Dass das Wort „Flüchtling“ bezüglich seiner Wortbildung und vor allem seiner Verwendung im allgemeinen Sprachgebrauch nicht unbedingt abschätzig ist, habe ich ja im vorangehenden Beitrag gezeigt, aber anlässlich der Wahl zum Wort des Jahres greift mein Kollege Peter Eisenberg (bis zu seiner Emeritierung an der Universität Potsdam, also gleich um die Ecke, tätig), in der FAZ ein anderes potenzielles Problem an diesem Wort auf:
Interessant ist, dass „Flüchtlinge“ sich bei genauerem Hinsehen als politisch inkorrekt erweist. Es handelt sich um eine Personenbezeichnung im Maskulinum, die von der Bedeutung her eigentlich einem Femininum zugänglich sein sollte wie bei „Denker/Denkerin“, „Dieb/Diebin“. Aber die Form „Flüchtlinginnen“ gibt es nicht. [Eisenberg]
Auf dieses Problem hat schon im Oktober meine Kollegin Luise Pusch in ihrem Blog hingewiesen:
Rein sprachlich gesehen sind aber die „Flüchtlinge“ durchaus ein Problem, denn das Wort „Flüchtling“ ist — wie alle deutschen Wörter, die mit „-ling“ enden — ein Maskulinum, zu dem sich kein Femininum bilden lässt. [Pusch]
Als Problem betrachten das beide, auch wenn sie bezüglich einer möglichen Lösung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen: Pusch greift Sascha Lobos Vorschlag auf, das Wort Vertriebene zu nehmen, oder ein anderes aus einem Partizip gebildetes Wort, wie Geflüchtete, Geflohene oder Willkommene. Diese Wörter können männlich (der Vertriebene) oder weiblich (die Vertriebene) sein, im Plural (die Vertriebenen) sind sie sogar geschlechtsneutral.
Eisenberg kann sich mit dieser Lösung nicht anfreunden, denn er sieht an „willkürlichen Normsetzungen“ wie Geflüchtete ein ungelöstes „Kernproblem“:
Die beiden Wörter bedeuten nicht dasselbe. Auf Lesbos landen Tausende von Flüchtlingen, ihre Bezeichnung als Geflüchtete ist zumindest zweifelhaft. Umgekehrt wird auch ein aus der Adventsfeier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.
Das Deutsche ist so bildungsmächtig, dass man sich andere Wörter als Ersatz vorstellen kann: Vertriebene, Geflohene, Zwangsemigranten, Entheimatete und viele weitere, von denen eins schöner ist als das andere. Aber es bleibt dabei: Sie alle bedeuten etwas anderes als Flüchtlinge. [Eisenberg]
Überhaupt ist er gezielter Sprachplanung gegenüber skeptisch: „Die Sprache wird nicht akzeptiert, wie sie ist, sondern sie gilt als manipulierbarer Gegenstand mit unklaren Grenzen dieser Manipulierbarkeit.“
Eisenberg und Pusch gehören beide zu den Sprachwissenschaftler/innen, die mich am stärksten geprägt haben, aber in diesem Fall bleiben sie mir beide etwas zu sehr an der Oberfläche der zugrundeliegenden sprachlichen Phänomene. Sehen wir uns das Problem also genauer an.
Kein Femininum zu Flüchtling
Eisenberg und Pusch sind sich einig, dass es zum maskulinen Flüchtling kein feminines Gegenstück gibt. Pusch stellt das als Tatsache lediglich fest, Eisenberg geht einen Schritt weiter und liefert eine sprachwissenschaftliche Begründung dafür, dass die Bildung Flüchtlingin „ausgeschlossen“ sei. Er erklärt, dass die Suffigierung (also das Anhängen von Nachsilben an Wörter) bestimmten Regeln folgt, speziell, dass dabei eine gewisse Reihenfolge einzuhalten sei. Das kann zum (wortbildnerischen) Problem werden, wenn zwei Elemente in dieser Reihenfolge die gleiche Position einnehmen:
Es kommt vor, dass in einer solchen Hierarchie zwei Suffixe sozusagen parallel geschaltet sind und dann nur alternativ auftreten, niemals aber gemeinsam, egal in welcher Reihenfolge. Das gilt für ‑in und ‑ling. Beide bilden im Gegenwartsdeutschen Personenbezeichnungen, das eine Maskulina, das andere Feminina. Das System sieht sie als miteinander unverträglich an. [Eisenberg]
Es gebe eben Fälle, so Eisenberg weiter, „in denen das Sprachsystem die vielleicht verbreitetste Form des Genderns nicht zulässt“, und das müsse „jeder, der auf diesem Gebiet tätig wird, wissen und akzeptieren“.
Auch die sprachreformerisch nicht gerade zurückhaltende Luise Pusch weiß und akzeptiert das ja, aber stimmt es eigentlich? Spricht tatsächlich ein tiefliegender sprachsystemischer Grund dagegen, an Maskulina mit -ling zusätzlich das feminine Suffix -in zu hängen?
