Archiv des Autors: Susanne Flach

Lebendige bedrohte Wörter

Von Susanne Flach

Gestern war mal wieder “Tag der deutschen Sprache”. So genau war mir nie richtig klar, was die Ini­tia­toren damit wirk­lich bezweck­en wollen. Naja, nutzen Sie halt mal die deutsche Sprache! Brüllen Sie schnell zehn Mal “deutsch” in Großbuch­staben! Stop­pen Sie den sint­flu­tar­ti­gen Sprach­wan­del mit bloßen Hän­den und passen Sie auf, dass Ihnen kein Anglizis­mus durch die Fin­ger glitscht! Und ver­mei­den Sie bloß sone neu­modis­chen Indefinitdemonstrativartikel!

Die Badis­che Zeitung, die zu diesem Anlass bere­its im let­zten Jahr mit einem “Floskel-Alpha­bet” was Volon­tieren­des beschäftigt hat, macht dieses Jahr mit einem ABC der “Bedro­ht­en Wörter” auf. These Ergeb­nis: “Immer mehr Begriffe, die wir lieben, ger­at­en in Vergessen­heit.” Dieser Spruch set­zt sich zwar sofort dem Ver­dacht eines Oxy­morons aus, weil ein Wort ja per Def­i­n­i­tion nur dann ausster­ben kann, wenn es nicht mehr genutzt wird. Dieser Ein­wand wäre jet­zt aber nur unnötig verkürzend: mir kann ja ein Wort gefall­en und ich kann es nutzen — aber wenn es son­st kein­er tut, werde ich mein Lieblingswort mit ins Grab nehmen. Umgekehrt gilt natür­lich, dass nicht jedes Wort, was ich als sel­ten anse­he oder empfinde, auch sel­ten ist.

In der Hoff­nung, dass alle mit der fol­gen­den Def­i­n­i­tion leben kön­nen, verknüpfen wir an ‘bedro­ht’ die Erfül­lung fol­gen­der Bedingungen*:

  1. Es ist in der Ver­gange­heit über­haupt genutzt worden.
  2. Es ist in der Ver­gan­gen­heit (dauer­haft) deut­lich häu­figer genutzt wor­den, als heute.

AutorIn “bwa” von der Badis­chen Zeitung set­zt fol­gende Begriffe auf die Liste der bedro­ht­en Wörter:

aber­mals, blümer­ant, Chose, dort**, ete­petete, frohlock­en, garstig, hanebüchen, Ingrimm, Jubelpers­er, knorke, Lab­sal, Meschugge, Nuck­elpinne, Ohren­schmaus, poussieren, Quas­sel­strippe, Ratze­fum­mel, Som­mer­frische, Schurigeln, töricht, unhold, Vet­ter, Wen­de­hals, Xan­thippe, Yup­pie, Zierrat

Auf welch­er sub­jek­tiv­en Grund­lage die Liste erstellt wurde, bleibt das Geheim­nis von “bwa”. Sie basiert aber sich­er nicht auf wirk­lichem Sprachge­brauch. Dabei wär das sog­ar recht ein­fach gewe­sen: Der fol­gen­den Ein­grup­pierung liegt eine kurze Suche über GoogleN­grams zugrunde (kon­ser­v­a­tiv bew­ertet, Zeitraum 1800–2000, smoothing=3):

Die absoluten Stars der Liste, da ihre Fre­quenz zumin­d­est bis 2000 kon­tinuier­lich ansteigt — mal mehr, mal weniger -, sind blümer­ant, Chose, ete­petete, hanebüchen, Jubelpers­er, knorke, Meschugge, Quas­sel­strippe und Yup­pie. Bei eini­gen dieser Wörter ist gegen Ende eventuell ein klein­er Abfall rein­in­ter­pretier­bar — aber es dürfte a) fraglich sein, ob dies ein ein­deutiger Trend ist und b) trotz der Tat­sache, dass Google­Books bei 2000 aufhört, eher unwahrschein­lich sein, dass sie deshalb als ‘bedro­ht’ emp­fun­den wer­den müssen.

Damit kein­er ohne bunte Bild­chen nach Hause gehen muss, eine kleine Auswahl aus der Kat­e­gorie “hat Kar­riere vor sich”:

Größ­ten­teils unverän­dert (lies: sta­bil) bzw. unter Umstän­den sehr stark schwank­end, aber keineswegs im Unter­gang begrif­f­en sind garstig, Ohren­schmaus, Som­mer­frische, schurigeln, Unhold, Vet­ter, Wen­de­hals (den steilen Anstieg ab den 80ern ignoriere ich geflissentlich) und Xan­thippe. Keine Aus­sagen erlaubt NGram zu Nuck­elpinne und Ratze­fum­mel. Und zumin­d­est bei Nuck­elpinne ist in mein­er sub­jek­tiv­en Ein­schätzung wed­er (1) noch (2) erfüllt — es gren­zt irgend­wie schon fast an einen Okkasionalismus.

Ratze­fum­mel klingt für mich nach Kinder­sprache. Eine nicht-repräsen­ta­tive Umfrage unter meinem einzi­gen Face­book-Kon­takt, der in der 10. Klasse derzeit noch die Schul­bank drückt, hat das bestätigt: ‘Nein, in der Grund­schule [vielle­icht,] aber jet­zt nicht mehr’ — immer­hin kan­nte er es. Um die Über­leben­schan­cen von Ratze­fum­mel muss man sich aber keine Sor­gen machen: die hand­voll Belege aus dem Wortschatz­por­tal der Uni Leipzig beze­ich­nen mit Ratze­fum­mel sin­niger­weise eine Art Papstgewand.

[ke hat meine Quelle kon­trol­liert und mich darauf aufmerk­sam gemacht, dass mit Ratze­fum­mel in diesen Bele­gen immer noch ein Radier­gum­mi gemeint ist, dies­mal mit dem Kon­ter­fei des Pap­stes. Jet­zt weiß ich gar nicht, ob ich mich für ne Schlu­drigkeit entschuldigen muss oder mich für die Erfind­ung der Bedeu­tungser­weiterung ‘Pap­st­ge­wand’ loben darf.]

Kri­te­rien (1) und (2) erfüllen lediglich aber­mals, frohlock­en, Ingrimm, Lab­sal, poussieren und töricht. Aber bevor wir bekla­gen, dass zum Beispiel aber­mals vom Ausster­ben bedro­ht ist: das Wort ist ein­fach noch viel zu häu­fig, um von nie­man­dem mehr ver­wen­det oder gar ver­standen zu werden.

Natür­lich sind die vorgeschla­ge­nen Wörter alle sehr unter­schiedlich fre­quent und damit schon poten­tiell unter­schiedlich ‘bedro­ht’. Und natür­lich bewe­gen wir uns bere­its weit unterm Promille­bere­ich, wo niedrigfre­quente Lex­eme auch mal schnell weg vom Fen­ster sind (wom­it aber die Wahrschein­lichkeit steigt, dass wir sie gar nicht ver­mis­sen wer­den). Im Großen und Ganzen: ganz so düster ist es halt nicht mit diesen Kan­di­dat­en — im Gegen­teil: der über­wiegende Anteil dieser Liste bedro­hter Wörter erfreut sich inner­halb seines Fre­quenzbere­ichs bester Gesundheit.

Und falls doch nicht: Ohne Ingrimm lässt es sich leichter leben.

 

PS: Die BILD-Zeitung lis­tet “die zehn läng­sten deutschen Wörter” (Link kön­nen Sie derzeit ver­mut­lich noch googeln):

  1. Grund­stücksverkehrs­genehmi­gungszuständigkeit­süber­tra­gungsverord­nung
  2. Rind­fleis­chetiket­tierungsüberwachungsauf­gabenüber­tra­gungs­ge­setz
  3. Verkehrsin­fra­struk­tur­fi­nanzierungs­ge­sellschaft
  4. Gle­ichgewichts­dichte­gra­di­en­ten­zen­trifu­ga­tion
  5. Elek­triz­itätswirtschaft­sor­gan­i­sa­tion­s­ge­setz
  6. Verkehr­swege­pla­nungs­beschle­u­ni­gungs­ge­setz
  7. Hochleis­tungs­flüs­sigkeitschro­matogra­phie
  8. Restrik­tions­frag­mentlän­gen­poly­mor­phis­mus
  9. Telekom­mu­nika­tion­süberwachungsverord­nung
  10. Unternehmenss­teuer­for­ten­twick­lungs­ge­setz

Diese sollen “in min­destens vier Tex­ten belegt” sein. Ja, die meis­ten ver­mut­lich hier, hier, hier und hier.

*Danke an Dierk Haa­sis für die Lösung eines logis­chen Fehlers in der Bedinungsbedingung.

