Mein wöchentliches Durchkämmen der Presse liefert nicht immer Material für die Sprachbrocken – so auch diese Woche. Ich habe deshalb per Twitter nach Themenwünschen gefragt, die ich im Sprachbrockenformat beantworten könnte. Aus den zahlreichen Wünschen habe ich vier ausgewählt, zu denen mir spontan etwas einfiel (die übrigen Vorschläge habe ich mir notiert und werde vielleicht bei Gelegenheit darauf zurückkommen). Los gehts.
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Archiv des Autors: Anatol Stefanowitsch
Shitstormgeburtstag
Seit wir 2011 Shitstorm zum Anglizismus des Jahres gewählt haben, vergeht kaum eine Woche, in der ich meinen Namen nicht irgendwo in Verbindung mit diesem Wort lesen darf. Wann immer ein Shitstorm diskutiert wird, finden sich in einem Nebensatz oder in einem erklärenden Kasten ein Hinweis auf unsere Wahl und ein oder zwei Zitate von mir. Obwohl ich leicht zu erreichen bin, sind diese Zitate normalerweise alt und stammen aus Pressemitteilungen oder Interviews, und nicht aus meiner Laudatio oder Susannes exzellenten Beiträgen zu diesem Wort. ((Wobei hier ein Lob an die Wikipedia angemessen ist, die sich in dem Eintrag zu diesem Wort in wichtigen Punkten auf unsere Recherchen stützt.)) So auch heute, wo eine Pressemeldung der dpa den 50. Geburtstag des Wortes bekannt gibt (abgedruckt z.B. in der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Vermeintlich neues Wort“): Weiterlesen
Sprachbrocken 17/2013
Über die religiösen Mythen exotischer Kulturen kursieren ja die wildesten Gerüchte, was häufig daran liegt, dass sie in ebenso exotischen Sprachen abgefasst sind und dass es keine Übersetzungen gibt. Ein Grund mehr, einen Meilenstein des interkulturellen Verständnisses zu feiern, der diese Woche bekannt wurde: der Mythos „Star Wars Episode IV: Eine neue Hoffnung“ (bei Fundamentalisten aus nicht nachvollziehbaren Gründen als „Episode I“ bekannt) wird, wie der HOLLYWOOD REPORTER meldet, endlich ins Navajo übersetzt. Damit wird dieses urtümliche und schwer verständliche Epos erstmals Mitgliedern einer fortgeschrittenen Zivilisation zugänglich gemacht, die so unschätzbar wertvolle Einblicke in das spirituelle Leben der sogenannten „Amerikaner“ (die sich selbst nur People, also grob übersetzt „Menschen“ nennen) erhalten. Weiterlesen
Von alten Säcken und alten Damen
Es fällt der taz in letzter Zeit sichtlich immer schwerer, das eigene Niveau noch zu unterbieten, aber Matthias Lohre ist es diese Woche wieder einmal gelungen: Er hat einen Text verfasst, der so unterirdisch verblödet und so unglaublich schlecht recherchiert ist, dass man ernsthafte Zweifel hegen muss, ob Texte bei der taz einen redaktionellen Prozess durchlaufen, bevor sie freigeschaltet werden.
Eine „neue Form der Diskriminierung“ will der Kolumnist gefunden haben, eine, die er – offenkundig ganz ohne sich mühsam mit der Forschungsliteratur zu Diskriminierung zu befassen, mit inspiriert-beschwingtem Federstrich „Altersgeschlechtsdiskriminierung“ nennt. Und die treffe — wait for it — „ausschließlich Männer, alte Männer“.
Für eine derartig absurde Behauptung dürften die für gesellschaftliche Diskriminierung vermutlich überdurchschnittlich sensibilisierten LeserInnen der taz überwältigend überzeugende Belege erwarten. Und diese Erwartung wird umgehend mit einer Konsequenz enttäuscht, wie sie derzeit nur die taz an den Tag legen kann. Und da die Belege rein sprachlicher Natur sind, greife ich sie im Sprachlog kurz auf, obwohl Felis die wesentliche Antwort bereits geliefert hat.
