Freiheit ist Bevormundung

Von Anatol Stefanowitsch

In Berlin tobt seit Monat­en ein auch sprach­lich inter­es­san­ter Kul­turkampf um den Reli­gion­sun­ter­richt an staatlichen Schulen.

Die aktuelle Sit­u­a­tion ist die fol­gende: An den Berlin­er Grund­schulen (1–6. Klasse) gibt es einen (bis zu 90% staatlich finanzierten) Reli­gions- und Weltan­schau­ung­sun­ter­richt. Diesen Unter­richt kann im Prinzip jede weltan­schauliche Organ­i­sa­tion anbi­eten, neben der katholis­chen und evan­ge­lis­chen Kirche bieten z.B. auch der Human­is­tis­che Ver­band Deutsch­land, die Jüdis­che Gemeinde und die Islamis­che Föder­a­tion diesen Unter­richt an. Die Teil­nahme am Reli­gions- und Weltan­schau­ung­sun­ter­richt ist in Berlin allerd­ings, anders als in den meis­ten anderen Bun­deslän­dern, schon seit 1948 freiwillig.

Von der 7. bis zur 10. Klasse gibt es in Berlin seit 2006 das Pflicht­fach „Ethik“. Dessen Ziele sind, ger­ade in ein­er mul­ti­kul­turellen Großs­tadt, nur zu begrüßen: Weit­er­lesen

[Surftipp] Blogwiese

Von Kristin Kopf

Die Blog­wiese ist die Spiel­wiese von Her­rn Wiese, der in der Schweiz wohnt. Dort geht es um Unter­schiede zwis­chen der Schweiz und Deutsch­land, ganz beson­ders sprach­lich­er Natur. Die meis­ten Beiträge sind wirk­lich unter­halt­sam zu lesen und auch gut gemacht, oft geht es z.B. um For­mulierun­gen aus Zeitun­gen, die für Deutsche unver­ständlich sind. Zum Ein­stieg empfehle ich diesen Beitrag, über eine Schweiz­er Redewen­dung: Wer führt eigentlich hier den Mist?

blogwiese

Ethymo- und Etnologie

Von Kristin Kopf

Heute hat jemand das Sch­plock mit dem Such­be­griff “ethy­mol­o­gisch” gefun­den (der Such­maschi­nen-Rechtschreib-Kor­rek­tur sei Dank!) – auch ein Fall von Hyper­ko­r­rek­tur: Weil wir bei Fremd­wörtern aus dem Griechis­chen dauernd irgendwelche <th>s schreiben, wird das auch manch­mal in Fällen gemacht, bei denen das <t> der Buch­stabe der Wahl wäre. (Schnell gegooglet: 271.000 Tre­f­fer für Ethy­molo­gie mit <th>, 289.000 mit <t> – *puh* Das war knapp!)

Wie kommt es, dass zwei Wörter, die aus der­sel­ben Sprache entlehnt wur­den und an der entschei­den­den Stelle gle­ich klin­gen, ver­schieden geschrieben werden?

Die Etymologie von Etymologie

Kluge ver­weist für Ety­molo­gie auf alt­griech. etymolo­gia ‘Lehre vom Wahren’, das über das Lateinis­che ins Deutsche entlehnt wurde.

Eth­nolo­gie hinge­gen geht auf alt­griech. éthnos ‘Volk, Schar’ zurück.

Tau vs. Theta

Was wir in lateinis­chen Buch­staben als <t> und <th> schreiben, sind im Griechis­chen zwei ver­schiedene Buch­staben: τ (Tau) und θ (Theta). Und auch zwei ver­schiedene Laute:

  • τ (Tau) klang im Alt­griechis­chen wie unser heutiges [t] in trinken,
  • θ (Theta) klang wie unser heutiges [] in taufen.

Bei der Schrei­bung von Wörtern mit diesen Buch­staben ori­en­tieren wir uns an der lateinis­chen Umschrift der Römer (die auch meis­tens zwis­chengeschal­tet waren, d.h. viele griechis­che Wörter wur­den aus dem Lateinis­chen entlehnt, nicht direkt aus dem Griechis­chen) – und die Römer nah­men für das Theta die Kom­bi­na­tion <th>.

Was ist der Unterschied?