**Was das hochfre­quente dort dort (oder hier?) zu suchen hat, entzieht sich meinem Inter­pre­ta­tion­shor­i­zont. Begrün­det wird es der­weil mit ein­er Art Deixis-Problem:

Vor­sicht auf der A5 zwis­chen Freiburg-Süd und Freiburg-Mitte. Hier kommt Ihnen einen Falschfahrer ent­ge­gen”. “Hier?” Sätze wie diesen sagt der Mann im Radio fast jeden Tag. Richtig sind sie den­noch nicht. Die Sache mit dem Falschfahrer mag stim­men, die Sache mit dem “Hier” aber nicht. Dass auch dur­chaus beg­nadete Reporta­gen­schreiber das Wörtchen “hier” zunehmend falsch ein­set­zen, macht es nicht bess­er. “Hier” ist stets da, wo sich Hör­er oder Leser ger­ade aufhal­ten. Am Früh­stück­stisch, im Bett oder son­st wo. Aber nicht zwin­gend auf der A5 zwis­chen Freiburg-Mitte und Freiburg-Süd.

Ja, aber die HörerIn­nen, die vom Geis­ter­fahrer poten­tiell betrof­fen sind, gehören eben auch zu den HörerIn­nen. So ein­fach ist das. Und möglicher­weise gibt es einen psy­chol­o­gis­chen Vorteil, so eine Art Sig­nal­wirkung, dass hier gegenüber einem dort bess­er vor der Gefahr warnt, weil man mit hier seine unmit­tel­bare Umge­bung assozi­iert. Wer weiß.

Ambiguitätenolympiade

Von Susanne Flach

Der Beitrag hätte natür­lich vor dem Olympia-Overkill vor drei Wochen erscheinen sollen oder zumin­d­est in den 16 Tagen danach, aber man will son Fest ja guck­en und nicht drüber schreiben. Also: Was bedeutet Olympiade und was ist ange­blich so falsch daran, es zu nutzen, wenn man das Sport­fest selb­st meint?

Foren sind ja voll davon. Und meist endet die Diskus­sion damit: “Das heißt Olymp­is­che Spiele. Olympiade ist nur die Zeit zwis­chen den Spielen.”

Heute haue ich nicht in die “wenn es aber von ein­er aus­re­ichend großen Zahl von Sprechern…”-Kerbe. Und Kor­po­ra habe ich für diesen Beitrag auch nicht gewälzt. Was bleibt ist die sub­jek­tive Ein­schätzung, dass eine nicht geringe Menge an Repor­terIn­nen, Trainer­In­nen und Sport­lerIn­nen selb­st Olympiade benutzten, um auf das aktuelle Ereig­nis zu referenzieren.

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Neues von den Humorterroristen

Von Susanne Flach

Erle­ichterung kön­nte sich bre­it machen: Es gibt derzeit nicht nur Olympia. Halt, moment…

Die Humorter­ror­is­ten vom Vere­in Deutsche Sprache (VDS) melden sich im Fokus zu Wort, weil sie wieder nen Preis erfun­den und unters Jour­nal­is­ten­volk gejubelt haben („Dscham­mee­ka-Preis“). Damit kri­tisieren sie einen ARD-Reporter auf­grund dessen ange­blich­er und ange­blich falsch­er Aussprache von Jamai­ka*:

Ich habe nichts dage­gen, wenn Reporter Län­der in ihrer jew­eili­gen Lan­dessprache aussprechen. Dann hieße die Insel aber ‚Dschömei­ka‘“, belehrte Krämer den Reporter. „Dscham­mee­ka“ wür­den den Namen vor allem Amerikan­er aussprechen.

Seufz. Was Krämer hier mut­maßlich ver­sucht, ist die Aussprache des ersten Vokal als [ɐ] bzw. [ə] zu kri­tisieren, wo es doch eigentlich [ø:] heißen soll. Und beim zweit­en Vokal hauen wir mit [e:] daneben, obwohl es natür­lich [aɪ] heißen soll (ver­mut­lich meint er aber [eɪ]). (Um den Zweifels­fall beim Anlautkon­so­nan­ten [tʃ], [dʒ] oder [j] geht’s ihm offen­bar nicht.) Dem­nach entspräche [dʒɐme:kɐ] bzw. [dʒəme:kə] nur der amerikanis­chen Aussprache, nicht der “jew­eili­gen Lan­dessprache”, die ange­blich also [dʒø:meɪkə] heißen soll.

Abge­se­hen davon, dass der gerun­dete Vokal [ø:] in jamaikanis­chen Vari­etäten des Englis­chen gar nicht vorkommt und [e] hier keinen Diph­thong [eɪ] bildet (Devon­ish & Har­ry 2004), fra­gen wir doch ein­fach jeman­den, der sich mit der Lan­dessprache in Jamai­ka auskennt:

Wenn ich mich nicht mehrfach ver­hört habe, ist da wed­er [ø:] noch [eɪ].

*Der ARD-Reporter zeigt sich über­rascht — und will es nicht gewe­sen sein. Ob Sie’s waren oder nicht, ist aber egal, lieber Herr Hark, natür­lich haben Sie den Preis nicht ver­di­ent. Aber sagen Sie das nicht zu laut, man kön­nte Ihnen vor­w­er­fen, Sie wür­den Humorter­ror­is­ten ernst nehmen.

Literatur

Devon­ish, Hubert & Otele­mate G. Har­ry. 2004. Jamaican Cre­ole and Jamaican Eng­lish: phonol­o­gy. In: Bernd Kort­mann & Edgar W. Schnei­der [Hrsg]. A Hand­book of Vari­eties of Eng­lish. Vol­ume 1: Phonol­o­gy. De Gruyter: 450–480.

Das weibliche Airbus

Von Susanne Flach

Am Dien­stag wäre Amelia Earhart 115 Jahre alt gewor­den. Zeit, sich mal damit zu beschäfti­gen, welch­es Genus Flugzeuge denn so haben. Denn ver­mut­lich verge­ht keine Ein­führung in die Englis­che Lin­guis­tik ohne den Zusatz, dass das auf biol­o­gis­chem Geschlecht beruhende Genussys­tem des Englis­chen Aus­nah­men zulässt: Schiffe, Autos und Flugzeuge sind da ange­blich gerne mal feminin.

Zum Englis­chen kom­men wir später — schauen wir mal kurz ins Deutsche: Weit­er­lesen

Humor

Von Susanne Flach

Damit hier auf Dauer nicht der Ein­druck entste­ht, Sprach­wis­senschaft­lerIn­nen hät­ten keinen Humor und/oder möcht­en nur an Nör­glern rum­nörgeln, gibt es ab sofort in unregelmäßiger Abfolge einen Humor­beitrag. Ges(t)ammeltes Meta.

Heute ging in mein­er Face­book-Time­line fol­gen­der Witz herum, den Arnold Zwicky 1992 in sein­er “Pres­i­den­tial Adress” der Lin­guis­tic Soci­ety of Amer­i­ca erzählte (zitiert in Gold­berg 2006: 19):

A math­e­mati­cian, a physi­cist, an engi­neer, and a lin­guist are try­ing to decide if all odd num­bers are prime. The math­e­mati­cian says, “one’s prime, 3’s prime, 5’s prime, 7’s prime, 9’s not prime, so no.” The physi­cist says, “one’s prime, 3’s prime, 5’s prime, 7’s prime, 9’s not prime, but maybe that’s exper­i­men­tal error.” The engi­neer says, “one’s prime, 3’s prime, 5’s prime, 7’s prime, 9’s prime … ”

The lin­guist says, “one’s prime, 3’s prime, 5’s prime, 7’s prime. Aha! We have a uni­ver­sal gen­er­al­iza­tion. Nine doesn’t seem to be prime, but it MUST be prime at some under­ly­ing lev­el of representation!”

(Inge­nieurIn­nen unter Ihnen müssen mir aber die Inge­nieurin erklären.)


Gold­berg, Adele. 2006. Con­struc­tions at work. The nature of gen­er­al­iza­tion in lan­guage. Oxford.

Du, Sie, Müller’s Vieh

Von Susanne Flach

Nebe­nan im Sprachlog hat Ana­tol unter dem Ver­dacht der Inhalt­sleere die Frage gestellt, was seine LeserIn­nen so in welchem Kom­mu­nika­tion­skanal siezen. Das hat mich drin­gendst daran erin­nert, dass ich seit Jahr und Tag mal was zum ‘Siezen im Englis­chen’ schreiben wollte.

Das kommt so: Mit zunehmender Dauer tendiert die Wahrschein­lichkeit gegen 1, dass jemand in ein­er Diskus­sion zur Anrede im Englis­chen behauptet, dass im Englis­chen “streng genom­men” nur gesiezt wird: Das “You” ist kein “Du”, son­dern ein “Sie”, Die Du-Form … ist schon seit 200 Jahren aus dem Wortschatz ver­schwun­den oder Das Englis­che “you” bedeutet nicht “Du”, son­dern entspricht eher ein­er Anre­de­form, die der alt­deutschen Form “Ihr” näherkommt, einem Plur­al, der Respekt bezeugt.

Obwohl sprach­his­torisch nicht völ­lig daneben, ist die Begrün­dung um und bei immer die Gle­iche: Zu grauer Vorzeit gab es thou für die 2. Per­son Sin­gu­lar und you für die 2. Per­son Plur­al. Erstere (thou.2SG) sei dabei ver­loren gegan­gen und nur you.2PL ist übrig geblieben. Ergo: Im Englis­chen wird eigentlich gesiezt.