[Hinweis: Der folgende Text enthält Beispiele sexistischer und altersdiskriminierender Sprache.] Weiterlesen
Sprachbrocken 16/2013
Während die römisch-orthodoxe Kirche sich mit Jorge Mario Mergoglio aka Franziskus I schon des zweiten twitternden Papstes in Folge rühmen kann, muss ihr russisches Gegenstück wohl auf absehbare Zeit ohne Kurznachrichten ihres Oberhaupts auskommen. Wie die Nachrichtenagentur RIA NOVOSTI berichtet, hält Wladimir Michailowitsch Gundjajew aka Kyril I nichts von der „Twitter-Sprache“, dem „Twitter-Stil“ und vor allem wohl dem „Twitter-Tempo“, das die Welt heutzutage erwarte. Seelsorge sei wichtiger als prompte Reaktionen auf aktuelle Ereignisse. Der Pontifex sieht das ja offensichtlich anders: Statt, wie sein Vorgänger, nur Kalendersprüche zu twittern, bat er vorgestern seine Schäfchen darum, mit ihm gemeinsam für die Opfer der Explosion in einer texanischen Düngemittelfabrik zu beten. Nett gemeint, zweifelsohne, aber schwer nachvollziehbar, warum ausgerechnet dieses Ereignis – und ausschließlich dieses – seiner Aufmerksamkeit würdig ist. Weiterlesen
Wer ist maskulin, wer ist feminin?
Wegen eines nicht besonders guten Blogbeitrags wurde heute in meiner Twitter-Timeline diskutiert, welches grammatische Geschlecht das Fragepronomen wer hat – genauer, ob es sich wie in dem verlinkten Beitrag behauptet, um ein Maskulinum handelt.
Sprachwissenschaftlich ist das keine einfache Frage. In einigen Zusammenhängen verhält es sich wie ein sogenanntes Utrum, eine Form die sich auf Menschen (und manchmal uns nahestehende Tiere), aber nicht auf unbelebte Gegenstände bezieht. So kann mit wer nach Maskulina, Feminina und Neutra gefragt werden, solange es Menschen sind. Bei Gegenständen muss dagegen mit was oder welches gefragt werden: Weiterlesen
Sprachbrocken 15/2013
Viele Universitäten, Behörden und andere staatliche Einrichtungen haben Leitfäden zur geschlechtergerechten Sprache. Nicht, weil sie von linksextremen, sexuell ausgehungerten Gutmenschen (wie mir) geleitet werden, sondern, weil es Gleichstellungsgesetze gibt, die das fordern (und die wiederum, liebe Freunde ((Kein generisches Maskulinum)) der maximalen Mannigfaltigkeit männlicher Meinungsäußerungen, setzen nur Artikel 3, Abs. 2 eures grenzenlos geliebten Grundgesetzes um). Auch die Gleichstellungsbeauftragte der UNIVERSITÄT ZU KÖLN hat gerade einen solchen Leitfaden herausgegeben und damit die Kölner Redaktion der BILD auf den Plan gerufen. „Müssen wir jetzt alle „Bürger*innensteig“ sagen?“ fragt die, und fährt besorgt fort: „Was darf man eigentlich noch sagen?“ Nun, „man“ darf natürlich sagen, was „man“ will, solange „man“ nicht Mitarbeiter/in der Universität zu Köln (oder einer anderen Behörde mit einem entsprechenden Leitfaden) ist. Insofern ist das ganze eigentlich keine Nachricht, aber vielleicht ist es ein ermutigendes Zeichen, dass die BILD es für eine hält und nach den besorgten Einstiegsfragen erstaunlich neutral über Gendergap, männliche Dominanz und gesellschaftliche Akzeptanzprobleme berichtet. Was die Kommentatoren ((Kein generisches Maskulinum)) naturgemäß nicht davon abhält, der Kölner Gleichstellungsbeauftragten zu bescheinigen, nicht alle „Tassen/Tassinen im Schrank“ bzw. „ein paar Schrauben/Schrauber locker“ zu haben. Weiterlesen
Sprachbrocken 14/2013
Sich über die Jugend und ihren Sprachgebrauch zu echauffieren, sei den Sprachnörglern, Kulturfixierern und anderen Veränderungs-verängstigten von Herzen gegönnt – schließlich haben es schon ihre Großeltern so gehalten, und deren Großeltern und die Großeltern der Großeltern von deren Großeltern. Aber spätestens wenn er sich unversehens dabei ertappt, mit Wladimir Putin einer Meinung zu sein, sollte auch der fanatischste Vergangenheitsfundamentalist einen Augenblick innehalten und über die gedanklichen Schritte nachdenken, die ihn in diese unangenehme Situation gebracht haben. Das ist Edwin Baumgartner von der WIENER ZEITUNG nicht gelungen. Putins Gesetz gegen Kraftausdrücke im Fernsehen ziele zwar wegen seiner willkürlichen Auslegbarkeit eindeutig auf eine Zensur der öffentlichen Rede ab. Aber angesichts des durch die synchronisierten Fassungen amerikanischer Filme inspirierten zotig-vulgären Sprachgebrauchs der heutigen Jugend (wirklich, das habe ich mir nicht ausgedacht) sei es ja Zensur zu einem guten Zwecke.