[] ist ein soge­nan­ntes “aspiri­ertes T”. Das bedeutet, dass nach dem eigentlichen [t] noch ein klein­er Luftschwall fol­gt. Wir hören den Unter­schied im Deutschen i.d.R. nicht, weil er nicht bedeu­tung­sun­ter­schei­dend ist – das aspiri­erte T wird meist gesprochen, wenn es am Wor­tan­fang ste­ht und danach ein Vokal fol­gt, son­st kommt das “nor­male”. (Lei­der habe ich im Netz keine Audioauf­nahme gefun­den. Aber wenn man sich beim Sprechen genau zuhört und vielle­icht ein Blatt Papi­er vor den Mund hält – das bewegt sich bei aspiri­erten Laut­en –, kann man den Unter­schied schon bemerken.)

Das ist in anderen Sprachen anders – z.B. im Alt­griechis­chen.1 Dort sind [] und [t] so ver­schieden wie [t] und [d] im Deutschen.

Woher kommt’s?

Jet­zt wird es vage, wie das so ist, wenn man sich jen­seits schriftlich­er Quellen tum­melt. Griechisch ist ja eine indoger­man­is­che Sprache, wie das Deutsche auch, d.h. let­ztlich müssen diese Kon­so­nan­ten auf diesel­ben “Urkon­so­nan­ten” zurückgehen.

Für das Indoger­man­is­che set­zt man fol­gende Plo­sive2 an:3

  • p, t, k (“Tenues”)
  • bʰ, dʰ, gʰ (“aspiri­erte Medien”)
  • b, d, g (“Medi­en”)

Das alt­griechis­che geht wohl auf das idg. dʰ zurück – die aspiri­erten Medi­en wur­den näm­lich zu aspiri­erten Tenues, also stimm­los: idg. dʰ > pro­togriech. .

Die deutsche Entsprechung hat fol­gende Entwick­lung mit­gemacht: idg. dʰ > germ. ð (klingt wie engl. <th> in that) > west­germ. d > althochdt. t.4 Das griech. θύρα und das deutsche Tür sind z.B. miteinan­der ver­wandt. (Indogerm. hieß es *dʰw­er-.)

Mit dem geschriebe­nen <h> nach dem <t> kann das Deutsche also ein­fach nichts mehr anfan­gen – für Aspi­ra­tion gibt es ja Regeln: Eth­nolo­gie ist im Deutschen z.B. nicht aspiri­ert (weil das T nicht am Wor­tan­fang vor Vokal ste­ht), die alt­griech. Aussprache wird nicht berücksichtigt.

Das <th> in der Orthografie

Dass wir das <th> weit­er­hin fleis­sig schreiben, liegt daran, dass es in der deutschen Rechtschrei­bung kein starkes Prinzip zur Eingliederung von Fremd­wörtern gibt. Im anderen Sprachen wird auf die Orig­i­nalschrei­bung wenig Rück­sicht genom­men – Orthogra­phie heißt im Spanis­chen z.B. ortografía, Eth­nolo­gie ist etnología. Das Deutsche scheut sich vor so etwas. Dazu schreibe ich vielle­icht mal mehr.

Es gab einst ein <th> auch in Wörtern deutschen Ursprungs wie Thal, Thür, thun, Noth. Das <h> in solchen Wörtern wird im Grimm­schen Wörter­buch als Dehnungsze­ich­nen inter­pretiert: “[…] wobei h vor oder nach langem oder gedehn­tem vocal nur ein dehnungsze­ichen ist.”

Das “deutsche” <th> wurde bei der II. Orthographis­chen Kon­ferenz in Berlin 1901 abgeschafft, das Fremdwort-<th> wurde aus­drück­lich belassen.

Auch <ph> geht übri­gens auf ein pʰ zurück, und das <ch> in Wörtern griechis­chen Ursprungs auf kʰ. Dass <ph> im Deutschen als [f] aus­ge­sprochen wird (wie im mod­er­nen Griechis­chen übri­gens auch), kann ich nicht so gut erk­lären, es kön­nte etwas mit dem Lateinis­chen als Zwis­chen­schritt zu tun haben. Da werde ich aber noch nachforschen.

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Ein Atlas spricht Bairisch …

Von Kristin Kopf

… und zwar der Sprachat­las von Bay­ern – wer son­st? Auf ein­er Karte kann man sich sowohl die Dialek­twörter für bes­timmte Dinge (‘Holzs­plit­ter in der Haut’, ‘Beule am Kopf’, ‘Dachbo­den im bäuer­lichen Wohn­haus’, ‘kleines Wei­h­nachts­ge­bäck’, ‘Stech­mücke’*) als auch Laute (beruhend auf der mit­tel­hochdeutschen Entsprechung) und bes­timmte gram­ma­tis­che Eige­narten anzeigen lassen und sie mit einem kleinen Laut­sprech­er­sym­bol auch gle­ich abspie­len. Sehr schön gemacht!

sprespra

*Endlich der Beweis: Schnaken sind nicht harmlos!