Das ist aber gle­ich ein dreifach­er Trugschluss. Der erste Trugschluss, an dessen heißen Punk­ten ich mir gar nicht die Fin­ger ver­bren­nen will, ist der, dass die Anre­destrate­gien in bei­den Sprachen irgend­wie eins-zu-eins aufeinan­der über­trag­bar wären. Der Trugschluss beschreibt die Vorstel­lung, dem deutschen Siezen im Englis­chen eine Entsprechung gegenüber­stellen zu kön­nen. Dass das Unsinn ist, kann jed­er bestäti­gen, der bei­de Sprachen auch prag­ma­tisch ganz gut beherrscht und einem Mono­lin­gualen die Anre­dekon­ven­tio­nen der jew­eils anderen Sprache erk­lären möchte. Natür­lich kön­nte man argu­men­tieren, dass man an der Ver­wen­dung von Vor­na­men oder Nach­na­men eine gewisse Duzen-Siezen-Äquiv­alenz erken­nen kann. Das Prob­lem ist aber deut­lich zu vielschichtig und ich möchte mich hier nicht im Dic­kicht ver­hed­dern, das ver­sucht, ein zwei­di­men­sion­ales mor­phosyn­tak­tis­ches Par­a­dig­ma ein­deutig auf ein min­destens vierdi­men­sion­ales Sys­tem von Dis­tanz, Respekt, Kon­text und soziokul­turellen Nor­men anzuwen­den. Darum soll’s mir hier nicht gehen.

Der zweite Trugschluss ist mor­phosyn­tak­tis­ch­er Natur. Richtig ist zunächst, dass for­mal nicht zwis­chen you.2SG+V und you.2PL+V unter­schieden wer­den kann. Das ist jet­zt natür­lich wenig erstaunlich, denn die einzige Präsensver­balflex­ion des Englis­chen find­et sich in der 3. Per­son Sin­gu­lar Indika­tiv (zumin­d­est in der Stan­dard­va­ri­etät und mit Aus­nahme von {BE}).

Dieser Trugschluss sug­geriert aber, dass im Englis­chen die Zeile ‘2SG’ leer ist, was natür­lich nicht stim­men kann (mehr dazu später). Wenn wir jet­zt mal die sozi­olin­guis­tis­che Siezen-Duzen-Unter­schei­dung weglassen, gibt es auch im Englis­chen die seman­tis­che Unter­schei­dung you ‘du’ und you ‘ihr’ — you ist da im Ver­gle­ich zum Deutschen ambig; aber immerhin.

1SG I am ich bin
2SG you are du bist
3SG he/she/it is er/sie/es ist
1PL we are wir sind
2PL you are ihr seid
3PL they are sie sind

(Wenn wir’s also wirk­lich streng nehmen wür­den, ist Siezen schon allein deshalb Unfug, weil you.PL natür­lich ‘ihr’ entspricht. Aber sind wir mal nicht so.)

Was ver­loren gegan­gen ist, ist die gram­ma­tis­che Unter­schei­dung von 2SG und 2PL, nicht eine 2SG-Form an sich. Die fol­gende Darstel­lung der his­torischen Entwick­lung ist stark vere­in­facht, nichtzulet­zt, weil nur die Nom­i­na­tiv-For­men angegeben sind und hier noch der Dual aus dem Altenglis­chen aus­geklam­mert ist (Smith 1999: 77, 113, 146):

AE ME FNE ModE ModE (dialektal/
kontextuell)
2SG.NOM þu thou thou you you/thou (arch.)
2PL.NOM ge ye ye/you you yous(e)/yiz/yez

An dieser kurzen Über­sicht ist rel­a­tiv klar erkennbar, dass you [ju:] die ‘Weit­er­en­twick­lung’ des 2PL-Pronomens ist und der Bruch beim 2SG-Pronomen im Früh­neuenglis­chen (FNE) liegt. Die Erk­lärung geht so: <g> wurde im Altenglis­chen (AE) prä­vokalisch [j] aus­ge­sprochen und <þ> als [ð], wie im heuti­gen they. Aber es bedeutet eben nicht, dass die 2SG-Form an sich ver­schwun­den ist — die ältere Form thou wurde nach ein­er ziem­lich kom­plex­en Vari­a­tion im thou/you-Kos­mos von you ver­drängt, welche dabei vom Plur­al-Kon­text auf den Sin­gu­lar-Kon­text aus­geweit­et wurde und die Funk­tion you.2SG ‘du’ über­nahm. Die Gründe dafür find­en sich vor allem im stilis­tis­chen und sozio­prag­ma­tis­chen Bere­ich (Busse 2002). Die ganze Geschichte ist in Wahrheit z.B. in Verbindung mit dem vor­ange­gan­genen Kasus­ab­bau sehr viel kom­plex­er, aber für den Moment soll das reichen.

Hier kön­nen wir ein Konzept aus der Sozilin­guis­tik ins Spiel brin­gen, die soge­nan­nte T-/V‑Un­ter­schei­dung (Brown & Gilman 1960). Anders aus­ge­drückt: thou hat früher nicht nur eine Numerusun­ter­schei­dung ermöglicht (2SG), son­dern auch als T‑Pronomen fungiert (von lat. tu ‘du’), you/ye dage­gen als V‑Pronomen (von lat. vos ‘ihr/Sie’). So gab es ein Hon­ori­fikum, mit dem man auch nur eine Per­son ansprechen kon­nte, also zusät­zlich zu du/ihr auch eine entsprechende du/Sie-Unter­schei­dung tre­f­fen kon­nte — die soge­nan­nte T-/V‑Un­ter­schei­dung. Diese Unter­schei­dung existiert im heuti­gen Englisch aber nicht mehr — und you erfüllt als you.2SG die Funk­tion ‘eine mir gegenüber­ste­hende Per­son’ und als you.2PLzwei oder mehrere mir gegenüber­ste­hende Personen’.

Wenn jet­zt also jemand sagt, im englis­chsprachi­gen Raum wird “eigentlich” gesi­et­zt, der sagt damit ja, dass die Kat­e­gorie 2SG ungenutzt dastünde (s.o.). Dass das nicht richtig ist, zeigt sich erstens in der Numerusun­ter­schei­dung der Reflex­ivpronom­i­na, wo your­self.2SG und your­selves.2PL klar die Exis­tenz der Numeruskat­e­gorie bele­gen. Zweit­ens tritt you.2PL dialek­tal, kon­textab­hängig und umgangssprach­lich als yous(e)/yez/yiz.2PL auf und ermöglicht so eine Dis­am­bigu­ierung von you.SG und you.PL. Wenig über­raschend find­en sich alle Belege für yous(e), youz(e), yiz, oder yez im BNC dementsprechend in den Gen­res der gesproch­enen Sprache wie ‘Fic­tion’, ‘Oral His­to­ry’, ‘Inter­view’ oder ‘Con­ver­sa­tion’.

Iro­nis­cher­weise ist eine mögliche Erk­lärung für das Ver­schwinden des thou.2SG aus dem Pronom­i­nal­par­a­dig­ma der Stan­dard­sprache, dass man zu Shake­spear­es Zeit­en you.2PL (damals V‑Form) in ein­er Höflichkeitsspi­rale auch für Anre­den nutzte, für die man bis dahin die T‑Form thou nutzte. Die Ironie dabei ist, dass thou jet­zt archaisch ist und abge­se­hen von weni­gen Dialek­tver­wen­dun­gen heute auf religiöse und erzkon­ser­v­a­tive Kon­texte beschränkt ist: Thou, my Lord! ‘Du, mein Gott’, also gewis­ser­maßen jet­zt eine höhere For­mal­ität aufweisen. Der Prozess in der Stan­dard­sprache war aber um 1700 abgeschlossen, you der unmarkierte Fall für die all­ge­meine Anrede und die syn­tak­tis­che V-/T‑Un­ter­schei­dung somit wegge­fall­en (Busse 2002: 3, OED).

Der dritte Trugschluss ist deshalb ety­mol­o­gisch. Nur weil etwas irgend­wann (hier: so vor, hm, 300–400 Jahren) mal so und so war, heißt das nicht, dass es noch so ist bzw. dass es noch so sein sollte. Heute wird gibt es im Englis­chen keine gram­ma­tis­che V-/T‑Un­ter­schei­dung. Selb­st die dialek­tale Ver­wen­dung von thou ist auf einen sehr inti­men-famil­iären Kon­text beschränkt. Wenn, dann wer­den Dis­tanz, Respekt oder son­stige Hier­ar­chie­un­gle­ich­heit­en auf andere Weise aus­ge­drückt. Aber gesiezt wird hier bes­timmt niemand.

(Genau­so däm­lich ist es umgekehrt zu behaupten, im Englis­chen gäbe es kein Sie. Soll­ten Sie das aus meinen Zeilen lesen oder gele­sen haben, gehen Sie zurück zu Trugschluss 1 und 2.)

