Der letze Wortkandidat auf der Shortlist für unseren Anglizismus des Jahres 2014 bezeichnet die schönste Nebensache der Welt 2.0: Sexting – das Versenden von Texten und erotischen Selfies. Sehen wir uns an, ob dieses Wort den Ansprüchen unseres Wettbewerbs standhält und vielleicht sogar in letzter Minute an Social Freezing, Phablet, Big Data, Internet of Things, Smartwatch, Photobombing, Blackfacing, Selfie und Emoji vorbeizieht. Weiterlesen
Archiv des Autors: Anatol Stefanowitsch
Blackfacing (Kandidaten für den Anglizismus 2014)
Das Wort Blackfacing/Blackface war 2012 schon einmal für den Anglizismus des Jahres nominiert. Die Beleglage war seinerzeit aber zu dünn, um dieses ansonsten sehr interessante Wort in die engere Wahl zu ziehen (mein damaliger Beitrag, aus dem ich im Folgenden einzelne Passagen übernehme, findet sich hier [Hinweis: dieser und andere hier verlinkte Texte enthalten z.T. rassistische Sprache und/oder Abbildungen]). Heute werde ich untersuchen, ob sich an der Häufigkeit und vor allem Breite der Verwendungen in der Zwischenzeit geändert hat.
Zunächst zur allgemeinen Orientierung: Das Wort blackface (engl. black “schwarz” und face “Gesicht”) bezeichnet ursprünglich eine im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den USA praktizierte Theater– und Varieté-Tradition, bei der weiße Schauspieler/innen oder Sänger/innen auf übertrieben stereotypisierte Weise als Schwarze geschminkt auftraten (einen Überblick bietet die englischsprachige Wikipedia). Die Bedeutung des Wortes hat sich über die Jahre ausgeweitet und bezeichnet inzwischen allgemein Situationen, in denen sich weiße Menschen schminken, um schwarze Menschen darzustellen. Das blackface ist in doppelter Weise rassistisch belegt: Erstens, weil die Tradition aus einem zutiefst rassistischen geschichtlichen Zusammenhang stammt, in dem ein Auftreten schwarzer Schauspieler/innen als inakzeptabel galt, und zweitens, weil beim Blackface nicht nur das Make-Up selbst und die dazugehörige Mimik übertrieben stereotypisiert ist (dicke rote Lippen, struppige Haare, weit aufgerissene Augen), sondern auch die Zusammenhänge, in denen es verwendet wurde (Schwarze als naive, fröhliche Unterhalter). Weiterlesen
Kandidaten für den Anglizismus 2014: Big Data
Wie jedes Jahr im Januar beteiligen wir uns an der Wahl zum Anglizismus des Jahres, indem wir die Kandidaten der Endrunde auf ihre Tauglichkeit zum Sieger abklopfen. Bereits abgehandelt haben wir Social Freezing und Phablet, heute ist Big Data an der Reihe.
Das Wort Big Data bezeichnet sowohl Datenmengen, die so groß sind, dass sie mit herkömmlichen Methoden nicht mehr handhabbar sind, als auch die Speicher- und Rechenmethoden, die zur Lösung dieses Problems entwickelt wurden und werden (diese Bedeutungen finden sich im Oxford English Dictionary für das Englische, und unser Jury-Mitglied Michael Mann hat sie im letzten Jahr in seiner Analyse auch für den deutschen Sprachgebrauch gefunden – im Duden steht das Wort noch nicht).
Big Data ist zum zweiten Mal in der Endrunde für den Anglizismus des Jahres, verpasste im letzten Jahr aber deutlich einen vorderen Platz (dafür landete es bei der Wort-des-Jahres-Wahl auf Platz 5). Sehen wir uns an, inwieweit es den Kriterien unseres Wettbewerbs genügt und ob es vielleicht in diesem Jahr ein aussichtsreichen Kandidat für das lexikalische Siegertreppchen ist. Weiterlesen
Unwort des Jahres 2014: Lügenpresse
Die „Sprachkritische Aktion“ hat das Unwort des Jahres 2014 bekanntgegeben: Lügenpresse. Mit dieser Wahl setzt die Jury um Nina Janich von der TU Darmstadt ihre exzellente Arbeit der letzen Jahre fort.