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Von Beamten und Beamtinnen
Die neue Straßenverkehrsordnung ist ja in den letzten Tagen wegen ihrer geschlechtergerechten Sprache von den üblichen Verdächtigen intensiv kritisiert worden. Eine Verlinkung auf die Kritiken erspare ich Ihnen und verlinke stattdessen auf die ausführliche sachliche Diskussion des Lexikografieblogs. Wie dort, und auch in der hier am Freitag diskutierten Pressemeldung des Auto Club Europa angemerkt wird, sind bei der Anpassung vereinzelt Wörter im Maskulinum stehengeblieben. In einigen Fällen, die das Lexikografieblog auflistet, scheint das reine Nachlässigkeit zu sein, da die betreffenden Wörter an anderen Stellen durch geschlechtsneutrale Formulierungen ersetzt wurden, doch bei einem Wort liegt das Problem möglicherweise tiefer. In Paragraf 36, Abs. 1 der StVO heißt es nach wie vor: Weiterlesen
Aprilscherz 2013: Auflösung
Und hier die Auflösung des diesjährigen Aprilscherzes:
Nominativ, Dativ, Akkusativ und Genitiv — Deutschlernenden fallen oft schon diese vier Fälle schwer. Die Sprecher/innen einer Sprache in Australien können darüber nur müde lächeln: Sie haben gleich zwanzig verschiedene Fälle!
Diese Sprache gibt es tatsächlich: Kayardild, gesprochen in Queensland in Austalien. Oder besser: es gibt sie noch, denn mit nur 23 Sprecher/innen, die alle nicht mehr ganz jung sind, wird sie schon in wenigen Jahren für immer verschwunden sein. Zwanzig Fälle sind auch gar nicht so exotisch, wie es vielleicht klingt: Auch in Europa gibt es mit den finno-ugrischen Sprachen eine äußerst kasusverliebte Sprachfamilie, deren Mitglieder sich alle in etwa in diesem Bereich bewegen. Dabei ist es in dieser Sprachfamilie nicht ganz einfach, die genaue Zahl der Fälle zu bestimmen, denn Kasusendungen unterscheiden sich dort formal kaum bis gar nicht von dem, was bei uns Präpositionen (wie in, unter, zwischen) sind: Diese Sprachen haben nämlich keine Prä- sondern Postpositionen, die, wie ihr Name vermuten lässt, hinter dem Wort stehen, auf das sie sich beziehen — also da, wo auch Kasusendungen stehen. Das führt dazu, dass z.B. die Zahl der Fälle im Ungarischen manchmal mit null, manchmal sogar mit über 30 angegeben wird (eine linguistisch halbwegs fundierte Analyse würde von ca. 21 ausgehen).
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft — mehr braucht ein Tempussystem doch nun wirklich nicht, oder? Doch, finden die Sprecher/innen einer Sprache in Afrika: Sie haben gleich fünf Vergangenheitsformen, eine Gegenwartsform und fünf Zukunftsformen!
