Button für den Anglizismus des Jahres 2011
Scripted Reality ist schon zum zweiten Mal für den Anglizismus des Jahres nominiert, und — jetzt kann ich es ja verraten — eine Art Favorit der Herzen für mich. Dass es damals nicht auf der Shortlist gelandet ist, lag daran, dass es, wie auch ich mir eingestehen musste, nicht ausreichend weit in den Sprachgebrauch vorgedrungen war. Nur sechs Treffer lieferte das Deutsche Referenzkorpus seinerzeit, von denen zu allem Überfluss 4 von 2009. Auch das Google-News-Archiv lieferte nach meiner Erinnerung weniger als 50 Treffer. Ob das in diesem Jahr anders ist, darauf komme ich gleich zurück. Zunächst ein paar Anmerkungen zur Bedeutung und Geschichte.
Im deutschen Sprachgebrauch bezeichnet Scripted Reality ausschließlich Fernsehformate, die so tun, als ob sie das spontane Verhalten ganz normaler Menschen in ihrer alltäglichen Lebenswelt zeigen, denen aber tatsächlich mehr oder weniger detaillierte Drehbücher zugrunde liegen. Das Wort bezieht sich vorrangig auf Pseudo-Talkshows (wie „Zwei bei Kallwass“), Pseudo-Gerichts- und Polizeishows („Richterin Barbara Salesch“, „Niedrig und Kuhnt“), und Pseudo-Dokus (z.B. „Mitten im Leben“ oder „Die Schulermittler“) aber auch bestimmte Aspekte von Sendungen wie „Big Brother“ oder „Dschungelcamp“ fallen darunter (und werden von den authentizitätsfixierten Fans dieser Sendungen dann kontrovers diskutiert).
Diese Bedeutung hat das Wort auch im englischen Sprachraum, wo es dann meistens in Komposita wie scripted reality (television) show/series auftritt. Tatsächlich ist das Wort aber älter als die betreffenden Fernsehformate. Der erste Treffer, den ich bei Google Books finden konnte, stammt aus einem Werk des Literaturwissenschaftlers Joseph O. Dewey von 1990, in dem er über eine Figur aus Robert Coovers „The Origin of the Brunists“ schreibt. Es handelt sich um den Herausgeber einer Lokalzeitung, der seine Aufgabe darin sieht, die Unordnung des Weltgeschehens für seine Leser/innen in geordnete und oft teilweise fiktionalisierte Erzählungen zu verpacken. Als er in einer Szene auf eine Frau wartet, mit der er sich zu einem romantischen Treffen verabredet hat, beginnt er, den Verlauf des Abends vorab aufzuschreiben. Dewey beschreibt das so:
In a ludicrous moment that nevertheless points up his radical dependence on scripted reality, he decides, “Better write it out.…” [Joseph Dewey, In a Dark Time, 1990]
Auch die Treffer in den folgenden Jahren beziehen sich auf die „scripted reality“ von literarischen Texten. Die erste in Verwendung im Google-Books-Archiv, die der deutschen Bedeutung entspricht, ist laut Google von 2003, aber tatsächlich von 2005:
Mostly, the American television coverage of the Iraq invasion in spring 2003 was akin to scripted “reality TV,” starting with careful screening of participants. [Fairness & Accuracy in Reporting, Juli/August 2005, vgl. Google Books]
Im Google-News-Archiv findet sich das Wort schon seit 2001 in dieser Bedeutung, ein früher Treffer ist dieser:
Affleck and Damon also are developing ABC’s Push, Nevada, a scripted reality series in which viewers join a quest for a hidden pile of cash. [USA Today, 24.7.2001]
Was das Wort scripted reality show für mich interessant macht, ist seine Doppeldeutigkeit: Da es sich um ein Kompositum aus einem Adjektiv und zwei Substantiven handelt, gibt es zwei mögliche Wortstrukturen, mit zwei leicht unterschiedlichen Interpretationen.