Ach so ja: Die Großschrei­bung der Anrede Sie im Deutschen ist irgend­wie auch nur eine schrift­sprach­liche Kon­ven­tion, die zum Beispiel das strafrechtlich­es Beziehungs­ge­flecht bei ich wurde von Ihnen/ihnen kranken­haus­reif geschla­gen dis­am­bigu­iert. Hände hoch, wer beim siezen an eine abwe­sende dritte Per­son im Plur­al denkt? Mor­phosyn­tak­tisch nutzen wir im Deutschen für die Höflichkeit­sanrede die 3.PL, was sprachty­pol­o­gisch übri­gens sehr ungewöhn­lich ist (Helm­brecht 2005, 2011). Denkense mal drüber nach, bevor Sie behaupten, im Englis­chen wird gesiezt: What did They do yes­ter­day? und Ihren gegenüber meinen.

Wie würde das denn klin­gen, wenn Sie eine Duzbekan­ntschaft auf Englisch mal übel beschimpfen möchten?

Fuck thou?

PS: Also, Ana­tol, wie du siehst, sieze ich im Blog. Es lässt sich im Zweifels­fall leichter beleidigen.


Brown, Roger & Albert Gilman. 1960. The pro­nouns of sol­i­dar­i­ty and pow­er. In: Sebeok, Thomas [ed]. Style in Lan­guage. MIT Press: 253–276.

Busse, Ulrich. 2002. Lin­guis­tic vari­a­tion in the Shake­speare cor­pus — mor­pho-syn­tac­tic vari­abil­i­ty of sec­ond per­son pro­nouns. Ben­jamins.

Helm­brecht, Johannes. 2006. Typolo­gie und Dif­fu­sion von Höflichkeit­spronom­i­na in Europa. Folia Lin­guis­ti­ca 39(3–4): 417–452. [Link zu ein­er frei ver­füg­baren Ver­sion von 2005, Arbeitspa­piere des Sem­i­nars für Sprach­wis­senschaft der Uni­ver­sität Erfurt (18).]

Helm­brecht, Johannes. 2011. Polite­ness Dis­tinc­tions in Pro­nouns. In: Dry­er, Matthew S. & Mar­tin Haspel­math [eds]. The World Atlas of Lan­guage Struc­tures Online. Max Planck Dig­i­tal Library, chap­ter 45. [Link] (06. Mai 2012).

Smith, Jere­my J. 1999. Essen­tials of Ear­ly Eng­lish. Rout­ledge.

[AdJ 2011] Der Kreisläufer: circlen

Von Susanne Flach

Für diesen Kan­di­dat­en eigne ich mich vielle­icht ganz gut: Ich habe zwar ein Kon­to bei Google+, weil ich nach aus­bleiben­den Ein­ladun­gen ganz stolz war, dass ich mich selb­st anmelden kon­nte. Ich bin aber in keinem seine oder ihre Kreise, habe noch nie­man­den eingekreist (haka!) und nutze Google+ nur dann zur kurzfristi­gen Egopflege, wenn ein Link auf meine Seite geht. Ich bin also irgend­wie unvor­ein­genom­men, was cir­clen ange­ht — in die eine, wie in die andere Rich­tung. Dafür müssen Sie mir im Umkehrschluss die eine oder andere Unge­nauigkeit zu tech­nis­chen Funk­tio­nen bei Google+ nach­se­hen, ja?

Die Nominierung für cir­clen kommt von Hannes:

Ich schlage “cir­clen” vor. Es umschreibt das “einkreisen” ein­er Per­son in einen virtuellen Per­so­n­enkreis auf Google+ – http://www.plus.google.com. Damit rei­ht es sich her­vor­ra­gend in die bere­its seit Jahren übliche Ver­wen­dung von anglo-amerikanis­chen Web2.0‑Begriffen, wie z.B. “liken” oder “sharen”.

(ver­wen­det in vie­len Blogs und Beiträ­gen in und um G+, z.B. hier.)

impala sieht die Nominierung skep­tisch und meint:

cir­clen habe ich noch nie gehört und ich habe sog­ar einen Account bei google+. Eine kurze Google-Recherche bestätigt meinen Ver­dacht, dass das Wort so gut wie nicht gebraucht wird.

Dass alle Nominierun­gen mehr oder weniger vom Risiko des “kenn ich nicht!” bedro­ht sind, liegt in der Natur der Sache, den Nominierungskri­te­rien und ein­er gewis­sen nicht-gese­henen Sub­jek­tiv­ität. So antwortet Jan dementsprechend:

Ich benutze das Wort cir­clen und lese es auch häufig.

Das inspiri­erte impala wiederum zu ein­er Suche:

Wenn Sie via Google auf deutschen Web­seit­en nach dem Wort cir­clen suchen, erhal­ten Sie unge­fähr 5.120 Ergeb­nisse, wovon einige auch Dateina­men wie “cir­cleN” sind. Die tat­säch­liche Zahl ist also niedriger. Natür­lich schließt diese Suche Flex­ions­for­men des Wortes aus, aber selb­st wenn man nach diesen sucht und sie mit leak­en oder liken ver­gle­icht, wird deut­lich, dass das Wort kaum Ein­gang in den all­ge­meinen Sprachge­brauch gefun­den hat:

leak­en: ca. 99.000
liken: ca. 1.350.000 (hier sind allerd­ings viele Wörter­buchein­träge mit­gezählt sowie Eigen­na­men etc.)
cir­clen: ca. 5.120

geleakt (oder in Mischorthogra­phie geleaked): 458.000 (354.000)
gelikt (oder in Mischorthogra­phie geliked): 6.550 (109.000)
gecircelt (oder gecir­clet oder gecir­cled): 1.170 (320; 494)

Die Zahlen sprechen glaube ich für sich.

Tun sie das?

Nein. Aber begin­nen wir am Anfang.

Das Wort

cir­clen im Deutschen ist ein Lehn­verb und eine Ein­bürgerung von to cir­cle auf Google+-Basis. Es beze­ich­net in diesem Net­zw­erk das Hinzufü­gen ein­er anderen Per­son zu den eige­nen “Kreisen” (engl. cir­cles), welche man the­ma­tisch, also etwa nach Fre­un­den, Geschäftspart­nern, Kol­le­gen oder wie auch immer anord­nen kann. Im Unter­schied zu Face­book muss dieses Hinzufü­gen nicht auf Gegen­seit­igkeit beruhen (Face­book ver­fol­gt sei­ther ja eine ähn­liche Strate­gie mit ein­er Time­line-ähn­lichen Funk­tion, sub­scribe). Dann kann man seine Inhalte nur für bes­timmte Kreise sicht­bar machen. Fast wie im echt­en Leben, also wenn man an so Sprüche denke wie in gewis­sen Kreisen spricht man schon über

Circeln (v.) ist also eine Deriva­tion von Cir­cles (n.) — im Englis­chen war’s eine Kon­ver­sion: cir­cle > to cir­cle. Wo kommt’s her? Das hab ich mich natür­lich gefragt — und hab mal wieder beim OED vor­beige­se­hen, weil ich wis­sen wollte, ob die Bedeu­tung von “in gewis­sen Kreisen” auch im Englis­chen von cir­cle (n.) abgedeckt ist. Das kön­nte hier aber ähn­lich unüber­sichtlich wer­den, wie bei mas­ter. Offen­bar eignet sich die Kreis-Meta­pher für sehr, sehr viel ver­sprach­lich­bare Wahrnehmung. Um die Geschichte abzukürzen — ja, tut es:

21.a.
A num­ber of per­sons unit­ed by acquain­tance, com­mon sen­ti­ments, inter­ests, etc.; a ‘set’ or coterie; a class or divi­sion of soci­ety, con­sist­ing of per­sons who asso­ciate together.

[Eine Gruppe von Per­so­n­en, die durch Bekan­ntschaft, gemein­same Ansicht­en, Inter­essen etc. ver­bun­den ist, ‘[Kreise]’ oder Seilschaften, eine gesellschaftliche Klasse oder Ein­heit, die zusam­men gehört.]

Der Ursprung wird hier sowohl mit ger­man­isch angegeben, von cir­cul (Altenglisch, Astronomie), als auch mit lateinisch-roman­isch, cir­cu­lus (lat.) und cer­cle (fr.). Bei uns gibt es das Kog­nat als zirk­il schon im Althochdeutschen im 9. Jahrhun­dert als Instru­ment fürs Kreis­malen. Die Bedeu­tung des Per­so­n­enkreis­es war im 18. Jahrhun­dert bei uns gar ein Gal­lizis­mus (für alles: Ety­molo­gieein­trag im DWDS, Zirkel, nach Pfeifer):

Die Bedeu­tung ‘zu Gesel­ligkeit oder zur Wahrnehmung gemein­samer Inter­essen sich ver­sam­mel­nde Men­schen­gruppe’ (1. Hälfte 18. Jh.) ste­ht unter dem Ein­fluß von frz. cer­cle ‘in einem Salon ver­sam­melte Per­so­n­en, Klub, Vere­ini­gung Gle­ich­gesin­nter’ (zunächst ‘um den König oder die Köni­gin ver­sam­melter Kreis von Ver­traut­en’, aus lat. cir­cu­lus im Sinne von ‘Per­so­n­enkreis, Gruppe’), das selb­st Ende des 18. Jhs. in der Form Cer­cle über­nom­men und zeitweilig (bis ins 19. Jh.) neben Zirkel gebraucht wird. Dieses lebt in neuester Zeit vor allem als ‘Kreis von Ler­nen­den, Lehrgang, Kur­sus’ (19. Jh.) weiter.

