Merkels versaute Raute

Von Anatol Stefanowitsch

Diese Woche twit­terte Julia Prob­st – bekan­nt durch ihren Twit­ter- Lip­pen­lese­di­enst bei Sportereignis­sen und ihren Aktivis­mus für Unter­ti­tel und gegen Cochlea-Implan­tate – fol­gen­den lin­guis­tisch faszinieren­den „Fun­fact“:

Fun­fact: Die #Merkel-#Raute bedeutet in #Gebär­den­sprache “Vagi­na”.

— Julia Prob­st (@EinAugenschmaus) 1. Okto­ber 2014

Merkels Raute

Merkels Raute

Nun ist Humor bekan­ntlich sehr indi­vidu­ell, und so lässt sich natür­lich nicht objek­tiv fest­stellen, ob dieser Fact tat­säch­lich „Fun“ ist. Es gibt ja Men­schen, die zum Beispiel Mario Barth lustig find­en, und die wären ver­mut­lich ganz aus dem Häuschen, wenn sich her­ausstellte, dass Merkel mit der für sie typ­is­chen Geste (siehe Abbil­dung links) seit Jahren unab­sichtlich bei jedem ihrer Auftritte das Wort „Vagi­na“ gebärdet. Wenn sie es in sub­ver­siv­er Absicht ganz bewusst täte, kön­nte vielle­icht sog­ar ich Humor darin erkennen.

Aber wir sind ja das Sprachlog, nicht das Lachlog, deshalb konzen­tri­eren wir uns auf die Frage, ob dieser (poten­zielle) Fun über­haupt „Fact“ ist. Weit­er­lesen

Blogspektrogramm 39/2014

Von Kristin Kopf

Erpresser­briefe, sprach­liche Zukun­ftsvi­sio­nen, DDR-Jugend­sprache, hochnot­pein­liche Ver­höre und, ähm, was zu uh: Auch diese Woche gibt es im Spek­tro­gramm jede Menge Links zwis­chen skur­ril und spannend!

  • Wie schreibt man einen anony­men Erpresser­brief? Auf jeden Fall nicht, indem man ver­sucht, wie Nicht-Mut­ter­sprach­lerIn­nen zu klin­gen. Wolf­gang Krischke in der FAZ: »Richtig falsch zu schreiben erfordert also ein beträchtlich­es Kön­nen und zudem eine Diszi­plin, die viele Autoren nicht auf­brin­gen: Wer sich auf Rechtschreibfehler konzen­tri­ert, ver­nach­läs­sigt oft die notwendi­gen Ver­stöße gegen die Gram­matik und umgekehrt. Es gibt also eine ganze Rei­he von Anhalt­spunk­ten, um sprach­liche Mask­ierun­gen zu erkennen.«
  • Was ste­ht der deutschen Sprache noch bevor? Joachim Schar­loth wagt auf SURVEILLANCE AND SECURITY einen Blick in die Glaskugel: »… so scheint mir doch, dass die Zukun­ft der deutschen Sprache — und auch ander­er Sprachen — am meis­ten davon bee­in­flusst wird, dass Com­put­er einen immer größer wer­den­den Anteil an der Kom­mu­nika­tion haben. Aber nicht im triv­ialen Sinn, dass in der com­put­er­ver­mit­tel­ten Kom­mu­nika­tion die Sprache ver­fällt. Com­put­er sind vielmehr direkt oder indi­rekt immer tiefer in Trans­fer­prozesse im Medi­um der Sprache involviert. Und das hat Fol­gen in min­destens drei Bere­ichen …« (Ein Inter­view zum gle­ichen The­ma hat Schar­loth mit der Säch­sis­chen Zeitung geführt.)
  • Michael Mann hat im LEXIKO­GRAin­PHIEBLOG ein Jugend­sprach­wörter­buch der DDR aus den 80ern aus­ge­graben: »Unter anderem find­en wir dort bere­its einen Ein­trag für “cool” (S. 85), pos­i­tiv bezo­gen auf Per­so­n­en und auf Musik. Dazu ist zu sagen, dass in den DDR-Rechtschreib­du­den “cool” gar nicht verze­ich­net ist; im BRD-Duden ste­ht “cool” ab der 18. Aufl. (1980): ‘ugs. für ruhig, über­legen, kaltschnäuzig’; erst ab der 22. (längst gesamt­deutschen) Aufl. (2000) dann auch: ‘Jugend­spr. für her­vor­ra­gend’.«
  • Stephan Bopp schweift auf FRAGEN SIE DR. BOPP ab: Eigentlich sollte er nur erk­lären, wie ein Adjek­tiv flek­tiert, und plöt­zlich liefert er uns die Ety­molo­gie von hochnot­pein­lich. »Ein hochnot­pein­lich­es Ver­hör ist ein sehr strenges Ver­hör, hochnot­pein­liche Fra­gen sind sehr strenge Fra­gen. His­torisch gese­hen war  hochnot­pein­lich aber noch viel strenger als das, was wir heute unter sehr streng ver­ste­hen: …«
  • Wo wir ähm oder äh oder öh sagen, nutzt man in den USA ganz ähn­liche Füll­wörter: um oder uh — und zwar mit regionalen Präferen­zen, wie hier auf QUARTZ dargestellt: »To uncov­er the geog­ra­phy of filler words, Grieve ran through the Twit­ter cor­pus to find how often a giv­en Amer­i­can coun­ty uses “um” over “uh” and vice ver­sa. After that, he used an algo­rithm known as “hot-spot test­ing” to smooth out the results and make them more meaningful.«

