Im feuilletonistischen Eklat um verschiedene Formen der geschlechtergerechten Rechtschreibung, über die der Rechtschreibrat gestern erstmals beraten und mit denen er sich in den nächsten Monaten genauer beschäftigen will, wird immer wieder die Frage gestellt, wie man diese Formen den aussprechen solle. Genauer gesagt, es wird – im Einklang mit dem allgemein sehr selbstzufriedenen Ton der Kritiker/innen – unterstellt, dass man sie eben nicht aussprechen könne.
Tatsächlich lässt sich diese Frage beantworten (bzw. die Unterstellung aus der Welt räumen). Auch wenn die Kritier/innen es sich offenbar nicht vorstellen können, machen die Befürworter/innen geschlechtergerechter Sprache sich sehr ausführlich Gedanken über das, was sie tun, und lösen solche Probleme lange bevor sie den Kritiker/innen überhaupt auffallen.
Bei den sogenannten Sparschreibungen mit Schrägstrichen oder Klammern – also z.B. Kritiker/-in oder Befürworter(inn)en – ist die Sache einfach: Diese Formen sind als Abkürzung für Doppelformen gedacht und werden als solche gesprochen: Kritiker oder Kritikerin, Befürworterinnen und Befürworter usw.
Auch das Binnen‑I wird von manchen als Sparschreibung (Abkürzung) betrachtet, und wäre in diesem Fall genauso zu behandeln. Andere Betrachten es als eigene Form, und sprechen es einfach aus, ohne das Binnen‑I hervorzuheben – es klingt dann eben so wie das Femininum (Kritikerin, Befürworterinnen).
Interessant wird es beim Gendergap (Kritiker_in) und dem Gendersternchen (Kritiker*in). Diese sind ja explizit nicht als Abkürzungen der Doppelform gedacht, sondern sollen die darin enthaltene Zweigeschlechtlichkeit durchbrechen – die Lücke und das Sternchen sind hier Platzhalter für weitere mögliche Geschlechter. Dieser Platzhalter muss sinnvollerweise auch in der gesprochenen Sprache signalisiert werden – und dafür hat sich schon seit längerem eine linguistisch interessante Lösung etabliert.
Das Sternchen und die Lücke werden in der Aussprache durch einen stimmlosen glottalen Verschlusslaut wiedergegeben – ein Laut, den wir produzieren, indem wir die Stimmlippen („Stimmbänder”) kurz vollständig schließen.
Dieser Laut, der im Internationalen Phonetischen Alphabet durch das Symbol [ʔ] repräsentiert wird, steht im Deutschen (in den deutschen und österreichischen Dialekten) am Anfang jedes Wortes, das scheinbar mit einem Vokal beginnt. Das Wort Eklat, z.B., wird nicht [eklaː] ausgesprochen, sondern [ʔeklaː]. Das merken wir, wenn wir einen indefiniten Artikel davor setzen – ein Eklat. Wenn wir das aussprechen, hören wir eine kurze Pause vor Eklat, und das [e] hat einen klaren Ansatz: [aɪ̯n ?eklaː] (das Leerzeichen steht für eine kurze Pause).
Im Französischen, beispielsweise, ist das anders, dort gibt es diesen glottalen Verschlusslaut am Wortanfang nicht. Eclat wird hier tatsächlich [ekla] ausgesprochen, und wenn wir einen indefiniten Artikel davor setzen, fließen die Wörter ineinander [œnekla]. Auch an der Silbifizierung sehen wir die Effekte des glottalen Verschlusslauts: im Deutschen ist zwischen ein und Eklat eine Silbengrenze (hier durch einen Punkt dargestellt) – [aɪ̯n.?e.klaː]; im Französischen ist diese Silbengrenze in der Mitte des indefiniten Artikels un, das n bildet mit dem e von Eklat eine Silbe, die Wortgrenze wird ignoriert – [œ.ne.kla]. Im Schweizerdeutschen ist es übrigens wie im Französischen, ein Eklat wird dort [aɪ̯.ne.klaː] ausgesprochen.
Innerhalb von Wörtern kommt der stimmlose glottale Verschlusslaut im Deutschen selten vor, nämlich in Komposita (die ja aus zwei Wörtern bestehen) an der internen Wortgrenze, und bei manchen Präfixen („Vorsilben“), z.B. ver-: in den meisten Dialekten sagen wir beispielsweise für Verein [fɛɐ̯ʔaɪ̯n], und nicht [fɛˈʁaɪ̯n].
Vor Suffixen („Nachsilben“) kommt der glottale Verschlusslaut nie vor – bzw., er kam dort nie vor, bis eben manche Sprecher/innen angefangen haben, ihn als lautliche Repräsentation des Gendergap bzw. ‑sternchen zu verwenden. Während Ärztin z.B. [ɛːɐ̯tstɪn] ausgesprochen wird, wird Ärzt_in oder Ärzt*in [ɛːɐ̯tstʔɪn] ausgesprochen.