Osnabrück, nicht Bar Celona: DGfS-Jahrestagung 2009

Von Kristin Kopf

Diese Woche war ich auf der Jahresta­gung der DGfS in Osnabrück (übri­gens die Haupt­stadt des schlecht­en Wortwitzes) und habe viele, viele Vorträge gehört, viele berühmte und weniger berühmte Men­schen gese­hen und wenig geschlafen. Es war ein Riesenspaß!

Ich habe natür­lich unglaublich viele span­nende Dinge gel­ernt, aber lei­der eignen sich immer nur Split­ter davon für ein Blog – meine per­sön­lichen High­lights waren die Plenumsvorträge von Mar­i­anne Mithun und Adele Gold­berg, die sich aber nicht gut zer­schnipseln lassen.

Hier also meine DGfS-Nachlese:

AG 1: Formen und Funktionen von Satzverknüpfungen

Ferraresi/Weiß – Und-(?!)Nebensätze

Mit und kon­nte in mit­tel- und früh­neuhochdeutsch­er Zeit nicht nur Koor­di­na­tion aus­ge­drückt wer­den, son­dern auch Subordination:

(1) alse lieb und ich dir bin ‘so lieb wie ich dir bin’ (modal-ver­gle­ichend)

(2) zuvor und er zu mor­gen eszbevor er früh­stücke’ (tem­po­ral)

(3) erget­zet sie der lei­de unt ir ir habet getân ‘entschädigt sie für das Leid, das ihr ihr ange­tan habt’ (rel­a­tivisch)

AG 5: Formen des Ausdrucks von Höflichkeit/ Respekt im Gespräch

Hentschel — Alle Men­schen wer­den Brüder

Im Ser­bis­chen kann man (wie in vie­len Sprachen) Ver­wandtschafts­beze­ich­nun­gen auch für Nicht-Ver­wandte benutzen. Dabei benutzt man sine ‘Sohn’ sowohl für junge Frauen als auch für junge Män­ner. Die Beze­ich­nung für ‘Tochter’ kann gar nicht ver­wen­det wer­den. Wahrschein­lich hat es damit zu tun, dass die männliche Form als pos­i­tiv­er wahrgenom­men wird.
Im Chi­ne­sis­chen haben die Beze­ich­nun­gen für großer Brud­er und kleine Schwest­er teil­weise die Bedeu­tun­gen ‘Ban­denchef’ und ‘Pros­ti­tu­ierte’ bekom­men, wo sie nicht auf wirk­liche Geschwis­ter referieren.

Haase — Ref­er­enten­honori­fika­tion zwis­chen Gram­matik und Lexikon

Im Bask­ischen gibt es eine Markierung für Vertrautheit/Familiarität (im Gegen­satz zu den meis­ten Sprachen, die Höflichkeit/Distanz/Respekt markieren) – dabei wird extrem viel palatal­isiert und es wer­den Ele­mente in Ver­ben eingeschoben, die z.B. die Tran­si­tiv­ität verän­dern (das nen­nt man Alloku­tiv). Diese Art zu sprechen wird meist nur gegenüber Fam­i­lien­ange­höri­gen (aber nicht den Eltern), kleinen Kindern oder Tieren ver­wen­det. Weil sie auf so einen engen Kreis beschränkt ist, hat sie eine sehr hohe Var­i­anz — jede Fam­i­lie entwick­elt ihre eigene Version.

Simon — Zur Gram­matik der indi­rek­ten Anrede im Afrikaans und im älteren Deutsch

Im Afrikaans gibt es bes­timmte Beze­ich­nun­gen (Ver­wandtschafts- und Berufts­beze­ich­nun­gen), die man für die Anrede benutzt, um höflich zu sein. Dabei wer­den diese For­men nicht nur ein­mal zur Anrede gebraucht (wie “Herr Pfar­rer, …”), son­dern auch an Stellen, wo andere Sprachen ein Reflex­iv- oder ein Pos­ses­sivpronomen gebrauchen wür­den. Wenn man im Afrikaans über jeman­den spricht, sagt man z.B.

(1) Dom­i­nee skeer hom. ‘Der Pfar­rer rasiert sich

bei höflich­er Anrede wird es aber zu 

(2) Dom­i­nee skeer Dom­i­nee ‘Herr Pfar­rer, Sie rasieren sich (wörtl.: Herr Pfar­rer rasieren Her­rn Pfar­rer)’.