Ein kurzer Blick in die jüngere Sprachgeschichte zeigt, dass das nicht der Fall ist. Im Deutschen Textarchiv finden sich rund 50 Treffer für Wörter, die beide Nachsilben kombinieren – am häufigsten Lieblingin, gefolgt von Läuflingin, Flüchtlingin und Fremdlingin, aber auch Neulingin, Schützlingin, Täuflingin u.a.:
- Seit jhr so eine Frembdlingin in der Welt / daß jhr das nicht wisset? antwortete Santscho Panssa. [1648]
- Die Novitiatin oder Neulingin tragen zum Gedaͤchtniß der Unſchuld des Seligmachers ein weiſſes Scapulier. [1715]
- Es ward ihm aufgegeben, die Fluͤchtlingin einzuholen, nachdem ihre Flucht und ihr grober Diebſtal zu jedermanns Wiſſenſchaft drang. [1779]
- Kommt mein Sohn Paris, wie mein väterlicher Wunſch iſt, glücklich nach Troja zurück, und bringt er eine entführte Griechin mit ſich, ſo ſoll euch dieſe ausgeliefert werden, wenn ſie anders nicht als Flüchtlingin unſern Schutz anfleht. [1839]
- Täuflingin hatte, während ihr das Mützchen gelöſt ward, dreimal kräftig genieſt: item, ſie war ein Weltwunder von Geiſt und Gaben; [1871]
- Sie ſehen in mir die Abkömmlingin eines Geſchlechtes, das ſich ſeit hundert Jahren nur von Frauengut und ohne jede andere Arbeit oder Verdienſt erhalten hat, bis der Faden endlich ausgegangen iſt. [1882]
Die Treffer reichen bis ins späte 19. Jahrhundert hinein, und sie stammen von Autor/innen, deren Kompetenz bezüglich der deutschen Sprache außer Frage steht, darunter Gustav Schwab (Bsp. [4]) und Gottfried Keller (Bsp. [6]).
Die beiden Nachsilben haben keine nennenswerte Bedeutungsveränderung erfahren, aus der sich die Veränderung in ihrer Kombinierbarkeit erklären würde – es ist also nur ein historischer Zufall, dass sie derzeit nicht gemeinsam vorkommen können.
Solche Zufälle gibt es auch ganz ohne das Suffix -ling: die feminine Form Gästin, zum Beispiel, ist im Deutschen Textarchiv bis ins frühe 18 Jahrhundert belegt, klingt aber heute im allgemeinen Sprachgebrauch merkwürdig bis falsch. ((Das Wort erlebt aber möglicherweise ein Comeback – Im Google-Books-Korpus zeigt sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts ein Aufwärtstrend und der Duden hat Gästin 2013 offiziell aufgenommen)) Da es keine tiefergehenden Gründe für die derzeitige Nicht-Kombinierbarkeit der Suffixe gibt, kann dieser Zustand durchaus vorübergehend sein – wenn die Sprecher/innen des Deutschen aufgehört haben, diese Nachsilben zu kombinieren, können sie auch wieder damit anfangen.
Ist der Flüchtling überhaupt männlich?
Aber wäre es überhaupt ein Problem, wenn die Nachsilben unkombinierbar und der Flüchtling damit ein reines Maskulinum bliebe? Im Prinzip nicht, und die Gründe dafür liegen in einer Funktionsweise menschlicher Sprachen, die auch weiter unten noch einmal relevant wird: Wörter erhalten ihre Bedeutung nicht (bzw. nicht ausschließlich) aus sich selbst heraus, sondern zu einem großen Teil durch ihre Opposition zu ähnlichen Wörtern: Die Wörter Stuhl und Sessel unterscheiden sich in ihrer Bedeutung, eben weil es zwei Wörter für Sitzgelegenheiten gibt: im Englischen gibt es für beides nur das Wort chair, das – anders als die deutschen Wörter — harte und weiche Sitzmöbel gleichermaßen bezeichnet.
Die meisten Personenbezeichnungen im Deutschen haben eine maskuline und eine feminine Form, und aus dieser Opposition ergibt sich die Bedeutung „männlich“ und „weiblich“. Wörter, die in keiner solchen Opposition stehen – der Mensch, die Person und eben auch der Flüchtling – sind im Prinzip geschlechtsneutral.
