpositionen, die, wie ihr Name vermuten lässt, hinter dem Wort stehen, auf das sie sich beziehen — also da, wo auch Kasusendungen stehen. Das führt dazu, dass z.B. die Zahl der Fälle im Ungarischen manchmal mit null, manchmal sogar mit über 30 angegeben wird (eine linguistisch halbwegs fundierte Analyse würde von ca. 21 ausgehen).
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft — mehr braucht ein Tempussystem doch nun wirklich nicht, oder? Doch, finden die Sprecher/innen einer Sprache in Afrika: Sie haben gleich fünf Vergangenheitsformen, eine Gegenwartsform und fünf Zukunftsformen!
Auch diese Sprache gibt es: Es ist das Bamileke-Dschang oder Yemba, gesprochen im Südwesten von Kamerun. Mit über 300 000 Sprecher/innen wird uns diese Sprache mit ihrem faszinierenden Tempussystem auf absehbare Zeit erhalten bleiben. Dass die Zahl von fünf Vergangenheits- und fünf Zukunftsformen vielen Sprachlogleser/innen in den Kommentaren und gestern auf Twitter nicht ungewöhnlich vorkam, liegt übrigens an einem Missverständnis dessen, was eine Tempusform ist: Das Französische, z.B. hat laut der deutschen Wikipedia sechs Vergangenheitsformen — das Passé Compose, das Imparfait, das Plus-que-Parfait, das Passé Simple, das Passé Anterieur und das Passé Récent. Tatsächlich hat es aber nur eine (oder maximal zwei): Das Passé, für Ereignisse, die in der Vergangenheit geschehen sind (und, wenn man es mitzählt, das Passé Récent für Ereignisse, die in der Gerade-erst-Vergangenheit geschehen sind). Die übrigen Formen ergeben sich (grob gesagt) daraus, dass das Passé mit anderen Bedeutungen kombiniert wird, die in der Sprachwissenschaft als Aspekt oder Modalität bezeichnet werden. Im Bamile-Dschang gibt es aber tatsächlich fünf verschiedene Vergangenheits- und Zukunftsformen, die fünf verschiedene Grade von Vergangenheit und Zukünftigkeit ausdrücken.
Singular und Plural — ein elegantes Numerus-System, das völlig ausreicht, oder? Niemals, finden die Sprecher/innen einer Sprache in Asien: Ihr Numerus-System unterscheidet zwölf verschiedene Numera.
Obwohl nichts dagegen spräche, für Mengen von eins bis elf jeweils eigene Formen zu haben, und erst ab zwölf in einen allgemeinen Plural zu wechseln — diese Sprache gibt es nicht. Die Sprache mit der größten bekannten Zahl an Numerus-Unterscheidungen ist das Sursurunga, gesprochen in Papua-Neuguinea, mit immerhin 5 Numeri: einem Singular (für genau eins), einem Dual (für genau zwei), einem Trial (für eine kleine Menge, aber mindestens drei), einem Quadral (für eine etwas größere Menge, aber mindestens vier), und einem Plural. Mit ca. 3000 Sprecher/innen ist das kurzfristige Überleben dieser Sprache nicht in Gefahr, aber ob sie das 21. Jahrhundert überdauern wird, muss bezweifelt werden.
Maskulinum, Femininum, Neutrum — das reicht doch, um jedem Substantiv ein Genus zu geben, oder? Nein, finden die Sprecher/innen einer Sprache in Afrika: Sie teilen ihre Substantive in einundzwanzig verschiedene Genera ein!
Da der Aprilscherz ja bei den Numera versteckt war, gibt es natürlich auch diese Sprache: es ist Fulfulde oder Fula, gesprochen in Nigeria. Mit etwa 12 Millionen Sprecher/innen die Sprache in der diesjährigen Ausgabe des Sprachlog-Aprilscherzes, um die wir uns am wenigsten Sorgen machen müssen. Das Fulfulde gehört zu den Niger-Kongo-Sprachen, die für ihre umfangreichen Genus- (bzw. Nominalklassen-)Systeme bekannt sind — auch die Bantu-Sprachen, wie z.B. Swahili, gehören in diese Großfamilie. Allerdings ist das Fulfulde auch in dieser Großfamilie ein Spitzenreiter: Die Menge der Nominalklassen der Bantu-Sprachen wird häufig mit ca. 18–20 angegeben, wobei aber berücksichtigt werden muss, dass in der Bantuistik Singular und Plural jeweils als eigene Klasse gezählt werden. Täte man das auch beim Fulfude, hätte es die doppelte Menge, also mindestens 42 Nominalklassen oder Genera!