Aus­gang dieser Über­legun­gen und des Exkurs­es war näm­lich die Tat­sache, dass ich Cir­cel in genau dieser Schreib­weise und in der Bedeu­tung ‘gesellschaftlich­er Kreise’ im Zeitungsko­r­pus (bei Cos­mas II) aus dem Jahr 1996 fand, als ich nach circ*suchte:

Tat­säch­lich fand die UNO-Men­schen­rechts­beauf­tragte für Bosnien, die frühere finnis­che Vertei­di­gungsmin­is­terin Elis­a­beth Rehn, gestern in Wiener Circeln auf­fal­l­end mod­er­ate Vertei­di­gungsworte für die Ser­ben[.] (Oberöster­re­ichis­che Nachricht­en, X96/JUL.12685)

Aber jet­zt scheint man in gewis­sen Circeln unseres Außen­min­is­teri­ums so arro­gant zu sein, daß man die Tirol­er Lan­despoli­tik, die bish­er let­ztlich, zumin­d­est was Südtirol bet­rifft, mit der Außen­poli­tik des Bun­des übere­in­stimmte, ver­höh­nen darf, indem man ein­fach auf die Schutz­macht­funk­tion unser­er Repub­lik für Südtirol verzichtet (oder vergißt?). (Die Presse, P96/MAR.12830)

Ins­ge­samt gibt es drei Belege aus den Oberöster­re­ichis­chen Nachricht­en und den einen aus Die Presse, was mich zu der Annahme ver­leit­ete, es han­dele sich um einen Aus­tri­azis­mus, aber ver­mut­lich nur in der Schreib­weise. Belege aus der deutschen Presse sind zahlre­ich, nur eben mit Zirkel(n), ein Beleg soll mal genü­gen (z.B. aus dem Kernko­r­pus, DWDS):

Das ius san­gui­nis, das Abstam­mung­sprinzip, war kein Code­wort elitär­er Zirkel, es offen­barte sich langfristig auch in (fast) jed­er Zeitung. (27.09.1996, Die Zeit)

So, jet­zt sind wir beim Verb. Da ist es natür­lich etwas kom­pliziert­er — das ‘direk­te’ Kog­nat von to cir­cle, zirkeln beschränkt sich über­wiegend auf:

zirkeln Vb. ‘mit dem Zirkel zeich­nen, abmessen’ (älter auch ‘kreisen, sich drehen’), über­tra­gen ‘mit Sorgfalt und Genauigkeit abmessen, entwer­fen, ausar­beit­en’, mhd. zirkeln ‘mit dem Zirkel messen, nach dem Zirkel­maß ver­fer­ti­gen’ (spätmhd. auch ‘als Wache die Runde machen’);  (DWDS, Zirkel)

Man ken­nt zirkeln ja noch aus dem Fußball­sprech: Er zirkelt den Freis­toß um die Mauer, in sowas wie gezirkelte Spitzfind­igkeit­en (DWDS) oder vom Zirkel­train­ing (als Nomen). Die direk­te Verbindung zu (ein)kreisen, dem ‘erweit­erten’ Kog­nat von to (en)circle, ist es also nicht. Oder anders: wir dif­feren­zieren an dieser Stelle. Aber die ganze seman­tis­che Verbindung ist natür­lich gegeben mit diesen ganzen Kreisen überall.

Wem noch nicht schwindlig ist: cir­clen kommt zu uns und bringt also prak­tis­chw­er­weise Dif­feren­zierungspo­ten­tial mit. Anders als bei den meis­ten bish­eri­gen Kan­di­dat­en, die hier bei mir disku­tiert wur­den, eignet sich circeln her­vor­a­gend dazu, das abzudeck­en, was wed­er die Kog­nate kreisen, einkreisen und schon gar nicht zirkeln leis­ten kön­nen. Zwar kam auch erst mit Google+ das Konzept von “meinen Kreisen im Netz” wirk­lich definiert und tech­nisch konzen­tri­ert auf den Bild­schirm oder war vorher je nach Net­zw­erk mit adden oder frien­den dem Net­zw­erk entsprechend gut abgedeckt — aber ich würde mal sagen: Kri­teri­um erfüllt. Und anders als Kristin für adden fest­gestellt hat (“hat 2011 nichts Beson­deres geleis­tet”), hat cir­clen ein­fach die Gnade der 2011er-Geburt.

Die Aktualität

Google+ startete im Juni 2011. Ende der Durchsage.

Die Verbreitung und Integration

So, zum Schluss kom­men wir zum Kri­tikpunkt der man­gel­nden Ver­bre­itung zurück, den AdJ-Leser/-in impala geäußert hat­te: Das Wort sei zu sel­ten. Ich denke, hier müssen wir aber cir­clen gegenüber fair bleiben.

Die nak­ten Zahlen, die impala anführt, sagen näm­lich lediglich erst­mal, dass leak­en bzw. Wik­ileaks — obäch­tle! — weit­ere Kreise gezo­gen hat und leak­en natür­lich viel all­ge­mein­er auf mehrere Kon­texte anwend­bar ist. Außer­dem sollte man nicht vergessen, dass cir­clen bish­er nur ein halbes Jahr Zeit hat­te, sich zu etablieren — wenn man dann noch die Suchan­frage für leak­en und seine flek­tierten For­men auf 2010 beschränkt, wer­den auch dort die Ergeb­niszahlen geringer. Natür­lich ist es richtig, dass gecir­clet/-d nicht auf ähn­liche Zahlen kom­men kann, wie leak­en. Das hat auch noch einen Anwen­dungs­grund: Bei Wik­ileaks ging es näm­lich um das Leak­en an sich, bei Google+ aber nicht ums cir­clen, son­dern mehr um die Poten­tiale des neuen Netzwerks.

Trotz dieser Über­legun­gen: die Zahlen sind gar nicht so mau, wie impala sie gefun­den hat. Er/sie schreibt, dass die Tre­f­fer “auf deutschen Web­seit­en” gefun­den wur­den, ver­mut­lich mit der Anfrage site:de. Das ist aber wom­öglich der falsche Ansatz. Unter der Annahme, dass gecircelt/gecirclet/gecirceld/gecircled mor­phol­o­gisch durch das Par­tizip Prä­fix ge- recht zuver­läs­sig auf eine deutschsprachige Tex­tumge­bung hin­weist, weit­en wir die Suche auf alles von Google aus. Und siehe da: Allein auf der ersten Ergeb­nis­seite kamen bei drei Stich­proben in ver­schiede­nen Schreib­weisen etwa 8 von 10 Tre­f­fern von anderen Toplevel­do­mains (.fm, .com), davon meist gut die Hälfte direkt aus Google+ selb­st (.com).

Die Nieder­län­der kom­men uns mit ein­er ähn­lichen Mor­pholo­gie in die Quere (stich­probe­nar­tig über­prüft für eine .nl-Suche z.B. 4 Tre­f­fer für gecircelt und 39 für gecir­cled). Das ist natür­lich die Apfel-Bir­nen-Saga, zeigt uns aber, dass nieder­ländis­che Tre­f­fer nicht aus­re­ichend aus den .com-Tre­f­fern raus­ge­filtert wer­den kön­nen. Aber für einen Ein­blick in die Häu­figkeit und Ver­bre­itung von cir­clen muss es halt schlicht reichen (Trust Google search­es with a pinch of salt). Eine all­ge­meine Anfrage und eine mit den flek­tierten For­men löst übri­gens auch das Prob­lem der Grafik­endung cirleN, das zumin­d­est so häu­fig oder beliebt zu sein scheint, dass sie schon die ersten Tre­f­fer­seit­en verdünnt.

So kom­men wir auf fol­gende Näherungswerte (Gesamt-Google, gesamter Zeitraum):

  • gecircelt: 9,030
  • gecir­cled: 4,890
  • gecirceld: 1,130
  • gecir­clet: 400

Näherungsergeb­nisse für circlen/circeln (hier aber site:de, 28.06.–31.12.2011):

  • cir­clen: 15,300
  • circeln: 61

Hier sind wie immer die absoluten Zahlen nicht so entschei­dend, son­dern die Ver­hält­nisse zwis­chen den Vari­anten. Und da zeigt sich mein­er Mei­n­ung nach enorm Erstaunlich­es: der Infini­tiv ist orthografisch ein­deutig die englis­che Vari­ante cir­clen. Beim Par­tizip kristallisieren sich bei vier möglichen zwei mehr oder weniger konkur­ren­zfreudi­ge Alter­na­tiv­en her­aus: gecircelt und gecir­cled. Dabei ist gecircelt gle­ich dop­pelt einge­bürg­ert (-el und -t), gecir­cled behält die nativ-englis­che Schrei­bung für -le und das englis­che Par­tizip­mor­phem -d. Also: Inte­gra­tion ganz oder gar nicht! Derzeit liegt hier die deutsche Orthografie vorn, die sich ver­mut­lich auch noch weit­er etablieren wird. Was im Ver­gle­ich dazu aber erstaunlich ist, ist die deut­liche Präferenz für den orthografis­chen englis­chen Infini­tiv. Will sich jemand an ein­er Erk­lärung versuchen?