Auch diese Sprache gibt es: Es ist das Bamileke-Dschang oder Yemba, gesprochen im Südwesten von Kamerun. Mit über 300 000 Sprecher/innen wird uns diese Sprache mit ihrem faszinierenden Tempussystem auf absehbare Zeit erhalten bleiben. Dass die Zahl von fünf Vergangenheits- und fünf Zukunftsformen vielen Sprachlogleser/innen in den Kommentaren und gestern auf Twitter nicht ungewöhnlich vorkam, liegt übrigens an einem Missverständnis dessen, was eine Tempusform ist: Das Französische, z.B. hat laut der deutschen Wikipedia sechs Vergangenheitsformen — das Passé Compose, das Imparfait, das Plus-que-Parfait, das Passé Simple, das Passé Anterieur und das Passé Récent. Tatsächlich hat es aber nur eine (oder maximal zwei): Das Passé, für Ereignisse, die in der Vergangenheit geschehen sind (und, wenn man es mitzählt, das Passé Récent für Ereignisse, die in der Gerade-erst-Vergangenheit geschehen sind). Die übrigen Formen ergeben sich (grob gesagt) daraus, dass das Passé mit anderen Bedeutungen kombiniert wird, die in der Sprachwissenschaft als Aspekt oder Modalität bezeichnet werden. Im Bamile-Dschang gibt es aber tatsächlich fünf verschiedene Vergangenheits- und Zukunftsformen, die fünf verschiedene Grade von Vergangenheit und Zukünftigkeit ausdrücken.
Singular und Plural — ein elegantes Numerus-System, das völlig ausreicht, oder? Niemals, finden die Sprecher/innen einer Sprache in Asien: Ihr Numerus-System unterscheidet zwölf verschiedene Numera.
Obwohl nichts dagegen spräche, für Mengen von eins bis elf jeweils eigene Formen zu haben, und erst ab zwölf in einen allgemeinen Plural zu wechseln — diese Sprache gibt es nicht. Die Sprache mit der größten bekannten Zahl an Numerus-Unterscheidungen ist das Sursurunga, gesprochen in Papua-Neuguinea, mit immerhin 5 Numeri: einem Singular (für genau eins), einem Dual (für genau zwei), einem Trial (für eine kleine Menge, aber mindestens drei), einem Quadral (für eine etwas größere Menge, aber mindestens vier), und einem Plural. Mit ca. 3000 Sprecher/innen ist das kurzfristige Überleben dieser Sprache nicht in Gefahr, aber ob sie das 21. Jahrhundert überdauern wird, muss bezweifelt werden.
Maskulinum, Femininum, Neutrum — das reicht doch, um jedem Substantiv ein Genus zu geben, oder? Nein, finden die Sprecher/innen einer Sprache in Afrika: Sie teilen ihre Substantive in einundzwanzig verschiedene Genera ein!
Da der Aprilscherz ja bei den Numera versteckt war, gibt es natürlich auch diese Sprache: es ist Fulfulde oder Fula, gesprochen in Nigeria. Mit etwa 12 Millionen Sprecher/innen die Sprache in der diesjährigen Ausgabe des Sprachlog-Aprilscherzes, um die wir uns am wenigsten Sorgen machen müssen. Das Fulfulde gehört zu den Niger-Kongo-Sprachen, die für ihre umfangreichen Genus- (bzw. Nominalklassen-)Systeme bekannt sind — auch die Bantu-Sprachen, wie z.B. Swahili, gehören in diese Großfamilie. Allerdings ist das Fulfulde auch in dieser Großfamilie ein Spitzenreiter: Die Menge der Nominalklassen der Bantu-Sprachen wird häufig mit ca. 18–20 angegeben, wobei aber berücksichtigt werden muss, dass in der Bantuistik Singular und Plural jeweils als eigene Klasse gezählt werden. Täte man das auch beim Fulfude, hätte es die doppelte Menge, also mindestens 42 Nominalklassen oder Genera!
Im Laufe dieses Jahrhunderts könnten bis zu 90 Prozent aller derzeit gesprochenen Sprachen aussterben. Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen bemüht sich, diese Sprachen zu dokumentieren und kann Ihre Spenden gebrauchen!