Um Unwort des Jahres zu werden, muss ein Wort „gegen das Prinzip der Menschenwürde“ oder „Prinzipien der Demokratie verstoßen“ oder „einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren“, und es muss „euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend“ sein. Auf das unsägliche Döner-Morde (2011), traf das auch aus unserer Sicht klar zu, genau wie beim Opfer-Abo, und beim Sozialtourismus im letzten Jahr waren wir ebenfalls einer Meinung mit der Sprachkritischen Aktion.
Die Wahl des Wortes Lügenpresse begründet die Sprachkritische Aktion wie folgt: Weiterlesen
Wort des Jahres: Lichtgrenze
Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat ein Problem: Sie heißt nun einmal, nun ja, Gesellschaft für deutsche Sprache und muss deshalb ab und zu etwas zum Thema „deutsche Sprache“ sagen. Das an sich wäre ja auch noch kein Problem.
Das Problem ist, dass es ganz offensichtlich bei der Gesellschaft für deutsche Sprache niemanden gibt, der sich mit der deutschen Sprache auskennt, oder sich wenigstens ein bisschen für sie interessiert. Weiterlesen
Am Jungwortbrunnen
Das Jugendwort des Jahres 2014 wurde gestern bekannt gegeben. Auch in diesem Jahr sind dem Sprachlog die Aufzeichnungen der Beratungen aus den Redaktionsräumen des Wörterbuchverlags Schlangeneidt zugespielt worden, die wir im Folgenden ungekürzt veröffentlichen.
In den Redaktionsräumen des Wörterbuchverlags Schlangeneidt in München.
Anwesend sind OBERLEXIKOGRAF DR. WILLHELM WORTWISPERER und ASSISTENZOBERLEXIKOGRAF SIEGFRIED SILBENSÄUSLER.
SILBENSÄUSLER. Wortwisperer, Wortwisperer!
(STILLE)
SILBENSÄUSLER. Aufgewacht, Wortwisperer.
WORTWISPERER. Morbleu, Silbensäusler, wie oft habe ich Ihnen gesagt, Sie sollen mich nicht beim Nachdenken stören! Weiterlesen
Die Moschee des Kolumbus
Haben muslimische Seefahrer Amerika entdeckt, wie es der türkische Ministerpräsident Erdoğan behauptet? Nein, natürlich nicht. Die Ureinwohner Amerikas haben Amerika entdeckt, und zwar vor über fünfzehntausend Jahren, als es noch keine Muslime gab. Aber, und das meint Erdoğan ja, haben muslimische Seefahrer Amerika vor Christoph Kolumbus besucht? Erdoğans Beleg für seine Behauptung ist eine Moschee, die Kolumbus angeblich auf einem Hügel an der kubanischen Küste gesehen habe und die er in seinem Schiffstagebuch erwähnt.
Die AFP-Pressemeldung, die bisher alle deutschen Medien einhellig übernommen haben (z.B. ntv), führt diese Behauptung auf einen „umstrittenen Artikel“ des Historikers Youssef Mroueh von 1996 zurück und berichtet, dass der mit seiner Interpretation von Kolumbus’ Tagebucheintrag nicht auf breite Zustimmung stößt: Weiterlesen
Eine Sprache ohne Schimpfwörter
Der TAGESSPIEGEL hat ein neues Jugendmagazin namens „Schreiberling“, und inhaltlich entspricht das, was ich bisher davon gesehen habe, exakt dem, was der Name vermuten lässt.
Heute morgen erfahre ich etwa zu meiner Überraschung, dass das Lettische eine „Sprache ohne Schimpfwörter“ sei – eine 15-Jährige Schülerin, die gerade ein Auslandsjahr in Lettland verbringt, gibt als Grund für die Wahl des Gastlandes unter anderem an: „ Lettland, weil sich keine Schimpfwörter im lettischen Wortschatz finden lassen, weil es eigentlich doch ziemlich nah dran ist und wir trotzdem kaum etwas drüber wissen“.
Ich will hier nicht auf 15-jährigen Schülerinnen herumhacken, vor allem nicht, wenn sie so mutig sind, ein Auslandsjahr eben mal nicht in England, Australien oder den USA zu verbringen. Es würde mich tatsächlich interessieren, wie sie auf die Idee kommt, es könne tatsächlich eine solche schimpfwortfreie Sprache geben.
