Selfie, das digitale Selbstportrait, das sich in den letzten Jahren aufgrund der technischen Verfügbarkeit von Smartphones und sozialen Netzwerken als Verbreitungskanäle zu einem Massenphänomen entwickelt hat — kulturell und linguistisch ist das mal wirklich voll 2013.
Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2013: ‑gate
Das Cablegate von 2010 (damals auch AdJ-Kandidat) war vom Wortmaterial her noch ein vollständiger USA-Import, das diesjährige Handygate hingegen zeigt mehr deutsche Anteile: Die deutsche Basis Handy verbindet sich mit der Endung -gate ‘Skandal’. Mit letzterer verbindet uns hier im Sprachlog eine innige Freundschaft: Schon für das Jahr 2011 war sie nominiert und wurde gleich doppelt besprochen.
Ich rekapituliere (s. Links oben): Im Anfang war der Watergate scandal, benannt nach dem Watergate-Komplex in Washington, D.C. Kurz konnte er auch einfach als Watergate bezeichnet werden. Der darin völlig bedeutungslose Namenbestandteil -gate wurde dann im englischsprachigen Raum auf weitere Skandale übertragen. Im deutschen Sprachraum gibt es neben den Skandal-Importen aus dem englischsprachigen Ausland 1987 die Kontamination Waterkantgate, und dann auch eigenständige Benennungen.
Unser -gate hat für den deutschen Wortschatz eine sehr ungewöhnliche Funktion: Es handelt sich um ein »onymisches Wortbildungselement«, es wird also dazu genutzt, neue Eigennamen (Onyme) auf der Basis vorhandener Wörter zu bilden. Jede Bildung auf -gate bezeichnet also einen spezifischen Skandal, den wir für benennenswert erachten.
So eine Benennung muss natürlich nicht zwingend mit -gate erfolgen, sie kann auch durch Zusammensetzung zweiter Substantive geschehen (Dreyfus-Affäre, Contergan-Skandal) oder metonymisch, ganz ohne sichtbaren Wortbildungsprozess stattfinden (Tschernobyl, aber gemeinhin eher als Katastrophe denn als Skandal bezeichnet).
Von Watergate zu Eierlikörgate
Die für uns spannende Frage ist jetzt, wie »lebendig« die Skandalbenennung mit -gate im Deutschen ist, oder, sprachwissenschaftlich gesprochen, wie produktiv das Element ist.
Im Fall von Watergate, Irangate, Filegate und Cablegate haben wir es mit direkten Entlehnungen aus dem Englischen zu tun, sie können uns also nicht als Hinwiese dienen. Weiterlesen
Unwort des Jahres 2013: Sozialtourismus
Die „Sprachkritische Aktion“ hat das Unwort des Jahres 2013 bekannt gegeben: Sozialtourismus. Beim Sprachlog sind wir ja notorische Nörglerinnen, wenn es um anderer Leute Wörterwahlen geht, aber an der Arbeit der Unwort-Jury haben wir wenig auszusetzen, seit Nina Janich, Sprachwissenschaftlerin an der TU Darmstadt, den Vorsitz übernommen hat.
Um Unwort des Jahres zu werden, muss ein Wort „gegen das Prinzip der Menschenwürde“ oder „Prinzipien der Demokratie verstoßen“ oder „einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren“, und es muss „euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend“ sein. Auf das unsägliche Döner-Morde (2011), traf das auch aus unserer Sicht klar zu, und auch beim perfiden Opfer-Abo waren wir im Prinzip einer Meinung mit der Jury. Weiterlesen
Kandidatinnen für den Anglizismus des Jahres 2013: Cyber–
Schon im letzten Jahr war mit -gate neben einer Reihe von Wörtern auch ein Affix für den Anglizismus des Jahres nominiert, also ein Wortbildungselement, das nicht (oder nicht vorrangig) alleine steht, sondern an ein existierendes Wort angefügt wird, um ein neues abzuleiten. In diesem Jahr sind gleich drei Affixe auf der Shortlist: das Suffix -gate als Wiedergänger, und erstmals nominiert die Präfixe Fake– (von Susanne hier diskutiert und Cyber–. Um letzteres geht es in diesem Beitrag.