Im Laufe dieses Jahrhunderts könnten bis zu 90 Prozent aller derzeit gesprochenen Sprachen aussterben. Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen bemüht sich, diese Sprachen zu dokumentieren und kann Ihre Spenden gebrauchen!
April, April (2013 Edition)
Da Aprilscherze am ersten April auch in Blogs nicht unerwartet kommen, gibt es im Sprachlog schon lange die Tradition, an diesem Tag vier scheinbare Aprilscherze zum Thema „Sprache“ zu präsentieren, von denen drei aber tatsächlich die reine Wahrheit sind. So natürlich auch dieses Jahr. Wer erkennt den Aprilscherz unter diesen vier unglaubwürdigen Behauptungen? Um das Googeln zu erschweren, verrate ich die Namen der betreffenden Sprachen erst in der Auflösung, die morgen Nachmittag erscheint. Und natürlich werden Ihre Kommentare mit den Antworten bis dahin nicht freigeschaltet! Weiterlesen
Blogspektrogramm 13/2013
Das Sprachlog wünscht allerseits frohe weiße Ostern und eine glückliche Zeitumstellung! Auch heute müssen Sie aber nicht lange nach den Links der Woche suchen, in denen es unter anderem um Osterwörter, neue geisteswissenschaftliche Forschungsrichtungen und die StVO geht:
- Ganz zeitlos empfehlen wir einen Blick ins SPRACHLOG-Archiv, wenn es Sie interessiert, woher die Wörter Gründonnerstag, Karfreitag und Ostern stammen und wie die entsprechenden Tage in anderen Sprachen heißen.
- In der DEUTSCHLANDFUNK-Sendung Wörter, Kriege, Emotionen geht es um die Digitalisierung und Erforschung großer Textmengen in den sogenannten »Digital Humanities« — hörenswert! (Direktlink zur mp3)
- Michael Mann nimmt die nun größtenteils geschlechtergerecht formulierte Straßeverkehrsordnung (wir berichteten) im LEXIKOGRAPHIEBLOG genauer unter die Lupe.
- Ebenfalls dort hat er Differenzen zwischen Unternehmen und Wörterbuchredaktionen zusammengetragen — Anlass ist das schwedische ogooglebar ’nicht mit einer Suchmaschine auffindbar’, das Google nicht dulden wollte.
- TIME NEWSFEED (Englisch) analysiert sieben Schlagwörter aus der aktuellen Debatte zur gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA.
Sprachbrocken 13/2013
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer gerierte sich stets als Beschützer der deutschen Sprache vor dem verderblichen Einfluss des Englischen und erntete dafür aus sprachnörgeligen Kreisen viel Lob. In Erinnerung bleiben wird der denen jetzt aber wohl (vermutlich gänzlich unverdienter Weise) als ihr Zerstörer, als jemand, der sich vom Tugendfuror der politisch Korrekten dazu treiben lassen hat, die Straßenverkehrsordnung nicht nur um einige saftige (aber absolut angemessene) Erhöhungen von Bußgeldern, sondern auch ein Bemühen um geschlechtergerechte Sprache ergänzt zu haben. Zu Fuß gehende statt Fußgänger und Fahrzeugführende statt Fahrzeugführer heißt es dort nun. Das dürfte vielen nur ein Schulterzucken wert sein, einigen von uns vielleicht ein anerkennendes Nicken angesichts der sprachlich gut gemachten Überarbeitung. Aber für den Verkehrsrechtsexperten des AUTO CLUB EUROPA, einen Volker Lempp, ist es ein Quell „unfreiwilliger Komik“, der nur einem „Studienabbrecher im Fach Germanistik“ zu verdanken sein kann. Was genau er an der gerechten Sprache so komisch findet, und warum er sein feines Sprachgefühl nicht lieber dem Deppenleerzeichen im Namen des Vereins widmet, für den er arbeitet, verschweigt er uns dabei. Nur, dass die Polizeibeamten in der StVO immer noch ganz maskulin Polizeibeamte heißen, lässt ihn — innerlich männlich glucksend — nach Alice Schwarzer schreien. Und wem bei Geschlechtergerechtigkeit nur Alice Schwarzer einfällt, der ist als Verkehrsrechtsexperte bei einem Verkehrsverein ja auch ganz gut aufgehoben. Weiterlesen
Blogspektrogramm 12/2013
Kaffee gekocht? Wärmflasche an den Füßen? Der Kamin knistert? Für den richtigen Start in einen gemütlichen Sonntag zu Hause unsere Auswahl an lesenswerten Artikeln — heute mit neuen Wörtern, gerade gebrauchten Wörtern, verschleiernden Wörtern, gaaaaanz vielen Wörtern und: Delfinen.