Aber beim Tagesspiegel arbeiten – das weiß ich aus persönlicher Erfahrung – Menschen, die sich ganz hervorragend mit Sprachen auskennen und denen klar sein dürfte, dass nur ein muļķis so eine Behauptung ungeprüft veröffentlichen würde, so ein richtiger stulbenis.
Viel Spaß bei der Suche nach weiteren lettischen Schimpfwörtern.
Wie Medien Wörter machen
Sprache verändert sich nicht von alleine, sondern sie wird von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft verändert. In jedem Gespräch kann es passieren, dass die vorhandenen Ressourcen der Sprache nicht ausreichen, um unsere Gedanken wiederzugeben. Oder, dass uns die vorhandenen Ressourcen nicht gefallen, z.B. weil wir Sprachnörgler sind und keine englischen Lehnwörter mögen, oder weil wir anständige Menschen sind und diskriminierende Sprache vermeiden wollen. In solchen Fällen können wir alle kreativ werden und dem Wortschatz eigene Erfindungen hinzufügen oder eine grammatische Regel ein kleines bisschen erweitern. Und es kann immer passieren, dass solche Neuerungen sich ausbreiten und Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs werden.
Das ist natürlich vor allem dann der Fall, wenn wir mit einer einzigen Sprechhandlung möglichst viele Menschen erreichen: Einer der Helden der deutschen Sprachnörglergemeinde ist der Sprachpurist Philipp von Zesen (1619–1689), der für eine große Zahl erfolgreicher Eindeutschungen von (meist französischen, griechischen und lateinischen) Lehnwörtern verantwortlich ist – ihm zugeschrieben werden zum Beispiel die Wörter Abstand (statt Distanz), Bücherei (statt Bibliothek), Mundart (statt Dialekt) und Weltall (statt Universum). Dass er bei der Verbreitung dieser Wörter – anders als die heutigen Sprachpuristen vom Verein Deutsche Sprache – so erfolgreich war, lag daran, dass er wenig Zeit damit verbrachte, diese Eindeutschungen in Form eines Fremdwörterindex oder einer Sprachpanscher-des-Jahres-Wahl zu propagieren, und relativ viel Zeit damit, sie einfach zu verwenden – und da er ein sehr produktiver Schriftsteller und Übersetzer war, erreichte er mit jeder Verwendung ein großes Publikum.
Heute sind mit den Massenmedien Player an der Sprachentwicklung beteiligt, gegen die Philip von Zesen wie ein Amateur wirkt. Eine große Presseagentur oder ein großer Verlag, wie, sagen wir mal, der Axel-Springer-Verlag, können Wörter erfinden und innerhalb weniger Tage für eine Verbreitung sorgen, die eine Übernahme in den allgemeinen Sprachgebrauch sehr viel wahrscheinlicher macht als alles, was wir Kleinkommunizierenden tun könnten um die Sprache mitzuentwickeln. Weiterlesen
Merkels versaute Raute
Diese Woche twitterte Julia Probst – bekannt durch ihren Twitter- Lippenlesedienst bei Sportereignissen und ihren Aktivismus für Untertitel und gegen Cochlea-Implantate – folgenden linguistisch faszinierenden „Funfact“:
Funfact: Die #Merkel-#Raute bedeutet in #Gebärdensprache “Vagina”.
— Julia Probst (@EinAugenschmaus) 1. Oktober 2014
Nun ist Humor bekanntlich sehr individuell, und so lässt sich natürlich nicht objektiv feststellen, ob dieser Fact tatsächlich „Fun“ ist. Es gibt ja Menschen, die zum Beispiel Mario Barth lustig finden, und die wären vermutlich ganz aus dem Häuschen, wenn sich herausstellte, dass Merkel mit der für sie typischen Geste (siehe Abbildung links) seit Jahren unabsichtlich bei jedem ihrer Auftritte das Wort „Vagina“ gebärdet. Wenn sie es in subversiver Absicht ganz bewusst täte, könnte vielleicht sogar ich Humor darin erkennen.
Aber wir sind ja das Sprachlog, nicht das Lachlog, deshalb konzentrieren wir uns auf die Frage, ob dieser (potenzielle) Fun überhaupt „Fact“ ist. Weiterlesen