Jetzt zu haben: Das kleine Etymologicum

Von Kristin Kopf

Das Wichtig­ste zuerst: Ich habe ein Buch geschrieben. Das heute erscheint. Man kann es natür­lich gerne unbe­se­hen kaufen, aber man kann sich auch erst ein­mal von mir erzählen lassen, worum es eigentlich geht:

Wenn man Sprach­wis­senschaft betreibt, wird man ja von Fre­un­deskreis und Ver­wandten oft zur Gram­matikauskun­ftsstelle erk­lärt. Wenn man his­torische Sprach­wis­senschaft betreibt, darf man außer­dem immer wieder erläutern, woher einzelne Wörter kom­men und was sie früher bedeuteten. Viele mein­er Kol­legin­nen haben daher ein etwas ges­paltenes Ver­hält­nis zu diesen Etymologien.

Ich nicht. Weit­er­lesen

Blogspektrogramm 38/2014

Von Susanne Flach

Ihr Exper­ten­team für aus­ge­wo­gene Son­ntags­freizeit­gestal­tung ver­wöh­nt Sie heute mit Begriff­s­re­flex­io­nen, Satzze­ichen, Inter­net­sprache, Speisekarten­lin­guis­tik, Lexiko­grafie, Homophono­pho­bie und großem Rätselspaß:

  • Krise? Krieg? Zur unheil­vollen Unschärfe des Begriffs Krise schreibt Matthias Heine in der WELT: „Die Krise ist in der Krise.
  • Ana­tol war diese Woche mehrfach gefragt: ein Inter­view im Elek­trischen Reporter zum Sprach­wan­del auf Twit­ter & Co (ab 8:10) und im RBB-Radio zum Semi­kolon, wo Ana­tol seine Ein­schätzung aus der TAZ im Juni revidiert.
  • Kuli­nar­ische Lin­guis­tik gefäl­lig? Dan Juraf­sky & Co tun uns den Gefall­en und entschlüs­seln die Lin­guis­tik von Speisekarten.
  • Die NZZ berichtet über den Abschluss des lexiko­grafis­chen Großpro­jek­ts des „His­torischen Lexikons der Schweiz“ und reflek­tiert über der­ar­tige Pro­jek­te im dig­i­tal­en Zeitalter.
  • In unseren Feeds ging es vor eini­gen Wochen schon rum: in den USA ist ein Sprach­lehrer gefeuert wor­den, weil sein Chef den Unter­schied zwis­chen homophon und homo­phob nicht kan­nte. SLATE kommt dem Chef nun zu Hil­fe und erk­lärt (auch, was homophono­pho­bia ist).
  • Rät­selspaß: ALL THINGS LINGUISTIC greift eine (schon recht alte) Idee des lin­guis­tis­chen Satiremagazins Spec­u­la­tive Gram­mar­i­an auf: Ling­Doku, Sudoku für Linguist/innen.

Des einen Language ist des anderen Leid

Von Anatol Stefanowitsch

Eigentlich nur aus Spaß und/oder Prokrasti­na­tion habe ich ger­ade getwit­tert, dass ich als Anglist natür­lich für die schot­tis­che Unab­hängigkeit sei, da eine größere Anzahl englis­chsprachiger Län­der ja die Wichtigkeit meines Fachge­bi­etes erhöhen würde. Daraufhin kam die Rück­frage, ob sich denn eine Unab­hängigkeit Schot­t­lands auf die Sprachen­twick­lung auswirken würde.