(Das Prob­lem ist aber all­ge­mein, dass bei den Par­tizip­i­en für den Zeitraum seit der Grün­dung von Google+ bis Jahre­sende z.B. für gecircelt gar keine Ergeb­nisse aufge­wor­fen wer­den (?!?), mir unerk­lär­lich. Man darf also die Infini­tiv-Gruppe nicht mit der Par­tizip-Gruppe ver­gle­ichen, da sie sich auf andere Zeiträume beziehen und mit unter­schiedlichen Ein­schränkun­gen auf Toplevel­do­mains gefun­den wur­den. Ver­gle­iche sind also nur inner­halb der Grup­pen “möglich”. Für den Rest ver­ste­he ich Google­suchen manch­mal eh nicht.)

Fazit

Ist aus­sicht­sre­ich dabei, defin­i­tiv. Auch wenn ich Google+ bish­er fast nur von But­tons auf Seit­en kenne. Ich finde die Re-Re-Inte­gra­tion der ent­fer­n­ten und ent­fremde­ten Ver­wandtschaft ohne­hin faszinierend (die Kog­natskreisläufe sind so toll!). Zwar ist cir­clen ver­mut­lich solange auf Google+-Kontexte beschränkt, wie nur Google+ mit solchen Kreisen operiert. Aber ich finde die Möglichkeit der Abbil­dung des gesellschaftlichen Kon­struk­ts der Kreise auf die Onlinewelt faszinierend, auch sprach­lich — und sie hat Poten­tial. Mit cir­clen haben wir dafür also ein Wort über­nom­men, was ganz aus­geze­ich­net dif­feren­ziert — denn mal ehrlich: Wür­den Sie Ihre Fre­unde wirk­lich einkreisen wollen?

[AdJ 2011] Content farmen auf Contentfarmen

Von Susanne Flach

Die Nominierung von Con­tent­farm ging von Leserin Simone ein:

Ich möchte “Con­tent­farm” nominieren.

Nomin­ertes Wort: Con­tent­farm (auch Con­tent-Farm oder Con­tent Farm)
Beleg: z.B. http://www.zeit.de/digital/internet/2011–03/google-algorithmus
Begrün­dung: Das Wort ist mir in diesem Jahr ersten Mal aufge­fall­en Ich habe auch einige ältere Beispiele gefun­den, aber ich meine, häu­figer ist es erst durch die Berichte über den Verkauf von Huff­in­g­ton Post an AOL und durch Googles neuen Algo­rith­mus gewor­den. Es ist ein Wort, das den schwinden­den Stel­len­wert von Tex­ten und Kreativ­ität im Inter­net deut­lich macht.

Nun denn.

Das Wort

Con­tent­farm (auch in der Schrei­bung Con­tent Farm oder Con­tent-Farm, wie Simone bere­its ange­merkt hat), ist ein hunds­gewöhn­lich­es Kom­posi­tum mit metapho­rischem Gus­to — der Kopf, farm, beze­ich­net im pro­to­typ­is­chen Sinn einen land­wirtschaftlichen Pro­duk­tions­be­trieb, stre­it­bar­erweise ist damit meist ein­er außer­halb Deutsch­lands gemeint. (das leg­en die ersten 50 Tre­f­fer ein­er schnellen KWIC*-Suche im DWDS nahe). Der Mod­i­fika­tor Con­tent wird vom Duden so definiert: “qual­i­fiziert­er Inhalt, Infor­ma­tion­s­ge­halt beson­ders von Websites”.

Also davon abge­se­hen, dass mir nicht völ­lig klar ist, was der Duden mit “qual­i­fiziertem Inhalt” meint, beze­ich­net Con­tent also recht bre­it den Inhalt im dig­i­tal­en Raum mit einem Fokus auf Infor­ma­tion, also weniger soziale Kom­mu­nika­tion in Foren oder Net­zw­erken. Für einen so all­ge­mein genutzten Begriff wie Con­tent hat der Duden mit sechs Wörtern aber ganz gute Arbeit geleis­tet. Dort, wo solche Infor­ma­tion­sin­halte wie am Fließband pro­duziert wer­den, haben wir eine Con­tent­farm: eine Beze­ich­nung für Web­di­en­ste, die in beson­derem Maße Inhalt zur Ver­fü­gung stellen (also, hm, ‘anbauen’ im über­tra­ge­nen Sinne). Die Frage wäre jet­zt nur, welche Art Inhalt da pro­duziert wird: Denn nicht jede Seite, jede Zeitung oder jedes Infor­ma­tion­sportal ist eine Con­tent­farm.

Nun ist es richtig, dass Inhalts­bauern­hof irgend­wie schon reich­lich daneben liegen würde — weil Con­tent im deutschen Web-Jar­gon längst angekom­men ist (ste­ht ja schon im Duden). Als Con­tent­farm wer­den beson­ders die Ange­bote beze­ich­net, die zur Gener­ierung von Seit­e­naufrufen rel­a­tiv gehalt­lose Texte pro­duzieren, die beson­ders viele Schlag­wörter zu einem The­ma enthal­ten. Das ist grund­sät­zlich ein gängiges Vorge­hen, um die eige­nen kom­merziellen Webange­bote in Such­maschi­nen bess­er zu platzieren. Es soll Nutzer/-innen schneller zur gewün­schen Infor­ma­tion führen. Das nen­nt sich SEO (Search Engine Opti­miza­tion). Con­tent­far­men gehen aber einen Schritt weit­er und pro­duzieren in schnell­ster Abfolge und ohne wirk­lichen Gehalt bil­lige Texte, um Klicks zu gener­ieren, die wiederum auf passend einge­fügte Wer­bung führen soll. Alter­na­tiv gibt es auch den Aus­druck Con­tent­mill (Con­tentmüh­le), der die Meta­pher mit der schnellen Pro­duk­tion noch verstärkt.

So gese­hen hat Con­tent in Con­tent­farm sog­ar eine leicht euphemistis­che Note.

Mir ist bei der Recherche näm­lich schnell aufge­fall­en, dass Con­tent­farm — obwohl recht neu­tral definiert — offen­bar eine ordentlich neg­a­tive Kon­no­ta­tion aufweist:

eine kleine Richtig­stel­lung: content.de ist keine Con­tent­farm. Wir stellen wed­er eige­nen Con­tent ins Netz noch beauf­tra­gen wir sel­ber Con­tent um diesen dann Paketweise an “Con­tent­farmer” zu verkaufen. Der an andere Stelle auch schon gehörte Ver­gle­ich mit Demand Media & Co. passt dem­nach nicht, da unser Geschäftsmod­ell grundle­gend anders funk­tion­iert. [Link]

Als „Con­tent-Farm“ wird eine Seite beze­ich­net, die die Funk­tion hat, durch eine große Anzahl qual­i­ta­tiv min­der­w­er­tiger und inhaltlich anspruch­slos­er Texte möglichst viel Such­maschi­nen­traf­fic abzu­greifen. [Link]

Mehr Profikiller braucht das Land – Die schmud­delige Real­ität der Con­tent-Far­men. [Link]

Eine Kol­loka­tion­s­analyse würde ver­mut­lich sehr schnell ans Licht brin­gen, dass Con­tent­farm im Sprachge­brauch über­wiegend mit neg­a­tiv-kon­notierten Adjek­tiv­en und in wenig schme­ichel­haften Kon­tex­ten auf­taucht: schmud­delig, Trash, min­der­w­er­tig, anspruch­s­los, ober­fläch­lich, schlecht recher­chiert oder “wir wollen nicht mit dem Schwarzen Schaf (Branchen­primus) ver­glichen wer­den, wir sind anders” (s.o.). Eine solche Analyse ist natür­lich nur ober­fläch­lich recherchiert.

Wer Zweifel daran hat, dass es sich tat­säch­lich um wenig gehaltvolle Texte han­delt, darf sich hier dern das WTF des Tages abholen: wie man ein Geschenk ein­packt, Sprüche zum XX. Geburt­stag, ‘Ideen für die Geburt­stagspar­ty ein­er 13jährigen im Jan­u­ar’ oder Wie schreibt man einen roman­tis­chen Liebes­brief?. Aus der taz ist über­liefert, dass ein Anbi­eter auch das große und lange sehr gut gehütete Geheim­nis ver­rät, wie man sein Alter aus­rech­nen kann, wenn man sein Geburt­s­jahr und einen Taschen­rech­n­er parat hat.

Wir sehen, worauf es hin­aus­läuft: In den Tex­ten sind die Schlag­wörter in so schmerzhaft großer Dosierung und unge­lenken Kom­bi­na­tio­nen unterge­bracht, dass einem fast schlecht wird und man nicht glauben möchte, dass das jemand liest oder lesen muss. Man kön­nte natür­lich tol­er­ant anmerken, dass es sich in hier um Tipps und eine Art Lebens­ber­atung (Jaha!) han­delt und es dur­chaus Men­schen geben kön­nte, die damit was anfan­gen kön­nen. Aber ich glaube, die Dinger richt­en mehr Schaden an, fürchte ich (wenn es um rechtlich rel­e­vante The­men geht). Just my two cents, sub­jek­tiv gesprochen.