AG 13: Comparison constructions and similarity-based classification

Hahn — What makes things similar

Mit wenig Sprach­bezug, aber kong­ni­tiv sehr span­nend: Wenn wir Dinge miteinan­der ver­gle­ichen, ist die Ver­gle­ich­srich­tung wichtig. Wenn wir eine Lin­ie von 85° sehen, stim­men wir wahrschein­lich schnell zu, dass sie fast ver­tikal ist, wenn wir eine ver­tikale Lin­ie sehen, stim­men wir aber eher nicht zu, dass sie fast 85° hat.

Plenarvortrag

Gold­berg — Items and Generalizations

Es gibt im Englis­chen Adjek­tive, die nicht vor dem Bezugswort ste­hen kön­nen, son­dern eigentlich nur prädika­tiv ver­wen­det wer­den können:

(1) ??the asleep child

ist komisch, aber

(2) the child is asleep

geht. Das sind alles Adjek­tive die mit a- begin­nen (der Laut ist ein Schwa [ə]) und die meis­tens früher mal Prä­po­si­tion­alphrasen waren (also z.B. on sleep > asleep). Man kann sie heute noch sehr gut tren­nen, nach Wurzel und a:

(3) a|sleep, a|float, a|live, a|blaze

im Gegen­satz zu ähn­lich aussehenden/klingenden Adjek­tiv­en mit ein­er anderen Quelle (absurd, acute, aduld) die attribu­tiv ver­wen­det wer­den kön­nen (the absurd sit­u­a­tion). Heutige SprecherIn­nen ler­nen also eigentlich eine his­torische Regel, indem sie die For­men, bei denen das a- vom on stammt, anders behan­deln. Darüber sind sie sich allerd­ings nicht im Klaren, sie fol­gen eben dem Gebrauch der­er, von denen sie ler­nen, und da sie in Kon­tex­ten, in denen z.B. asleep gebaucht wird, nie den attribu­tiv­en Gebrauch hören, ler­nen sie die Regel. Im Vor­trag war das nur ein kleines Beispiel zur Begrün­dung eines bes­timmten Sprach- und Gram­matikver­ständ­niss­es, das aber hier den Rah­men spren­gen würde.

Bildwerfer

Von Anatol Stefanowitsch

Ich hat­te mir fest vorgenom­men, im neuen Jahr nicht mehr über die Aktion Lebendi­ges Deutsch zu schreiben, aber was soll ich sagen — ich bin ein schwach­er Men­sch und ich kann dem Unfug, den die vier alten Her­ren dort treiben, ein­fach nicht widerstehen.

Im let­zten Monat war nach ein­er Alter­na­tive für all inclu­sive gefragt, und 288 fleißige Wort­such­er haben sich nicht lumpen lassen: Weit­er­lesen

Ach, ich und die Kirschen (Teil 3)

Von Kristin Kopf

Teil 1 | Teil 2 | Teil 3

… als sie etwa am Kirchgarten von den Tätern bedrängt wurden.”

kirschgarten

Ein Über­fall beim Kirch­garten? Wie kann das sein? Eine eilige Suche im Mainz­er Straßen­verze­ich­nis bestätigt den schlim­men Ver­dacht: Es gibt keine Mainz­er Straße namens Kirch­garten. Was es aber dur­chaus gibt, ist ein Kirschgarten. Also ein­fach ein Tippfehler? Vielle­icht. Aber vielle­icht auch der Auf­takt zum näch­sten Kapi­tel des isch-Lauts: der Hyperkorrektur.

[ʃ]-Verbot in der Standardsprache?

In Teil 2 wurde ja klar, dass im mit­teldeutschen Raum zwei Laute, näm­lich [ç] und [ʃ], zu einem wer­den. Wer die Umgangssprache mut­ter­sprach­lich erlernt, in der das passiert ist, der ken­nt nur [ʃ]. Das stört erst­mal keinen großen Geist, bis … ja, bis man Stan­dard­deutsch sprechen will.

Dann aber ste­ht man vor einem enor­men Prob­lem: Wie soll man die Wörter mit dem ich-Sch von den Wörtern unter­schei­den, die sowieso schon ein <sch> haben? Woher soll man wis­sen, welche der drei <sch>s in Tscheschisch vom ich-Laut kom­men und welche nicht?

schema-ch-schZum Zeit­punkt B ist es unmöglich, einem Wort anzuse­hen, ob es ursprünglich (und hochsprach­lich jet­zt noch) [ç] oder [ʃ] hat(te). Man lernt ja nicht zu jedem Laut seine Entste­hungs­geschichte dazu.