Als eigenständiger Wortkandidat ist Cyber- zwar neu nominiert, aber das Präfix war schon 2011 quasi als Beifahrer der Wörter Cyberwar/Cyberkrieg mit im Rennen. Damals konnte ich zeigen, dass diese Wörter, obwohl sie manchen vielleicht zu alt erschienen, erst in den Jahren 2010–2011 einen Häufigkeitsanstieg erfuhren, der auf eine Verwendung außerhalb kleiner spezialisierter Gruppen hinwies. Die Wörter waren also ernsthafte Anwärter auf den Titel, schafften es am Ende aber weder in der Publikumsabstimmung noch in der Entscheidung der Jury unter die Top 3.
Die Frage, ob das Präfix Cyber- neu genug ist, um im laufenden Jahr eine Chance auf den Titel zu haben, lässt sich deutlich schwerer beantworten, denn im Falle eines Affixes zählt ja für die Frage der Verbreitung nicht so sehr das erste Auftreten eines Wortes oder die Gesamthäufigkeit aller Wörter, in dem bzw. in denen es enthalten ist. Vielmehr ist entscheidend, wie produktiv das Affix zur Bildung von Wörtern eingesetzt wird und wie sich diese Produktivität entwickelt hat. Auf diese Frage werde ich mich konzentrieren, aber natürlich erst, nachdem ich die Vorgeschichte des Präfixes Cyber- im Englischen geklärt habe (wer an der nicht interessiert ist, kann den folgenden Abschnitt überspringen). Weiterlesen
Blogspektrogramm 2/2014
Unser dieswöchiges Spektrogramm bietet Apostrophe, Überwachungsszenarien und aussichtsreiche Anglizismen: Viel Spaß und einen ruhigen Lesesonntag!
- In der FAZ schreibt Wolf Peter Klein über den Apostroph, die mit ihm verbundenen Emotionen und seine erstaunlich lange Geschichte: »Wird es abweichend von den üblichen Mustern verwendet, droht eine besonders heftige Form der Sprachdenunziation. Ganze Internetseiten widmen sich inzwischen der Verfolgung unüblicher Apostrophe.« (Ansonsten stand im Sprachlog schon 2007 alles, was es zu Apostrophen zu sagen gibt).
- Auf dem 30C3 Anfang Januar hielt Joachim Scharloth von SURVEILLANCE AND SECURITY einen Vortrag zu Überwachen und Sprache, der auch online nachzuschauen ist.
- Ebenfalls auf dem 30C3 hat Martin Haase (von NEUSPRECH.ORG) ein Interview zu »Verbalen Nebelkerzen« gegeben, den ganzen Vortrag, auf den Bezug genommen wird, kann man sich hier anschauen.
- Auf LAUT & LUISE befasst sich Luise Pusch mit dem Unterschied zwischen kinderlos und kinderfrei: »›Kinderfrei‹ klingt in meinen Ohren nicht nur positiv nach ›erfolgreichen Nicht-Eltern‹, sondern auch etwas herzlos. Ich habe nicht vergessen, dass ich selbst mal ein Kind war. Vielleicht war ich nicht sehr willkommen, in den vierziger Jahren gab es ja die Pille noch nicht, und Frauen mussten gebären, ob sie wollten oder nicht. Vielleicht wäre meine Mutter lieber „kinderfrei“ geblieben, aber sie hatte keine Wahl. Und wo ich nun schon mal da bin, hoffe ich doch, dass der Wunsch, von der Last meiner Existenz ›befreit‹ zu sein, bei ihr nicht allzu ausgeprägt war.«
- Auch diese Woche haben wir uns wieder eine Reihe von potenziellen Anglizismen des Jahres angeschaut, und diesmal sind richtig aussichtsreiche Kandidaten dabei: Im LEXIKOGRAPHIEBLOG gab’s Big Data, hier bei uns Fake- und Hashtag.