- Unser Autor Anatol Stefanowitsch ist auf EPHEMERA unter die Sprachguerilla gegangen — falls Sie Ihren Wortschatz um gute gräcolateinische Wortbildungsprodukte erweitern wollen, kommen Ihnen vielleicht der Avertismus, die Paritophobie und die Oppressomanie grade gelegen.
- AdJ-Jurymitglied Kilian Evang leistet Nominierungshilfe für die „Unwort des Jahres“-Wahl und schlägt Tugendfuror vor.
- Schon etwas älter (von 2011), aber unterhaltsam stellen Erez Lieberman Aiden und Jean-Michel Baptiste GoogleNGrams in einem TED-TALK vor (Englisch, mit deutschen Untertiteln).
- In Sarasota in Florida hat man die Rufe von Delfinen untersucht — und kommt zu dem Schluss, dass diese sich in Sozialverbänden mit „Namen“ rufen. Der SPIEGEL berichtet und verlinkt zu einer Meldung des Lokalsenders CHANNEL 8 (Englisch, mit Video).
- Wer für die EU-Finanzkrise noch Euphemismen sucht, wird bei NEUSPRECH fündig — heute: Bankenabgabe (mit Querverweisen zur Erweiterung Ihres Euphemismuswortschatzes).
Sprachbrocken 12/2013
Von einer Zeitschrift, die nach einem mächtigen weißen Mann benannt ist, erwarten wir, dass sie die Befindlichkeiten mächtiger weißer Männer vertritt, und der CICERO erfüllt diese Erwartungen immer wieder in vorbildlichster Weise. Im April hat man(n) sogar das Titelthema ganz der Unterdrückung mächtiger weißer Männer gewidmet. Und der grausamen Mechanismen, mittels derer sie unterdrückt werden – dem „Veggie Day“, zum Beispiel, der den Fleischesser im Manne unterdrückt, in dem ihm vorgeschlagen wird, an einem Tag in der Woche auf Fleisch zu verzichten. Oder Unisex-Toiletten, die den heterosexuellen, cis-gegenderten Mann im Manne unterdrücken, indem sie einfach nur da sind. Aber das grausamste Unterdrückungswerkzeug von allen ist natürlich die Sprache, die den Verballibertären im Manne zu „schrillsten PC-Blüten“ – wo habe ich nur kürzlich schon einmal das Wort „schrill“ gelesen? – zwingt. Bei den Belegen für diese schrillen PC-Blüten vermischt man(n) munter wünschenswerte, aber nicht-existente Beispiele gerechter Sprache wie BürgermeisterInnenkandidatIn (350 Google-Treffer, allesamt auf Seiten, die sich über „Political Correctness“ beömmeln) mit mächtigeweißemännerhumorigen Pseudobeispielen gerechter Sprache wie Maximalpigmentierte. Außerdem wird viel gejammert. Weiterlesen
Donnerstagsrätsel (3)
Im Märzrätsel geht es um Bücher und Filme — natürlich mit Linguistikzusammenhang. Wie immer kann in den Kommentaren bis Anfang nächster Woche drauflosgeraten werden. Viel Spaß!
1.
Womit quält sich ein gewisser Doktor Murke in einer nach ihm benannten Erzählung herum?
a) mit Mehrsprachigkeit b) mit Kasusmorphologie c) mit Prototypensemantik d) mit generativer Syntax
2.
Für welche/n der folgenden Filme/Serien wurde nicht eigens eine Sprache entwickelt?
a) Game of Thrones b) Avatar c) Herr der Ringe d) Star Trek
3.
In welchem dieser literarischen Werke kommt kein/e Linguist/in vor?
a) Pygmalion (Shaw) b) Perlmanns Schweigen (Mercier) c) Double Negative (Carkeet) d) Educating Rita (Russell)
4.