Was tun? Raten!

Da man weiß, dass [ʃ] in vie­len Fällen falsch ist, ver­sucht man, das fremde [ç] einzuset­zen. Oft auch dann, wenn die Stan­dar­d­aussprache eigentlich [ʃ] hat. Und was kommt raus? Genau: Tchechich. Oder, wie bei Hel­mut Kohls Pfälzisch: Gechichte.

Dieses Phänomen nen­nt man “Hyper­ko­r­rek­tur”: Man kor­rigiert etwas, das gar nicht falsch war — in meinem Beispiel das erste und das let­zte <sch> von Tschechisch. Meist passiert das, wenn man in sein­er Mut­ter­sprache oder in seinem Heimat­di­alekt eine Unter­schei­dung nicht ken­nt, die die Ziel­sprache besitzt. Im Hochdeutschen unter­schei­den sich [ʃ], [ç] und [x] laut­lich, in den betrof­fe­nen mit­teldeutschen Umgangssprachen nur [ʃ] und [x].

Von der Kirsche zur Kirche

kirschen

Was hat das nun mit dem Über­fall am 19.1. zu tun? Genau: Es kön­nte sein, dass die Per­son, die den Bericht geschrieben hat, Rhein­hes­sisch spricht und deshalb Kirschgarten in Kirch­garten “kor­rigiert” hat. Weil Kirch­garten nicht so offen­sichtlich falsch ist und die Schrei­bung ganz nor­mal aussieht, ist es dann wohl so geblieben.

In Fällen, in denen es das Wort mit <ch> nicht gibt, fällt es schneller auf, denn schrift­sprach­lich lernt man ja, wo <ch> und wo <sch> geschrieben wird.

Her­rgen (1986) hat aber auch viele Beispiele, wo <ch> geschrieben wurde, obwohl es kein anderes Wort im Hochdeutschen gibt, das ein <ch> hat — meist in Schu­lauf­sätzen: Deutchunter­richt, Bichof, Sparchwein.

Im Internet spricht man Tchechich!

Ein bißchen Googlen zeigt, dass die [ʃ]-Hyperkorrektur auch bei Erwach­se­nen öfter geschrieben wird, als man denkt. Zur Sicher­heit habe ich Tchechich gesucht — wenn’s zweimal in einem Wort vorkommt, kann es kaum mehr Zufall sein:

  • —-Sprache
    ——-Deutsch
    ——-Ital­ienisch
    ——-Spanisch
    ——-Nieder­ländisch
    ——-Dänisch
    ——-Pol­nisch
    ——-Tchechich
    ——-Por­t­o­gi­sisch
    ——-Enlisch
    ——-Französich
    (Quelle)
  • Nur lei­der kon­nt man hier auf Grund fehlen­der Tchechich-Ken­nt­nisse nicht wie bish­er mit­gröhlen. (Quelle — es ist konsequent!)
  • Gibt bes­timmt auch Pen­del­busse, aber wer spricht schon Tchechich? (Quelle)
  • Dieses for­mu­lar (auf Tchechich) werde ich bei jed­er fahrt bei mir haben, wenn ich kon­troliert werde zeige ich es vor und die polizei wird daraufhin nicht weit­er nach­forschen. (Quelle)

Warum heißt der Kirschgarten Kirschgarten?

2009-03-06-kirschgarten

Ganz am Anfang mein­er Nach­forschun­gen hat­te ich mal die wilde These, dass der Straßen­name Kirschgarten vielle­icht eine Ver­schrif­tung der regionalen Aussprachevari­ante mit [ʃ] gewe­sen sein kön­nte, und vielle­icht doch eine Kirche in der Nähe namensgebend war. Nach­dem im let­zten Teil ja klar wurde, dass die [ʃ]-Geschichte rel­a­tiv neu ist, geht das natür­lich nicht mehr — der Straßen­name ist ja viel älter als das Phänomen. Er hat also tat­säch­lich etwas mit Kirschen zu tun.

Die Stadt Mainz gibt auf ihrer Inter­net­seite fol­gende Erklärung:

Der Ort wurde bere­its 1329 als „im Kirschgarten” beze­ich­net. Der Name rührt von der Kirschborn­quelle her, die am Rochushos­pi­tal (Rochusstraße 9), entspringt.