Das ist eine inter­es­sante Frage, auf die ich natür­lich keine defin­i­tive Antwort habe, die mich aber dazu inspiri­ert, zu Ehren des Ref­er­en­dums wenig­stens ganz kurz etwas über die Sprache und Sprach­si­t­u­a­tion in Schot­t­land zu schreiben. Weit­er­lesen

Blogspektrogramm 37/2014

Von Susanne Flach

Gestern war „Tag der Deutschen Sprache“ mit ganz vie­len kleinen Pressemel­dun­gen zu Anglizis­men und einkaufen sagen statt shop­pen und body bag ist eigentlich ein Leichen­sack (& Co). Die Her­aus­forderung war also, aus den vie­len Stör­feuern die Sah­neschnittchen rauszu­fis­chen. Urteilen Sie selbst:

  • Sibylle Berg zer­rupft im SPIEGEL die Argu­mente von Bas­t­ian Sick.
  • Michael Mann im LEXIKOGRAPHIEBLOG mit ein­er kleinen gram­ma­tis­chen Analyse sein­er Fund­stücke von Ver­bots- und Hin­weiss­childern. (Michael, bitte mehr davon!)
  • DS Bigham auf SLATE zu „Sci­ence Fic­tion Lin­guis­tics“.
  • Allein der Über­schrift wegen: „Sprache als Quiz ohne falsche Antworten“ — DIE PRESSE zu Vari­anten und Vari­a­tion in Vari­etäten der deutschen Sprache.
  • Was passiert beim Sprachen­ler­nen im Kopf? Der GUARDIAN geht dieser Frage nach.
  • Im Vor­feld des Unab­hängigkeit­sref­er­en­dums in Schot­t­land beschäftigt man sich natür­lich auch mit dem zukün­fti­gen Sta­tus des Schot­tis­chen, das — erwart­bar — zumin­d­est ideell „eine zen­trale Rolle“ ein­nehmen wird, schreibt der TELEGRAPH. In Kanadas OTTAWA CITIZEN ist man der Mei­n­ung, die Frage der Unab­hängigkeit ist — erwart­bar — (noch) keine der Sprache.
  • Wem eine syn­tak­tis­che Analyse des Slo­gans der Gegner/innen des Ref­er­en­dums lieber ist, dem sei Geof­frey Pul­lums Per­spek­tive zu „Bet­ter Togeth­er“ empfohlen.

#Dirndlgate, die Dritte

Von Anatol Stefanowitsch

Eine inter­es­sante Eigen­schaft der Nach­silbe -gate, die wir im Feb­ru­ar zum Angliz­imus des Jahres gewählt haben, ist, dass wir mit ihr Eigen­na­men schöpfen kön­nen (weshalb Kristin, Susanne und (in absen­tia) ich dieser Tage auf ein­er Tagung zur Namensforschung [PDF] darüber sprechen wer­den. Mit anderen Worten, jedes „-gate“ beze­ich­net ein ganz bes­timmtes Ereig­nis (anders als z.B. das Wort Skan­dal, das eine Kat­e­gorie von Ereignis­sen bezeichnet).

Das hat zur Folge, dass es die meis­ten Wörter mit -gate nur ein­mal gibt: Water­gate gibt es nur als Beze­ich­nung für das erste Gate der Welt, die Abhöraf­färe des dama­li­gen Präsi­den­ten Richard Nixon aus dem Jahr 1973. Ein weit­eres Gate, in dem es z.B. tat­säch­lich um Wass­er gin­ge, wür­den wir wohl anders nen­nen – zum Beispiel Wass­erflaschen-Gate. Weit­er­lesen

Blogspektrogramm 36/2014

Von Susanne Flach

Der Som­mer­pause genug! Heute beschäfti­gen wir uns mit Goethe, kali­for­nischen Akzen­ten, Far­ben und Saufen. Eine fabel­hafte Son­ntagfrüheröff­nung, wie wir finden:

  • Jemand hat Dr. Bopp gefragt, was es syn­tak­tisch mit Goethes „Der Worte sind genug gewech­selt. Lasst mich auch endlich Tat­en sehen!“ auf sich hat. Dr. Bopp hat geant­wortet.
  • Natür­lich ohne Zwang: die Mehrheit der 500 größten öster­re­ichis­chen Unternehmen ver­wen­det in ihren Tex­ten gegen­derte For­men, melden die SALZBURGER NACHRICHTEN. ((Hat wer ne Idee, wo die Studie aufzufind­en ist?))
  • David Crys­tal so: „The his­to­ry of drink­ing vocab­u­lary is an exer­cise in seman­tics rather than soci­olin­guis­tics.“ Und dann präsen­tiert er die Fast kom­plette Liste jedes Worts, was wir jemals für ‚betrunk­en‘ ver­wen­det haben. Prost Kater! (Englisch)
  • Um Far­ben, Farb­wörter und Sprache ging’s hier im Sprachlog ja schon öfter. John McWorther — aus­gewiesen­er Skep­tik­er des Felds — meldet sich im OUP-Blog zu Far­ben, Sprache & Denken zu Wort (Englisch).
  • Im SACRAMENTO BEE berichtet man über eine großan­gelegte Dialekt- und Ausspraches­tudie in Kali­fornien und den kleinen Unter­schieden und Wan­del­tenden­zen. (Englisch)
  • Und wer sein Gehör jet­zt auf einem etwas gröberem Lev­el testen möchte, kann hier ein kleines Quiz zu englis­chen Akzen­ten machen (Englisch).