Simone hat in ihrer Nominierungs­be­grün­dung den Nagel schon ganz gut getrof­fen, vielle­icht nicht voll. Von Con­tent­far­men zu sprechen stellt eigentlich nicht den Stel­len­wert von Tex­ten und Kreativ­ität im Netz per se in Frage — die Kol­loka­tio­nen und Diskus­sio­nen bele­gen, dass da sehr strikt dif­feren­ziert wird. Mit Con­tent­farm wer­den ja erst genau die speziellen Trash­texte beze­ich­net, die es vorher in der Masse und Gehalt­losigkeit sel­tener gab (zumin­d­est nicht mit einem ein­deutig kom­merziellen Inter­esse) — so ist es im Grunde keine beson­ders nenneswerte Beze­ich­nung für etwas, was wir vorher umständlich umschreiben mussten (ein Teilkri­teri­um für die Wahl). Dies kön­nte sich in Zukun­ft natür­lich ändern, wobei ich an dieser Prog­nose kri­tisieren würde, dass der Kom­posi­tumkopf Farm hier die Gen­er­al­isierung und Über­tra­gung auf generelle Trash­in­halte block­ieren kön­nte. Diese Block­ade kön­nte von Con­tent­mill eher geris­sen wer­den. Was Con­tent­farm aber zweifel­s­los mib­ringt ist eine euphemistis­che Bedeu­tungsver­schiebung von Con­tent. Wom­it ich natür­lich alle Nicht-Con­tent­farm-Inhalte automa­tisch für beson­ders gehaltvoll hal­ten würde. Sei’s drum.

Die Aktualität

Keine Frage, es liegt wohl an der Anküngi­gung von Google aus dem Jan­u­ar 2011, Con­tent­far­men ent­ge­gen zu wirken (Google selb­st beze­ich­net es als Such­maschi­nenspam). So find­et man im Jan­u­ar, Feb­ru­ar und nochmal im August vere­inzelt Medi­en­berichte darüber (die taz nen­nt Con­tent­far­men in ihrem Artikel übri­gens Inhal­te­farm). Die Aktu­al­ität liegt natür­lich auch in der Zunahme von Con­tent im Inter­net und der gestiege­nen Bedeu­tung von Such­maschi­nen­rank­ings. So als Über­legung. Mehr dazu auch in der Diskus­sion um…

Die Verbreitung

Deut­lich zu wenig für einen ern­sthaften Anwärter auf den Anglizis­mus des Jahres. Im DeReKo find­et sich das Wort gar nicht, egal in welch­er Schreib­weise (Con­tent allein: über 1000 Tre­f­fer). Bei GoogleIn­sights ist auch nur ein ungewöhn­lich­er Auss­chlag im Feb­ru­ar 2011 zu verze­ich­nen (zwei Tre­f­fer), anson­sten bleibt die Liste leer, da zu wenige Anfra­gen verze­ich­net wer­den. Bei Google­News wird man 2011 mit 2 Tre­f­fern für con­tent­farm und mit ins­ge­samt 5 für con­tent farm/con­tent-farm fündig. Das ist gegenüber 2012 ein Anstieg von 2 bzw. 4 Tre­f­fern. Irgend­wie steil nach oben, aber irgend­wie auch, äh, von gaa­haaanz unten. Ergo: das reicht derzeit lei­der nur für eine Dis­qual­i­fika­tion, zumin­d­est für die Wahl 2011.

[Achtung! Im Laufe der let­zten Tage hat sich offen­bar irgend­was in der Such­maschi­nen­welt ver­schoben — die Google­News-Suche, die ich im let­zten Absatz disku­tiere, ist nicht mehr repro­duzi­er- bzw. rekon­stru­ier­bar. Das ändert aber doch recht wenig an meinem Ein­druck, dass es sich um eine sehr geringe Ver­bre­itung im all­ge­meinen Sprachge­brauch handelt.]

Der Voll­ständigkeit hal­ber: Sucht man nach con­tent­farm im nor­malen Google, wer­den über Zehn­tausend Tre­f­fer angezeigt — und die ersten ver­weisen direkt, ähm, auf Con­tent­far­men. In Extrem­fällen führen sie auf Con­tent­far­men mit Medi­en­bericht­en über Con­ten­far­men. Das ist mir echt zu zirkulär jetzt.

Fazit

Der Ansatz der Nominierung ist nachvol­lziehbar — und die seman­tis­che Analyse hat gezeigt, dass es dur­chaus um eine sin­nvolle Beze­ich­nung für Trash­texte han­deln kön­nte, bis hin zum Euphemis­mussta­tus und ein­er Kor­rumpierung des neu­traleren Begriffs Con­tent. Es deckt aber anderen Trash auf nor­malen Seit­en nicht ab. Ich bin deshalb — alles in allem — der Mei­n­ung, dass Con­tent­farm nicht zum Anglizis­mus des Jahres taugt. Die guten Argu­mente fall­en unter Netz- bzw. Gesellschaft­skri­tik und wären vielle­icht was für die Leute von neusprech.org. Zudem konzen­tri­ert sich die Diskus­sion um Con­tent­far­men auf zwei, drei große Anbi­eter und ist mir nicht all­ge­mein genug, um sich schlussendlich zu qual­i­fizieren. Zuguter­let­zt finde ich entschei­dend, dass es im all­ge­meinen Sprachge­brauch (noch) zu wenig ver­bre­it­et ist.

Dis­claimer: Ich habe als Freiberu­flerin selb­st SEO-Texte ver­fasst. 40.000 Wörter über ein Pro­dukt eines echt­en Pro­duk­tan­bi­eters, der nur dieses eine Pro­dukt anbi­etet. N Spaß ist das nie. Die Arbeit an diesen Tex­ten führt eben­so zielführend zu Gehirn­matsch, wie das Lesen der­sel­ben. Pro­jek­t­man­agerin: “Ich hoffe, du wohnst im Erdgeschoss.” Ich war [naja!] und brauchte das Geld.

*KWIC=Key­word in Con­text. Ein Begriff aus der Kor­puslin­guis­tik. Der Tre­f­fer wird in sein­er kon­textuellen Umge­bung aus­ge­wor­fen. Auf jeden Fall im ganzen Satz, oft aber auch mit mehreren Sätzen davor und danach.

[AdJ 2011] Das neue Mem: Meme.

Von Susanne Flach

Als die Nominierung Meme von Karo­line abgegeben wurde, war ich über­rascht: Denn eigentlich hielt ich es für die Plu­ral­form von Mem, einem längst inte­gri­erten Fachter­mi­nus, dementsprechend mit deutsch­er Aussprache [me:mə], mir war nicht klar, dass es eigentlich und ver­mut­lich einen, äh, pho­nol­o­gis­chen Anglizis­mus [mi:m] gibt. Ich krieche zu Kreuze! Ich lese wenn über­haupt nur von Meme, höre es sel­tenst, ja? (Die Plu­ral­form von Mem kön­nte auch die fol­gen­den Ver­suche zur Häu­figkeitssuche bee­in­flusst und erschw­ert haben.) Bei­de Wörter beze­ich­nen im Englis­chen und Deutschen jew­eils die gle­ichen Ideen und sind natür­lich konzep­tionell miteinan­der verwandt.

Wir haben hier — vor­weggenom­men — zwei Sta­di­en zu betra­cht­en: Die Über­nahme von Mem vor 30 Jahren (mit mor­phol­o­gis­ch­er und pho­nol­o­gis­ch­er Inte­gra­tion) und der zweite Import mit ander­er Bedeu­tung (offen­bar) noch ohne die voll­ständi­ge Inte­gra­tion eben erst jet­zt. Ich halte die Nominierung deshalb auf der Basis des zweit­en Imports für zulässig.

Ursprung

Die Intu­ition, dass Mem längst einge­bürg­ert ist, geht auf die “Ursprungs­be­deu­tung” von Mem zurück, die mir bekan­nt und präsent war: Richard Dawkins entwick­elte in Analo­gie zu Genen das Mem-Mod­ell, das wir auch in Deutsch­land bere­its vor Jahrzehn­ten über­nom­men haben. Hier beze­ich­net ein Mem einen kul­turellen Rep­lika­tor aus den Bere­ichen Ver­hal­ten, Sprache, Mode, Kul­tur — schlicht alles, was in kul­tureller Trans­mis­sion durch Imi­ta­tion weit­erg­ere­icht (oder aus­geson­dert) wird und so im Mem-Pool über­lebt oder eben nicht. Richard Dawkins schreib dazu 1976 (hier in der Fas­sung von 1989):

The new soup is the soup of human cul­ture. We need a name for the new repli­ca­tor, a noun that con­veys the idea of a unit of cul­tur­al trans­mis­sion, or a unit of imi­ta­tion. ‘Mimeme’ comes from a suit­able Greek root, but I want a mono­syl­la­ble that sounds a bit like ‘gene’. I hope my clas­si­cist friends will for­give me if I abbre­vi­ate mimeme to meme* If it is any con­so­la­tion, it could alter­na­tive­ly be thought of as being relat­ed to ‘mem­o­ry’, or to the French word même. It should be pro­nounced to rhyme with ‘cream’.