Skep­tisch wie ich bin, habe ich eine Frau gefragt, die es wis­sen muss: Rita Heuser hat ein gigan­tis­ches Buch zu Mainz­er Straßen­na­men geschrieben. Und sie schreibt zur Erk­lärung der Mainz­er Seite:

[I]ch denke es war umgekehrt: die Quelle hat den Namen von dem ehe­ma­li­gen Flur­na­men Kirschgarten (erste Erwäh­nung: ortum nos­trum in Magun­tia dic­i­tur kirs­garte 1267; Kirs­born 1402).

Die ältere Form kirsgarte hat einen Laut­wan­del mit­gemacht, bei dem s nach r zu [ʃ] wurde, daher heute Kirschgarten (ein anderes Beispiel für den Laut­wan­del ist Hirsch).

Chon Chluss?

Ja. Hier endet das Ver­wirrspiel von ich und isch. Ich hoffe, es hat Spaß gemacht!

Ach, ich und die Kirschen (Teil 2)

Von Kristin Kopf

Teil 1 | Teil 2 | Teil 3

Und isch?

Nun ist es so, dass in weit­en Teilen Deutsch­lands der ich-Laut kein ich-Laut mehr ist, son­dern ein isch-Laut — und der ist bes­timmt jedem schon ein­mal begeg­net.1 Gute Mainz­er sagen z.B. Tscheschisch, Geschis­chte, wöschentlisch, … über­all, wo im Hochdeutschen ein ich-Laut zu erwarten ist.

Dieses Phänomen nen­nt man “Koronal­isierung”. Der gesproch­ene Laut ist nicht ganz genau das [ʃ] <sch>, das man aus dem Hochdeutschen ken­nt, oft ist es noch etwas näher am ich-Laut dran. Dazu benutzt Her­rgen (1986) das Sym­bol [ʆ] (das kurz darauf aus dem inter­na­tionalen phonetis­chen Alpha­bet ent­fer­nt wurde — jet­zt richtig wäre wohl [ʃʲ]. Egal, es ist sehr nahe an [ʃ] dran, weshalb ich es ein­fach bei let­zterem belasse).

Nee, Du nisch!” — “Ach … :(“

Der ach-Laut darf nicht mit­spie­len. Er wird so aus­ge­sprochen, wie im Hochdeutschen auch. Das ist auch logisch, wenn man sich an die Assim­i­la­tion zurück­erin­nert: [ʃ] wird ja noch weit­er vorne im Mund aus­ge­sprochen als [ç] (da, wo auch die vorderen Vokale aus­ge­sprochen wer­den — zu denen passt es also per­fekt!), die ganze Bewe­gungserspar­nis für die Zunge wäre futsch, wenn sie nach a, o oder u so weit nach vorne rutschen müsste.

Woher kommt der isch-Laut?

Dass der ich-Laut ver­schwand, ist sehr ungewöhn­lich, denn sowohl im Hochdeutschen als auch in den Dialek­ten des betrof­fe­nen Gebi­ets gibt es ihn!

Ein Blick in den Kleinen Deutschen Sprachat­las zeigt, dass nur ganz, ganz wenige Ort­spunk­te mit [ʃ] belegt sind: 14 Stück ins­ge­samt (das sind 0,23% aller Belege, qua­si alle in Mit­teldeutsch­land). Es han­delt sich also nicht um eine alte dialek­tale Form.

Her­rgen führt einige mögliche Grunde für den Wan­del von [ç] > [ʃ] an (S. 115 ff):

  • phonetisch (d.h. laut­lich): [ç] und [ʃ] klin­gen sehr ähn­lich und [ʃ] ist leichter auszus­prechen (Natür­lichkeit­s­the­o­rie!)
  • pho­nol­o­gisch: [ç] wird nur sehr sel­ten benötigt, um ein Wort von einem [ʃ]-Wort zu unter­schei­den, die Ver­wech­slungs­ge­fahr beim Zusam­men­fall ist also sehr ger­ing (Fälle, bei denen dann Homonymie — also Gle­ichk­lang — entste­ht, sind z.B.: Men­schenMän­nchen, (sie) wis­chtWicht, Lösch­erLöch­er, KirscheKirche)
  • sprachex­tern (fehlende Norm): Was stan­dard­sprach­lich “richtig” ist, wird von der Sprecherge­mein­schaft sehr genau wahrgenom­men, eben­so, was sich für einen örtlichen Dialekt “gehört”. Die Umgangssprache (oder, wie Her­rgen sagt, der “Sub­stan­dard) ist bei weit­em nicht so fest an Regeln und Nor­men gebun­den, sodass die verän­derte Aussprache viel leichter ein­treten und um sich greifen kon­nte. Deshalb kommt die Koronal­isierung so oft in Städten (bzw. dort zuerst) vor, wo regionale Umgangssprachen benutzt werden.