In welchem der folgenden Bücher begleitet der Erzähler eine Expedition des Linguistischen Sommerinstituts (SIL) in den südamerikanischen Regenwald?
a) Die Stadt der wilden Götter (Allende) b) Am Rio de la Plata (May) c) Laubsturm (García Márquez) d) Der Geschichtenerzähler (Vargas Llosa)
Habt Ihr noch Hinweise auf weitere Bücher und Filme, in denen Linguistik eine Rolle spielt? Gerne her damit!
Vergangene Donnerstagsrätsel:
[Edit: Hier geht es nun zur Lösung!]
Blogspektrogramm 11/2013
Das elfte Blogspektrogramm des Jahres ist ganz besonders etwas für LiebhaberInnen des Englischen: Wer braucht ein e in Whisk(e)y? Welche Trends zeichnen sich in der Welt der Onlinewörterbücher ab? Und was hat das Oxford-Komma mit Gefühlen zu tun?
- Während in Rom gewählt wurde, fragten sich sicherlich einige, warum es das Konklave heißt und nicht die. Dr. Bopp hat geantwortet. (Wir wurden auch gefragt.)
- Offiziell sind Whisky und Whiskey nicht dasselbe — was aber der Unterschied ist, daran scheiden sich Wörterbücher und Sprachen. Das hat Michael Mann im LEXIKOGRAPHIEBLOG mit interessanten Ergebnissen analysiert.
- Der CHRONICLE OF HIGHER EDUCATION (Englisch) beschreibt spannende Phänomene aus dem Bereich von Onlinewörterbücher — zum Beispiel wie die Benutzung auf die Wörterbücher selbst zurückwirken kann und wie sie wichtige Ereignisse widerspiegelt. (Via Lexikographieblog)
- Anne Curzan schreibt, ebenfalls im CHE, zu Kommata, Orthografie(,) und Standardisierung — inspiriert von einer Studierendenfrage nach ihrer Einstellung zum sogennanten Oxford-Komma.
- Im NEW ZEALAND HERALD (Englisch) macht man sich Gedanken über die ausgeprägte Mehrsprachigkeit neuseeländischer Bürger/innen — und darüber, wie sie von staatlicher Seite ignoriert wird. (Via @livingtongues)
- Manx, die Sprache der Isle of Man, galt offiziell als ausgestorben — Grundschulkinder haben aber ihre erstaunlichen Qualitäten als Geheimsprache entdeckt, wie bei BBC NEWS (Englisch) zu sehen und hören ist. (Via Superlinguo)
Steile Kurven
Bei Streifzügen durch die MOOC-Welt, Statistiktutorials auf YouTube oder kleinen Programmierselbsthilfeforen stoße ich in letzter Zeit wiederholt auf eine Wortwendung, die mich aber schon immer verwirrt hat: die steile Lernkurve oder vielmehr — da die meisten Onlineangebote auf Englisch vorhanden sind — die der steep learning curve.
Denn ganz offensichtlich warnen alle Dozierenden davor, Kurse und Programme zu unterschätzen: „It will be hard work, as R initially has a steep learning curve“ (‚Es ist harte Arbeit, weil R am Anfang eine steile Lernkurve hat‘). Zu den emotionalen Hürden beim Erlernen einer Programmiersprache mach(t)e ich mir ja keine Illusionen. Was mich aber immer verwirrt hat, war der unklare Bezug des Adjektivs steil. Denn die vielen, vielen Verwendung von steep learning curve suggerieren sofort, dass der Zeitaufwand (t) hoch, der Wissensgewinn (w) aber anfangs frustrierend gering ist. Würde man das aufmalen wollen, wäre die Warnung in diesem Diagramm durch die grüne Linie repräsentiert:
Aber was soll an der grünen Linie besonders steil sein, so zum Anfang? Zum Zeitpunkt (t) habe ich mir nur Wissen (w1) angeeignet. Steil ist dabei doch höchstens die rote Linie, die aber genau das Gegenteil zeigt, nämlich, dass man sich in kürzerer Zeit (t) relativ viel Wissen (w2) aneignen kann. Wollen die mir mit dunkler Weltuntergangsstimme sagen, dass man mit wenig Zeit viel erreicht? Dass man also vor einer Lernkurve warnt, weil sie schnellen Lernerfolg verspricht?
Da stimmt doch was nicht.