Exam­ples of memes are tunes, ideas, catch-phras­es, clothes fash­ions, ways of mak­ing pots or of build­ing arch­es. Just as genes prop­a­gate them­selves in the gene pool by leap­ing from body to body via sperms or eggs, so memes prop­a­gate them­selves in the meme pool by leap­ing from brain to brain via a process which, in the broad sense, can be called imitation.

Dawkins (1989: 192)

Entwicklung und Entlehnung

In dieser Beze­ich­nung ist Mem bei uns natür­lich längst etabliert. Aber darum ging es Karo­line in der Nominierung ja nicht. Um dahinzuge­lan­gen, gehen wir über die Entwick­lung im Englis­chen: Nun ist dort also Fol­gen­des passiert: mit engl. meme1, das viel all­ge­mein­er die Rep­lika­tion eines kul­turellen Konzepts bzw. kul­tureller Infor­ma­tio­nen beze­ich­net, wer­den in der Inter­net­gen­er­a­tion auch die Konzepte beze­ich­net, das auf den Prinzip­i­en der Mem- bzw. Infor­ma­tion­srep­lika­tion beruhen, die sich aber gän­zlich im Inter­net abspie­len, also als meme2 (mit ein­er sub­jek­tiv gefühlten Witzkom­po­nente). Diese zweite Bedeu­tungss­chat­tierung haben wir jet­zt auch pho­nol­o­gisch über­nom­men und beze­ich­nen sie mit Meme [mi:m]. Während meme also im Englis­chen die zwei Bedeu­tun­gen meme1 und meme2 abdeckt, haben wir im Deutschen Mem(e) [me:mə] für meme(s)1 und Meme(s) [mi:m] für meme2 und somit ein­deutig eine Bedeu­tungs­d­if­feren­zierung und eine Bere­icherung für die deutsche Sprache.

Dieser Ansicht ist auch Karo­line, die argu­men­tiert, dass Meme die Bere­iche abdeckt, die viral nicht abdeck­en kann. Das ist kor­rekt, allerd­ings ist es mein­er Ansicht nach eine falsche Argu­men­ta­tion. Was mit Meme und viral beze­ich­net wird, sind ‘Rep­lika­tor’ bzw. ‘Rep­lika­tion’: viral beze­ich­net eine Art der Rep­lika­tion, also wie die Rep­lika­toren (Memes) ver­bre­it­et wer­den. Also in diesem konkreten Fall davon abge­se­hen, dass Meme ein Nomen und viral ein Adjek­tiv ist (die Sprachge­mein­schaft hätte natür­lich auch viral in ein Nomen kon­vertieren kön­nen, um die Bedeu­tung von Meme abzudecken).

Ver­wen­dungs­beispiele seien hier kurz ange­führt (inkl. der Belege, die bei der Nominierung aufge­führt wurden):

 Die Koop­er­a­tion von Youtube und dem Guggen­heim-Muse­um Ende let­zten Jahres sollte demon­stri­eren: Die Mut­ter aller Video­plat­tfor­men kann mehr als Musik, ille­gale Auss­chnitte und Meme schleud­ern. (DRa­dio Wis­sen, 23.11.2011)

John Pike und das Hitler-Meme John Pike ist zu einem Meme gewor­den, so nen­nt man schnell sich über das Inter­net sich ver­bre­i­t­ende Bild­witze und Film­chen. (Die Welt, 24.11.2011)

Die Buch­lieb­haber-Chal­lenge – Das zweite Meme! (Noth­ing More Delight­ful, 15.11.2011)

Inter­net Memes im Überblick: Wo sie herkom­men und was sie bedeuten. (Juliane Waack, blogwatch.germanblogs.org, 20.05.2011)

Aber einige der derzeit über­all kur­sieren­den Gut­ten­berg-Meme sind ein­fach zu schön, um unter­schla­gen zu wer­den: (Flo­ri­an Bay­er, seite360.de, 17.02.2011)

Eine schöne Samm­lung von eigentlichen Memes ist auch die Meme-Daten­bank knowyourmeme.com.

Der Voll­ständigkeit hal­ber: Genuszuweisung ver­mut­lich aus­nahm­s­los und ein­deutig Neu­trum (das Meme), möglicher­weise in Analo­gie zu das Mem, das Gen; Plur­al die Memes.

(Wobei man natür­lich nicht abschließend sagen kann, dass Meme auch immer [mi:m] ist: dafür sind einige hier nicht aufge­führte Ver­wen­dun­gen in Abwe­sen­heit von numeru­sanzeigen­den Artikeln (ein bzw. das Meme), sowie auf­grund der pho­nol­o­gis­chen Inte­grier­barkeit in unser Phone­m­inven­tar und natür­lich der ety­mol­o­gis­chen und konzep­tionellen Über­schnei­dung von meme1 und meme2 nicht ein­deutig als [me:mə] oder [mi:m] inter­pretier­bar. Die Ambi­gu­i­tät ist aber auch gar nicht so entschei­dend, son­dern im Prozess des Bedeu­tungswan­dels normal.)

Kri­teri­um der Dif­feren­zierung erfüllt? Ja.

Aktualität

Wie aktuell ist Meme? Wie oben ange­führt, kann Meme als Plur­al von Mem die Suche erschw­eren. Hier soll der Blick in eine GoogleIn­sight-Suche für Mem und Meme genü­gen: Dort ist 2011 eine deut­liche Häu­figkeit­stren­nung von Mem und Meme zu erken­nen. Bis etwa 2011 ver­laufen Meme [me:mə] und Mem im Gle­ich­schritt, ab 2011 steigt Meme sprung­haft an, auch der hypoth­e­sierte Plur­al von Meme, Memes nimmt erst neuerd­ings wirk­lich zu. Dies ließe den vor­sichti­gen Schluss zu, dass wir es 2011 tat­säch­lich mit ein­er Häu­figkeit­szu­nahme von Meme [mi:m] zu tun haben. Dies leg­en auch die Top­suchan­fra­gen für meme nahe: face­book memememe gen­er­a­tor oder inter­net meme, also eben nicht im Sinne von Mem (GoogleIn­sights unter­sucht allerd­ings nur nach Region [hier: DE], lei­der nicht nach Sprache).

Kri­teri­um der Aktu­al­isierung erfüllt? Vor­sichtiges Ja.

Metabemerkung

Was mich fach­lich fasziniert an Meme, Rep­lika­toren und Rep­lika­tion: in der Lin­guis­tik wurde von William Croft (1996, 2000) ein analoges Mod­ell zum Gen- und Mem-Pool vorgeschla­gen, um Sprach­wan­del im evo­lu­tionären Sinn erk­lären zu kön­nen: The­o­ry of Utter­ance Selec­tion (etwa: The­o­rie der Äußerungsauslese). Dort sind sprach­liche Äußerun­gen die Rep­lika­toren aus ein­er Pop­u­la­tion der Sprache, geäußert (repliziert) von den Mit­gliedern der Sprachge­mein­schaft. Eine Äußerun­gen wird danach dann mit höher­er Wahrschein­lichkeit repliziert, je mehr oder bess­er sie eine expres­sive Funk­tion erfüllt (Dar­wins Idee “Sur­vival of the fittest”). Dies ist nicht ger­ade Antwort 42 — aber ein mod­el­liert­er Ansatzpunkt, um das Über­leben und die Ver­bre­itung von sprach­lichen Äußerun­gen auf allen Ebe­nen der Sprache the­o­retisch erk­lären zu kön­nen (aber nicht voraus­sagen!). Das ist für die Wahl natür­lich nur ein fach­lich­er und sub­jek­tiv­er Meta-Ein­schub, erin­nert mich aber daran, dass ich mir das nochmal genauer anschauen [bitte Modalverb der Wahl einsetzen].

Fazit

Das hätte ich vor drei, vier Stun­den (bzw.: vor der gestri­gen Sper­rung mein­er Web­seite) nicht gedacht: Meme ist sog­ar ein ziem­lich guter Kan­di­dat. Er hat echte Über­lebungschan­cen, ist auf dem Vor­marsch und da er nicht auf einen Social Media-Bere­ich beschränkt ist, ste­ht Meme auch der bre­it­en Sprachge­mein­schaft offen — sofern sie natür­lich im weit­eren Sinne mit Inter­net­tech­nolo­gie ver­traut ist und mit ihr umge­hen kann. Und anders als bei vie­len Kan­di­dat­en haben wir hier keine Entlehnung, die wir bedeu­tung­stech­nisch ein­gre­gren­zt, ver­all­ge­mein­ert oder ver­schoben haben (aber was nicht ist, kön­nte noch wer­den — obwohl ich das für eher unwahrschein­lich halte), son­dern eine, die wir in konzep­tioneller Gänze  importiert haben.

Lit­er­atur:
Croft, William. 1996. Lin­guis­tic Selec­tion: An Utter­ance-based Evo­lu­tion­ary The­o­ry of Lan­guage Change. Nordic Jour­nal of Lin­guis­tics 19: 99–139.
Croft, William. 2000. Explain­ing Lan­guage Change: An Evo­lu­tion­ary Approach. Long­man.
Dawkins, Richard. 1989. The Self­ish Gene. Oxford Uni­ver­si­ty Press. (Kapi­tel 11: Memes: the new repli­ca­tors).