Wann hat das alles angefangen?

Eine der ersten Erwäh­nun­gen des Phänomens stammt von Reis (1892, zitiert nach Her­rgen), der bemerk­te, dass “in Mainz, Darm­stadt und anderen Orten” die Laute [g] und [ç] <ch> mit dem Laut [ʃ] <sch> zusam­men­fie­len (“in den let­zten Jahrzehn­ten”, schreibt er). Der Laut­wan­del ist also ziem­lich neu, 150 Jahre sind für eine Sprache nicht sehr viel.

Beispiele bei Reis sind masche ‘mor­gen’ (vorher war es schon mor­je gewor­den), selisch ’selig’ und das klas­sis­che isch ‘ich’.

Der Südhesse [kann …] den ich-Laut überhaupt nicht sprechen

Die Ver­bre­itung dieses Phänomens her­auszufind­en war recht trick­re­ich — geholfen hat mir schließlich Her­rgens Dis­ser­ta­tion und ein Blick in Königs “Atlas zur Aussprache des Schrift­deutschen in der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land” (1989). Aus let­zterem stammt die Abbil­dung hier — die Orte mit [ʃ] haben schwarze Balken.

ch-konig

Königs Atlas ist zwar mit Vor­sicht zu genießen, denn es wurde für jeden eingeze­ich­neten Ort (ins­ge­samt 44) nur eine Per­son befragt (dazu noch fast alles Freiburg­er Stu­den­ten — das erk­lärt die Beschränkung auf die dama­lige Bun­desre­pub­lik), dafür war die Analyse der Einzelper­son sehr aus­führlich, jede Per­son las ca. 45 Minuten lang Texte und Wortlis­ten vor.

Man sieht also, dass [ʃ] im west­mit­teldeutschen Gebi­et bei den SprecherIn­nen aus Koblenz, Kusel und Wit­tlich in 90 bis 100% nach [i] (also vorderem Vokal) gebraucht wird. Die Mainz­erin hat versagt 😉

Diese Verteilung bestätigt die Fest­stel­lun­gen Her­rgens — er find­et das [ʃ] fast auss­chließlich im mit­teldeutschen Raum.2 Er zitiert einzelne Gram­matiken, die es für die Dialek­te Ripuar­isch, Mosel­fränkisch, Hes­sisch, Rhein­hes­sisch und die Gebi­ete Oden­wald und Ber­gis­ches Land im west­mit­teldeutschen Gebi­et bele­gen und lässt auch den Osten nicht vor: dort kommt es vor allem in Leipzig (hey André!), Dres­den und Chem­nitz vor (also im ober­säch­sis­chen Gebiet).

Ins­ge­samt stellt er fest, dass es kein geschlossenes Gebi­et gibt, son­dern immer Inseln, die meist Großstädte umgeben (im west­mit­teldeutschen Gebi­et sind das Köln, Frank­furt, Mainz, Darm­stadt und Mannheim/Ludwigshafen) — das passt ja gut zum oben erwäh­n­ten sprachex­ter­nen Faktor.

Die Über­schrift ist übri­gens ein wun­der­bares Zitat aus Bauer (1957), zitiert nach Her­rgen: “Der Süd­hesse [kann …] den ich-Laut über­haupt nicht sprechen” — das waren noch Zeit­en, als Sprach­wis­senschaft­lerIn­nen sich so aus­drück­en konnten!

Der Cliffhanger

Im näch­sten und let­zten Teil dieser Serie wird aufgedeckt, wie die Men­schen mit ihrem [ʃ] so umge­hen, wenn kein­er aufpasst!

Weit­er zu Teil 3 …

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Aufgeschnappt

Von Anatol Stefanowitsch

Am Sam­stag mor­gen in Mar­burg im Café an einem Nach­bar­tisch voller Lit­er­atur­wis­senschaftler gehört:

Des Schwäb­sche, des is e Schbraach, die wo man net ern­scht nemme kann. Genau wie’s Ostdeutsche.

Ja, wo hätte ich da anfan­gen sollen?