Kandidaten für den Anglizismus 2013: Hashtag
Auch der oder das Hashtag ist ein Wiedergänger von 2012, ich kann also zunächst einmal auf Susannes letztjährigen Artikel verweisen. ((Außerdem wird das Wort hier noch knapp gestreift.)) Über die Funktion von Hashtags schrieb sie damals:
Mit #Hashtags werden typischerweise Tweets, Posts oder Bilder in sozialen Netzwerken verschlagwortet, um sie einem bestimmten Thema zuzuordnen. […] Auf einer zweiten Ebene werden mit Hashtags aber auch Emotionen, Zustände, Wunschdenken, Kommentare, Zugehörigkeit, Empathie und Ironie markiert (#kaffee, #WirSindLlama oder #fail) oder Meme gestartet (#würstchenfilme). Diese werden als Meta-Schlagworte gesetzt.
Heute will ich den Überlegungen von letztem Jahr zwei Aspekte hinzufügen: Zum einen eine kleine Korpusrecherche in Zeitungen, um die Häufigkeitszunahme des Wortes zu überprüfen, und zum anderen eine bisher noch nicht besprochene Verwendungsweise.
#Frequenz
In den Zeitungskorpora des IdS kommt das Wort zwar selten vor, nimmt aber tatsächlich im Gebrauch zu.
Schaut man sich an, wie es verwendet wird, so erkennt man schnell ein übliches Muster für neue Wörter: Weiterlesen
Weil ist faszinierend, weil Sprachwandel
Wie die Oxford English Dictionaries wählt auch die American Dialect Society jedes Jahr ein englisches Wort des Jahres. Während erstere in diesem Jahr das eher offensichtliche Selfie zum Sieger kürten, fiel die Wahl der American Dialect Society auf das zunächst befremdliche because. Geehrt wurde das Wort nicht, weil es 2013 neu entstanden oder besonders häufig verwendet worden wäre, sondern, weil es eine interessante grammatische Entwicklung durchläuft.
Because + X
Herkömmlicherweise kann because im Englischen nur in zwei grammatischen Strukturen verwendet werden – als sogenannte „subordinierende Konjunktion“, die einen Nebensatz einleitet (wie in [1]), oder als Teil des präpositionsartigen Wortkomplexes because of (wie in [2]):
- (1) Joe stayed home because she was sick.
- (2) Joe stayed home because of her headache.
Im ersten Fall entspricht because der deutschen Konjunktion weil (vgl. Joe blieb zu hause, weil sie krank war.), ((Oder auch den Konjunktionen da und denn, wobei im Deutschen interessant ist, dass auf da ein Nebensatz und auf denn ein Hauptsatz folgt (da sie krank war vs. denn sie war krank), während weil sowohl mit Hauptsätzen (weil sie war krank) als auch mit Nebensätzen (weil sie krank war) auftreten kann.)) im zweiten Fall würde man im Deutschen typischerweise wegen verwenden (wegen ihrer Kopfschmerzen).
Dass die American Dialect Society because zum Wort des Jahres gewählt hat, liegt daran, dass seine grammatischen Möglichkeiten sich in den letzen Jahren dahingehend verändert haben dass es (vor allem in Online-Sprache) inzwischen auch mit Substantiven (vgl. [3]), Adjektiven (vgl. [4]) und sogar Verben (vgl. [5]) und Interjektionen (vgl. [6]) auftritt: Weiterlesen
Kandidaten für den Anglizismus 2013: Fake-
Nach dem größten Fakefake 2014 überhaupt, den Twitter letzte Woche unter ungefakter Anteilnahme des Postillon mit sich und dem Rest der Welt ausgefochten hat, knöpfen wir uns heute Fake-Konzept und ‑Morphologie vor. Wenn Ihnen das jetzt zu viel Meta war — gut aufpassen!
Nominiert ist Fake-, nennen wir es vorläufig ein Präfix. Das ist keine triviale Feststellung. Denn während es mit dem Nomen Fake und seinen Ableitungen faken oder Faker/in enge Bedeutungsbeziehungen unterhält, hat Fake- in der deutschen Sprachgemeinschaft ein so faszinierendes semantisches und morphologisches Eigenleben entwickelt, dass wir ihm unrecht tun würden, es als bloße Zutat zu hundsgewöhnlichen Komposita abzutun. Und bevor Sie sich fragen, ob Fake- als Anglizismus 2013 taugt, wo es doch soooo alt ist — einfach das Spannungsfeld aus sehr Altem, viel Neuem und sprachlich Wertvollem genießen!