Die erste logische Anlaufstelle Wikipedia weiß Bescheid: dort spricht man von einer „akademischen“ Verwendung der Redewendung (Stoffmenge in Abhängigkeit von Zeit, rote Linie) und einem umgangssprachlichen Verständnis, das der „akademisch als korrekt zu betrachtenden Definition“ „diametral“ gegenüber steht. Letzteres entspricht zwar nicht ganz meiner grünkurvig dargestellten Verwirrung, diese ist aber immerhin diametral. ((Auf Wikipedia korreliert man das Laienverständnis mit der sogenannten Blender-Kurve, welche mit anderen Variablen hantiert, die aber, drehte man die Achsen sinnvoll um, in groben Kurven der grünen Linie in Abbildung 1 entspräche.)) Ist das wirklich nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Fach- und allgemeiner Sprachgebrauch nicht übereinstimmen, wenn auch ein besonders extremes?
Nein. Das Durchforsten von Korpora und der Versuch, learning curve ein quantitatives Muster abzuringen, bringen’s ans Licht: hier werden Äpfel und Birnen als Orangen bezeichnet.
Zunächst: Die akademische Interpretation ist zweifellos die mathematische Funktion w(t). Dass man von einer steilen Lernkurve spricht, liegt daran, dass wir das Mehr an Quantität (hier: Lernerfolg) über die Zeit mit einer nach oben gerichteten Linie mit großer ‚Steigung‘ illustrieren. Man kennt diese Darstellung beispielsweise von Börsenkursen: Kursgewinne zeigen nach oben, Verluste nach unten. Solche Diagrammformen sind dabei letztendlich reine Konvention, weil man ja lediglich die mathematische Abhängigkeit einer Variablen von einer anderen abbildet — man könnte das Diagramm um 180° oder auch nur um 90° drehen, ohne Informationsgehalt einzubüßen. Aber dass diese anschauliche Darstellung die intuitivere Konvention ist, liegt daran, dass unsere Wahrnehmung allgemein von der konzeptuellen Metapher MEHR IST OBEN (MORE IS UP) geprägt ist, die auf Erfahrung mit unserer Umwelt basiert: je höher der Stapel Klausuren auf meinem Schreibtisch, desto mehr habe ich zu tun. Deshalb nehmen wir diese Kurven als steil wahr, obwohl steil ja nur ihre Darstellung ist.
Der umgangssprachlichen Verwendung für steile Lernkurve liegt eine ganz ähnliche Motivation zugrunde, die gegenüber der hilfsweisen Darstellung der mathematischen Funktion aber grundlegend metaphorisch ist. Was meinen wir damit? Schauen wir zur Erklärung mal ein paar Beispiele aus dem Corpus of Contemporary American English (COCA) an:
Overall, you’ll face a fairly steep learning curve to master OpenOffice’s eccentricities, but you can’t beat the price.
[Insgesamt haben Sie eine recht steile Lernkurve vor sich, um die Verschrobenheiten von OpenOffice zu meistern, aber der Preis ist unschlagbar.]
„Anybody who rides a mountain bike wants to do what we do, but there’s a really steep learning curve so they usually end up just watching,“ he says.
[„Jede/r, der/die ein Mountainbike fährt, möchte machen, was wir machen, aber das hat eine wirklich steile Lernkurve, weshalb sie meistens nur zusehen.“]
„second Life provides an additional way for students to explore class material, but it doesn’t appeal to everyone.“ A steep learning curve can also discourage students who are not highly motivated to use SL, he says.
[„second Life stellt zusätzliche Möglichkeiten für Studierende bereit, um das Kursmaterial zu erkunden, aber das ist nicht für jede/n attraktiv.“ Eine steile Lernkurve kann Studierende zusätzlich entmutigen, die wenig motiviert sind, SL zu nutzen, sagt er.]
Nahezu alle Belege für learning curve hauen in die gleiche Kerbe: Lernen ist mühsam, aufwändig, anstrengend, mitunter entmutigend. Es überrascht nicht, dass das Nomen learning curve nur ein einziges signifikantes Adjektivkollokat hat: steep. ((Für diese Erkenntnis haben Daten aus der Kollokationsdatenbank des British National Corpus (via BNCweb) hergehalten. Spannweiten von 1;0 bis 5;5. Der Server für COCA ist gerade unten, aber am Wochenende hab ich mir von dort noch schwache Assoziationen zu efficient, upward, shallow und sharp notiert.)) Umgekehrt modifiziert steep — das wird niemanden vom Hocker hauen — überwiegend Nomina der Erhöhung oder des Aufstiegs wie hill, climb, ridgery, rise oder ascent. ((In der Kollokationsliste stehen auch Begriffe der absteigenden Richtung wie cliff, slope, decline oder descent.)) Wir assoziieren Lernen also mit einem Weg (nach oben) zur Erkenntnis. Eine andere Perspektive auf die Beschwerlichkeitskonnotation für steep learning curve ist, dass es häufig in Strukturen auftaucht, die mit dem Verb to face ‚gegenüberstehen‘ eingeleitet werden. In solchen face-Konstruktionen stehen in der Objektposition wiederum signifikant häufig challenges, risks, problems, obstacles, hardships, dilemmas und problems, also eher weniger spaßige Dinge.