Ach, ich und die Kirschen (Teil 1)

Von Kristin Kopf

Teil 1 | Teil 2 | Teil 3

Nach­dem mein neuster Beitrag die Tausend-Wort-Gren­ze über­schrit­ten hat­te, habe ich beschlossen, ihn in mehrere Teile (mir schweben drei vor) zu unterteilen. In diesem ersten Teil will ich ein paar Grund­la­gen klären:

<ch> ist nicht gleich <ch>!

Was wir im Deutschen als <ch> schreiben, kann je nach Posi­tion im Wort unter­schiedlich klin­gen — wenn man sich die Wörter mich, Bach und Buch vor­spricht, merkt man’s. Drei ver­schiedene <ch>s. Zur Unter­schei­dung kann man IPA-Zeichen benutzen, also Lautschrift:

  • Das <ch> in mich notiert man als [ç] (man nen­nt es auch “ich-Laut”),
  • das in Bach als [x]
  • und das in Buch als [χ] (die bei­den fasst man meist zusam­men als “ach-Laut”).

Nor­maler­weise ist es aber gar nicht nötig, diese Zeichen zu benutzen, wenn man eine sim­ple Regel beherrscht — und wer mut­ter­sprach­lich Hochdeutsch spricht, tut das. Der vorherge­hende Laut bes­timmt über die Aussprache. Komisch? Nein, logisch.

Assimilation um jeden Preis!

Assim­i­la­tion ist in der Sprach­wis­senschaft die Beze­ich­nung dafür, dass ein Laut einem anderen ähn­lich­er wird. Wenn wir uns den <ch>-Fall anschauen, ist wichtig zu wis­sen, dass man Vokale (denn das sind in den Beispie­len ja die vorherge­hen­den Laute) nach bes­timmten Kri­te­rien ein­teilt — unter anderem danach, wo im Mund sich die Zunge bei der Aussprache befind­et. Das ist schema­tisch im näch­sten Bild zu sehen, stark vere­in­facht (für IPA-Kundi­ge gibt es eine Extra­ver­sion ganz unten):

mundraum-42

Die Vokale sind unge­fähr dort einge­tra­gen, wo sich die Zunge bei der Aussprache befind­et. Es gibt drei Grup­pen, näm­lich vordere (i, ü, e, ö, ä), zen­trale (a) und hin­tere (u, o) Vokale.

Wenn man sich jet­zt anschaut, wo die Zunge bei den jew­eili­gen <ch>s ist, fällt auf: Nach den hin­teren Vokalen ist sie weit­er hin­ten im Mund! Das <ch> passt sich also an den Artiku­la­tion­sort der Vokale an. So verkürzt sich der Weg, den die Zunge zwis­chen den bei­den Laut­en zurück­le­gen muss.

mundraum-cx

Über die Assim­i­la­tion­srich­tung stre­it­et man sich in der Sprach­wis­senschaft — es kön­nte sein, dass der ach-Laut der ursprüngliche Laut war, und alle ich-Laute Assim­i­la­tio­nen sind, oder aber, dass der ich-Laut der ursprüngliche war, und alle ach-Laute Assim­i­la­tio­nen sind. Für let­zteres argu­men­tiert z.B. T. Alan Hall weil der ich-Laut in wesentlich mehr Posi­tio­nen auftritt als der ach-Laut. Die Sprachgeschichte deutet eher auf den ach-Laut hin.

Und zwar …?

Ja, genau: Jet­zt zu den Rrrregeln für das <ch>:

  • Nach zen­tralem oder hin­terem Vokal wird es als ach-Laut realisiert.
  • In allen anderen Posi­tio­nen1 wird es als ich-Laut real­isiert, d.h. nach vorderen Vokalen (mich), nach Kon­so­nan­ten (Milch) und am Wor­tan­fang (Chemie)2.

Diese Aussprachevar­i­anz nen­nt man Allo­phonie.

Und weiter?

Weit­erge­hen wird es mit einem kleinen Aus­blick in Dialek­te und Umgangssprache — wo es sich manch­mal etwas anders ver­hält, mit dem ich- und dem ach-Laut. Vielle­icht mor­gen schon, aber eher erst näch­ste Woche.

Weit­er zu Teil 2 …

Fußnoten:
1Aus­nahme: die Verkleinerungssilbe -chen hat immer [ç].
2Am Wor­tan­fang gibt es wilde Vari­a­tio­nen, das Spek­trum reicht von [k] über [ʃ] <sch> zu [ç] — aber den ach-Laut gibt es im Stan­dard­deutschen an dieser Stelle nie!

Und hier das “richtige” Vokaltrapez:

Vokaltrapez des Deutschen

Vokaltrapez des Deutschen