Blogspektrogramm 1/2014
Herzlich willkommen in 2014! Über die Feiertage war es etwas ruhiger, aber wir haben trotzdem spannende Links ausgegraben, heute überwiegend aus der Welt der Lexikografie: Wortwahlen, Wortwahlen, Wortanzahl und — Gemüse:
- Das Jahr hat gut begonnen bei der Wahl zum Anglizismus des Jahres 2013: Michael bespricht Smartwatch und Anatol Whistleblower.
- Die American Dialect Society wählt Anfang Januar traditionell das amerikanische Wort des Jahres (WOTY). Dieses Mal, und das mag einige überraschen, ist es because. Wir finden: eine wirklich linguistische Wahl!
- Mit den WOTYs der Vergangenheit beschäftigte sich Britt Peterson im BOSTON GLOBE bereits Anfang Dezember und fragt sich, was aus ihnen geworden ist: „Where are they now?“.
- Auf JABAL AL-LUGHAT widmet sich Lameen Souag dem Mythos, dass Arabisch „25-mal mehr Wörter hat“, als Englisch (via @haspelmath).
- Offenbar haben offizielle Stellen in Korea den Nachbarn in China und Taiwan angeraten, die Gemüsezutaten zu Kimchi, dem koreanischen Nationalgericht, dort anders zu nennen, weil die chinesischen und taiwanesischen Varianten sich deutlich von den koreanischen unterscheiden. Darüber berichtet Victor Mair im LANGUAGE LOG. ((Interessante Vorstellung: Lassen Sie uns dem Rest der Welt vorschreiben, wie sie Wurst — oder was sie dafür halten — zu nennen haben. Alternativ behalten Sie das im Hinterkopf, fürs nächste Mal, wenn es um Soße und Zensur gehen soll.))
Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2013: Whistleblower
Das Wort Whistleblower war schon im ersten Jahr unseres Wettbewerbs nominiert und landete sogar auf dem dritten Platz (hinter dem Sieger leaken und dem zweitplatzierten entfrienden). Seinen Anstieg im Sprachgebrauch verdankte das Wort damals (wie auch das Verb leaken) der plötzlichen Prominenz von Wikileaks, einer Netzplattform, die geheime Dokumente veröffentlichte, die ihnen eben von sogenannten Whistleblowern zugespielt wurden.
Das Wort Whistleblower ist inzwischen akzeptierter Bestandteil der deutschen Sprache, es steht im Duden, wo es mit „jemand, der Missstände [an seinem Arbeitsplatz] öffentlich macht“ definiert ist, und es findet sich seit 2010 durchgängig im Deutschen Referenzkorpus des Instituts für Deutsche Sprache, einer Sammlung von Texten (hauptsächlich Zeitungstexten), die wir in der Bewertung unserer Wortkandidaten immer als Abbild des allgemeinen Sprachgebrauchs verstehen.
Mit der englischen Vorgeschichte des Wortes sowie der Entlehnung ins Deutsche habe ich mich seinerzeit in einem Sprachlogbeitrag ausführlich befasst und will meine Diskussion hier nur kurz wiederholen. Ich habe damals die Vermutung geäußert, dass sich das Wort von der Redewendung to blow the whistle on someone/something ableitet, die zunächst allgemein die Bedeutung „etwas beenden“ hatte und sich bildhaft auf die Fabriksirene bezieht, die das Ende einer Schicht signalisiert. Diese Deutung führt inzwischen auch die deutschsprachige Wikipedia neben den von mir damals abgelehnten Herleitungen von Polizei- oder Schiedsrichterpfeifen auf. Das Wort findet sich seit Mitte der neunziger Jahre im Deutschen Referenzkorpus, breite Verwendung fand es, wie gesagt, aber erst ab 2010.
Die entscheidende Frage ist, ob das Wort seit seinem damaligen Häufigkeitsschub im laufenden Jahr eine so drastische weitere Verbreitung gefunden hat, dass seine nochmalige Nominierung gerechtfertigt ist. Weiterlesen