Leider nur im Prinzip, denn ganz so einfach ist es dann doch nicht, wie Luise Pusch schreibt:
Diese maskulinen Bezeichnungen [„Flüchtling“, „Lehrling“, „Täufling“, „Säugling“ usw.] verdrängen Mädchen und Frauen aus unserem Bewusstsein; sie lassen in unseren Köpfen automatisch Bilder von Jungen oder Männern entstehen.“
Das stimmt unglücklicherweise, es liegt aber an einem Problem, für das die Sprache nur teilweise etwas kann: an einer kulturell bedingten kognitiven Verzerrung, die uns immer dann, wenn von Menschen die Rede ist, davon ausgehen lässt, dass Männer gemeint sind, solange nicht explizit das Gegenteil kommuniziert wird. Dieser Verzerrung mögen wir uns nicht bewusst sein, sie ist aber dutzendfach experimentell nachgewiesen, sie greift schon bei Kindern und existiert in allen bisher untersuchten Kulturen – auch solchen, in deren Sprachen Geschlecht nie oder nur ausnahmsweise markiert wird.
Das Wort Flüchtling selbst ist also nicht verantwortlich für die stereotyp männliche Bedeutung, die es auslöst. Die allgemeine kognitive Verzerrung wird aber in absehbarer Zeit nicht einfach verschwinden (damit das geschieht, müsste zuerst das Patriarchat und die Erinnerung daran verschwinden). Es könnte also nützlich sein, eine grammatisch feminine, semantisch weibliche Alternative für das Wort Flüchtling zu haben, mit der man dort, wo nötig, dieser Verzerrung entgegenwirken könnte.
Also doch alternative Wörter für Flüchtling?
Solche Alternativen gibt es ja, wie oben diskutiert, bereits: Pusch und Eisenberg nennen das von Lobo und anderen vorgeschlagene Vertriebene, das auch von der Wort-des-Jahres thematisierte Geflüchtete/r und dessen Variante Geflohene, Eisenberg außerdem Zwangsemigranten und Entheimatete. Sie alle werden bereits verwendet und haben maskulin-männliche und feminin-weibliche Formen, wären also gute Alternativen – wenn sie nicht, wie Eisenberg betont, andere Bedeutungen transportieren würden als Flüchtling.
Kann also keine dieser Alternativen das Wort Flüchtling ersetzen? Theoretisch doch, denn auch hier greift das Prinzip der Opposition: die Wörter bilden ein Wortfeld, in dem jedes der Wörter seine Bedeutung durch Bezüge und Abgrenzungen der anderen vorhandenen Wörter erhält. Würde das Wort Flüchtling mit einem Mal verschwinden, würden eins oder mehrere der anderen Wörter den freiwerdenden Bedeutungsbereich mit abdecken. Wie ich im letzten Beitrag beschrieben habe, zeigt das Wort Geflüchtete/r tatsächlich jetzt schon erste Anzeichen einer Ausdehnung in den Bedeutungsbereich von Flüchtling.
Schlussgedanken
Eisenbergs Argumentation geht also an mindestens zwei Stellen implizit von einer statischen Vorstellung von Sprache aus: erstens dort, wo er die derzeitige Nicht-Kombinierbarkeit von -ling und -in als unveränderliche Eigenschaft des Sprachsystems darstellt und zweitens dort, wo er die Bedeutungen der Alternativen für Flüchtling als gegeben und ebenfalls unveränderlich annimmt. Aus dieser angenommenen Statik des Systems ergibt sich zum Teil seine oben zitierte Kritik an denen, die die Sprache nicht so akzeptieren, „wie sie ist“. Zum anderen Teil ergibt sie sich – vermute ich – aus dem in der Sprachwissenschaft weit verbreiteten Axiom, dass Sprache sich nicht von außen verändern lässt, sondern sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt.
Aber natürlich „ist“ Sprache nie, sie ist zu jedem Zeitpunkt im Werden. Und natürlich lässt sie sich in ihrer Entwicklung beeinflussen: die Sprachgemeinschaft hat eine Reihe diskriminierender Wörter aus dem allgemeinen Sprachgebrauch genommen, sodass sie ganz verschwunden oder in einzelne Subkulturen abgedrängt worden sind.
Man kann – wie Eisenberg, und wie auch ich – der Meinung sein, dass keine Notwendigkeit besteht, das auch mit dem Wort Flüchtling zu tun. Ich stimme ihm zu, dass die Bedeutungsvielfalt der Wörter im Wortfeld „Menschen auf der Flucht“ eine Ressource zur Bedeutungsdifferenzierung ist, die wir nicht vorschnell aufgeben müssen und sollten. Das Problem des Genderns würden wir allein mit einer Neubewortung sowieso nicht in den Griff bekommen, denn im scheinbar geschlechtsneutralen Plural, in dem die Wörter typischerweise verwendet werden, käme ohnehin die oben erwähnte kognitive Verzerrung wieder ins Spiel (bei die Geflüchteten denken wir zunächst genauso sehr nur an Männer wie bei dem Wort die Flüchtlinge).
Aber man sollte die grundsätzlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten sprachplanerischer Eingriffe nicht mit dem Argument abtun, das Sprachsystem sei, wie es ist. Sprache ist, was ihre Sprachgemeinschaft aus ihr macht.