Reklame: Hell und klar

Von Kristin Kopf

Beim Herum­blät­tern in den Suchan­fra­gen, mit denen das Sprachlog so gefun­den wird, find­et man neben den immer­gle­ichen (»läng­stes wort deutsche sprache«, »läng­stes wort deutsch­land«, »läng­stes deutsches wort der welt« …) auch Fra­gen, die hier noch nicht beant­wortet wur­den. Zum Beispiel:

aus welcher sprache ist das wort reklame

Aus dem Franzö­sis­chen. Fer­tig. Aber hm, wenn wir ein wenig in sein­er Ver­gan­gen­heit herum­graben, wird es erst richtig span­nend — da taucht näm­lich jede Menge erwart­bare, aber auch uner­wartete Ver­wandtschaft auf!

Von der Reklame zur Reklamation

réclame wurde im Franzö­sis­chen vom Verb réclamer abgeleit­et, das neben ‘zurück­rufen’ auch ‘lock­en’ bedeuten kon­nte. Das Wort gelangte im 19. Jahrhun­dert ins Deutsche und gemeint war damit anfangs nur Wer­bung in Zeitun­gen. Bald fand es sich aber auch in weit­eren Anwen­dungs­bere­ichen — zum Beispiel im fol­gen­den Rant gegen schlechte Orch­ester­musik in Kurorten: Weit­er­lesen

Blogspektrogramm 35/2014

Von Kristin Kopf

Nehmen wir Gram­matik­fehler wahr, wo keine sind? Ist Säch­sisch viel stan­dard­näher als gemein­hin angenom­men? Und warum braucht man auf Bali einen Berg und keinen Kom­pass, um sich sprach­lich zu ori­en­tieren? Das und mehr gibt’s im heuti­gen Spektrogramm:

  • Die Sprache von Raed Saleh hat Sebas­t­ian Heis­er für die TAZ unter die Lupe genom­men: »Die taz fragte: „Wäre Berlin bere­it für einen Regieren­den, der gram­matikalisch manch­mal daneben­liegt?“ Die Antwort war in der Süd­deutschen Zeitung zu lesen: „SPD-Frak­tion­schef Raed Saleh hat so viel Mühe mit der Gram­matik, dass er für die Rolle des Thron­fol­gers auss­chei­det.“ Die Jour­nal­is­ten irren alle­samt: Raed Saleh hat eine sehr saubere Gram­matik.«
  • Über den säch­sis­chen Dialekt hat Lisa Cas­pari für die ZEIT ein Inter­view mit dem Sprach­wis­senschaftler Beat Sieben­haar geführt: »Die säch­sis­che Region­al­sprache und der Dialekt hat­ten schon lange einen schw­eren Stand. Säch­sisch wird oft gle­ichge­set­zt mit tölpel­haftem Ver­hal­ten, Unge­bilde­theit und Spießigkeit. Diese Ansicht hat sich über Jahrhun­derte tradiert. Dabei unter­schei­det sich das Säch­sis­che eigentlich rel­a­tiv wenig von unserem heuti­gen Hochdeutsch.«
  • Dafür, dass das Schreiben von SMS etc. die Schreibkom­pe­tenz von Kindern und Jugendlichen fördert, argu­men­tiert Ran­dall Munroe auf XKCD mit ein­er schö­nen Analo­gie. (Comic­strip, Englisch)
  • Wer sich für gram­ma­tis­che Fein­heit­en inter­essiert, die kön­nte der aktuelle Blog­post von Lau­ren Gawne auf SUPERLINGUO sehr glück­lich machen. Da wird Schritt für Schritt erk­lärt, was es eigentlich mit »Erga­tiv­ität« auf sich hat, und es fängt ganz leicht an: »What is in a sen­tence – Well, that depends on the lan­guage to a large extent, but it also depends on the verb. This is because on of the jobs of the verb is to decides how many people/things will be in the sen­tence.«
  • Und, wenn wir schon bei Sprachty­polo­gie sind: Wie ori­en­tiert man sich sprach­lich auf Bali? Auf SLATE erk­lärt Leah Velle­man die Beson­der­heit­en geozen­trisch­er Ori­en­tierungssys­teme: »If you were trav­el­ing around Bali with a com­pass, you would find your­self con­front­ed with a lin­guis­tic puz­zle. The word kaja in Bali­nese is some­times trans­lat­ed as mean­ing “north.” […] But as you trav­eled into the coun­try­side, you would find vil­lages where kaja seemed to mean “south,” “east” or “west” instead.«