Syntaktische Analyse des Wortes Scripted Reality Show
Entweder, es handelt sich um eine reality show, die nach Drehbuch (also scripted) produziert wird (siehe Abbildung (a)); so war das Wort ursprünglich gemeint, was man auch an der Setzung der Anführungszeichen im Zitat von 2005 sieht. Das Wort scripted bezieht sich hier auf show, was nur deshalb zu einem leichten semantischen Widerspruch führt, weil diese show gleichzeitig die Realität zeigen soll. Oder, es handelt sich um eine show, die eine scripted reality zeigt (siehe Abbildung (b)). Hier wäre es die Realität selbst, die nach Drehbuch abläuft — das führt zu einem grundlegenden Widerspruch, denn die Realität läuft ja unserer Vorstellung nach spontan und ungeplant ab. Die zweite Interpretation schließt damit den Kreis zum literaturwissenschaftlichen Ursprung des Wortes (und in der Literaturwissenschaft weiß man natürlich schon lange, dass es bezüglich der Ge-scripted-heit bestenfalls einen graduellen Unterschied zwischen der Kunst und dem echten Leben gibt).
Im Englischen wird inzwischen häufig einfach nur von scripted reality gesprochen, wenn das Fernsehformat gemeint ist — diese Interpretation hat also die ursprüngliche verdrängt. Im Deutschen war das sogar von Anfang an die bevorzugte Interpretation. Der erste deutsche Treffer im Google-News-Archiv aus dem Jahr 2004 verwendet den Begriff in dieser Form:
Für Arabella unangenehm: Sie muss ihre Prinzipien über Bord werfen. Denn in ihrer neuen Show wird ein Gast ein Geständnis ablegen, der andere Gast hinter einer Trennwand lauschen. Das Problem: Keiner der beiden ist echt, sie sind Laiendarsteller, die sich wegen eines erfundenen Konflikts in die Wolle kriegen. „Scripted Reality“ nennen die Experten die neue, besonders bei Nachmittagsshows verbreitete Form der Dramaturgie. Der Zuschauer findet mittlerweile die erfundenen Storys spannender und mag keine normalen Talks mehr. [Stern.de, 3.6.2004]
Und der erste deutsche Treffer auf Google Books aus dem Jahr 2005 (auch dieser übrigens mit Bezug auf Arabella Kiesbauer), verwendet das dreigliedrige Kompositum Scripted-Reality-Sendung und die Setzung der Anführungszeichen zeigt deutlich, dass hier die Interpretation aus Abbildung (b) zugrunde gelegt wird:
Charakteristisch hierfür ist der alltägliche Müll an „scripted-reality“-Sendungen, in denen echte Moderatorinnen moderieren, echte Psychologinnen therapieren, echte Richter urteilen, „aber ihre Fälle sind nicht nur fiktiv, sondern absurd“. [Link]
Das Wort Scripted Reality oder [Scripted Reality]-Sendung/Format/Show erinnert uns so bei jeder Verwendung an die Tatsache, dass die Scripted-Reality-Show nur ein Extremfall dessen ist, was einen großen Teil unserer Realität ausmacht: Ein Abspulen vordefinierter kultureller Skripte, ein Leben, das ständig versucht, sich nach medialen Vorlagen zu gestalten. Die Scripted-Reality-Show ist nicht ungewöhnlich, weil sie eine nur scheinbar authentische Realität zeigt — wir sind ungewöhnlich, weil wir unsere Realität tatsächlich für authentisch halten.
Abschließend die Frage nach der Häufigkeit. Das Wort Scripted Reality ist sicher noch nicht im sprachlichen Alltag einer Mehrheit angekommen, aber es hat einen deutlichen Häufigkeitssprung gemacht: Vor 2009 finden sich nur vereinzelte Treffer im Google-News-Archiv, 2009 waren es dann acht, 2010 fünzig, und im letzten Jahr vervierfachte sich die Treffermenge auf 222. Damit gehört es für mich klar in die Endrunde. Allein im Januar 2012 gab es übrigens schon über vierzig Treffer, ein Hinweis darauf, dass das Wort immer noch im Kommen ist.
Wenn es diesmal wieder leer ausgeht, hat es gute Aussichten, es im nächsten Jahr noch einmal zu versuchen. Und da auch der Anglizismus des Jahres einem Skript folgt — nämlich dem von Sportereignissen, Castingshows und anderen inszenierten Wettbewerben, werde ich dann alles tun, um es zu einer Art Menderes unserer Wörterwahl hochzustilisieren, ein Wort, dessen größte Sehnsucht es ist, einmal den begehrten Titel zu tragen, und das sich die Erfüllung dieser Sehnsucht allein durch seine Beharrlichkeit verdient hat.
[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Version enthält möglicherweise Korrekturen und Aktualisierungen. Auch die Kommentare wurden möglicherweise nicht vollständig übernommen.]