Die negative Perspektive aufs Lernen ist auch in der Wikipedia-Definition erwähnt. Dort hat man versucht, die mathematische Definition als positive, die Laienverwendung als negative Einstellung zu deuten. Das ist nicht ganz falsch (abgesehen davon, dass eine mathematisch-quantitative relativ wenig mit ‚positiv‘ oder ‚Einstellung‘ zu tun hat), aber eben eine ungünstige Vermischung von Ebenen. Aber jetzt — um auf die Äpfel und Orangen zurück zu kommen — können wir die Laienverwendung auf konzeptuellen Metaphern zurückführen, also auf die grundlegende kognitiven Strategie, abstrakte Dinge durch greifbare, konkrete Dingen zu konzeptualisieren. Eine bekannte und hier naheliegende, übergeordnete Metapher wäre DAS LEBEN IST EINE REISE (LIFE IS A JOURNEY). Und auf dieser Reihe geht es auf dem WEG zur Erkenntnis eben auch mal mühsam nach oben. Wen diese Idee interessiert, findet in Lakoff & Johnson (1980a, 1980b) eine äußert dankbare Lektüre. Wer mehr so auf bunte Bildchen steht:
Bei der steilen Lernkurve steht nicht der Lernerfolg an sich im Vordergrund (oder dessen Quantifizierung), sondern die Anstrengung a: wenn ich auf dem grünen Pfad mit der flacheren Lernkurve unterwegs bin, hab ich zum Zeitpunkt t (oder wahlweise zum Wissenstand w) mit a1 weniger Anstrengung hinter mir, als wenn ich die rote Route (steile Lernkurve) nehmen muss. Konkrete, physische Empfindungen während einer anstrengenden Bergbesteigung oder eines flauschigen Hügelspaziergangs dienen uns dabei als Quelle zur Verbalisierung abstrakter Emotionen während einer Lernerfahrung. Die Y‑Achse ist zur Verdeutlichung eingezogen: bei der WEG/REISE-Metapher spielt die Quantifizierung — und streitbarerweise sogar der Betrag des Wissenstands — nur eine untergeordnete Rolle. Was bei Lernkurven interessiert ist der Grinsegrad auf dem Weg zur Erkenntnis zum Zeitpunkt t.
Denn wenn ich heute sage, dass R für eine funktionale Technikanalphabetin ne steile Lernkurve hat, sage ich doch überhaupt nichts darüber aus, ob die R‑onautinnen-Ausbildung quantitativ bei mir gefruchtet hat oder nicht.
P.S.: Fürs Deutsche ist die Metaphernstrategie der steilen Lernkurve ähnlich, wenn auch quantitativ offenbar nicht so stark messbar. Als einzige sinnvolle Kollokate spuckt COSMASII aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) steil, flach und — öbachtle! — PHP aus. Auch im DWDS sind signifikante Verbindungen für Lernkurve mit lediglich schwachen Assoziationen zu steil eher mager (aber DWDS & DeReKo mit BNC & COCA vergleichen zu wollen, ist für diese Untersuchung ohnehin problematisch). Das Wortschatzportal der Universität Leipzig liefert als auffällige Verbindung rechts von Lernkurve außerdem vor sich, was auf die WEG-Metapher hinweist (sie haben einen weiten Weg vor sich). Der Eindruck ist aber ein wenig, dass die Bergsteigemetapher im Deutschen schwächer ausgeprägt ist und bei Lernkurve häufiger vom mathematischen Konzept die Rede ist.
–
Lakoff, George & Mark Johnson. 1980a [2003]. Metaphors we live by. University of Chicago Press. [Auf Deutsch: Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Carl Auer Verlag.]
Lakoff, George & Mark Johnson. 1980b. Conceptual metaphor in everyday language. Journal of Philosophy 77(8). 453–486. [Link]