Das hat eine Reihe erwartbarer phonologischer Konsequenzen. So verändert es die Silbifizierung. Bei Ärztin bildet der Konsonant am Ende des Wortstammes gemeinsam mit dem Suffix eine Silbe – [ɛːɐ̯ts.tɪn], bei Ärzt_in/Ärzt*in wird das durch den glottalen Verschlusslaut verhindert – [ɛːɐ̯tst.ʔɪn]. In dieser Hinsicht verhält sich das Suffix jetzt lautlich wie ein eigenes Wort.
Aber interessanterweise nur in dieser Hinsicht. Alle anderen Prozesse, die man am Wortende erwarten würde, finden sich vor diesem Suffix nicht.
Zum Beispiel wird das er-Suffix im Deutschen phonologisch zu einem [ɐ], einer Art unbetonten, tiefen a: [kʁiːtɪkɐ]. Folgt ein Suffix, behält es seine eigentliche lautliche Form [əʁ], z.B. in Kritikerin: [kʁiːtɪkəʁɪn]. Vor dem glottalen Verschlusslaut in der Aussprache von Kritikerin behält es ebenfalls diese Form: [kʁiːtɪkəʁʔɪn]. Damit ist klar, dass vor dem Suffix keine Wortgrenze ist – die Gap/Sternchen-Version des Suffixes, [ʔɪn], bleibt trotz des glottalen Verschlusslauts ein Suffix.
Das zeigt sich auch an einem weiteren Phänomen des Deutschen, der Auslautverhärtung. Am Wortende sind im Deutschen keine stimmhaften Konsonanten erlaubt, wo ein Wort einen hätte, wird dieser stimmlos. Chirurg wird etwa [çiʀʊʁk] ausgesprochen, nicht [çiʀʊʁɡ]. Folgt ein Suffix, z.B. der Plural oder eben das feminine -in, bleibt das [ɡ] am Wortende stimmhaft: [çiʀʊʁɡən], [çiʀʊʁɡɪn]. Und auch bei der Gap/Sternchen-Variante bleibt es stimmhaft: [çiʀʊʁɡʔɪn].
Schließlich sieht man auch am Wortakzent, dass das Gap/Sternchen-Suffixes [ʔɪn] sich wie ein Suffix verhält. Im Deutschen werden romanische Lehnwörter, die auf das Suffix -or enden, auf der vorletzten Silbe betont (hier durch Großbuchstaben symbolisiert): MOtor, AUtor, proFESSor, alliGAtor, modeRAtor. Kommt ein Suffix dazu, verschiebt sich der Wortakzent auf das Suffix selbst, so dass er wieder auf der vorletzten Silbe liegt: moTOren, auTOren, profeSSOrin, alligaTOren, moderaTOrin. Beim Gap/Sternchen-Suffix [ʔɪn] verschiebt sich der Wortakzent ebenfalls auf diese Weise (in der phonetischen Transkription steht ein Apostroph vor der betonten Silbe: Moderator [modeˈʀaːtoːɐ̯], Moderatorin [modeʀaˈtoːʀɪn], Moderator*in [modeʀaˈtoːʀʔɪn]. Die Aussprache dieser drei Wörter ist hier zu hören:
Wir sehen: Mit dem stimmlosen glottalen Verschlusslaut am Anfang eines Suffixes betreten die Verwender/innen dieser Formen phonologisches Neuland, da der Laut an dieser Stelle bisher nicht stehen konnte. Da schon die orthografischen Formen mit Gendergap oder ‑sternchen bei manchen Kollegen (kein generisches Maskulinum) Ängste vor einer bevorstehenden Zerstörung der deutschen Sprache auslösen, kann man sich vorstellen, wie sie reagieren würden, wenn sie vom [ʔɪn]-Suffix erführen. Da sie nichts zur Kenntnis nehmen, was irgendjemand zum Thema Gender schreibt, wird das zum Glück nicht passieren.
Es besteht aber keine Gefahr fürs Deutsche – die oben diskutierten Phänomene zeigen, dass die lautliche Struktur der betreffenden Wörter voll erhalten bleibt, dass sich das [ʔɪn]-Suffix also trotz seiner ungewöhlichen lautlichen Form voll in die Morphologie und Phonologie des Deutschen integriert.
Wir werden also die deutsche Sprache in all ihrer geschlechtergerechten und ‑ungerechten Vielfalt noch sehr lange genießen dürfen.
Gelesen und für spannend befunden – aber ehrlicherweise trotzdem: not convinced. Bei der Form „Lehrer*innen“ habe ich Lehrer und Lehrerinnen. Schon bei „Ärzt*innen“ kann man sich fragen, wo das für den maskulinen Plural nötige ‑e herkommt: Ärzt’inn’E’n? Ohne das E ist es aber im Grunde ein generisches Femininum. Kann man machen, gerade um Nachdenken zu provozieren, ist aber letzten Endes auch nicht gerechter als ein generisches Maskulinum. Und wie soll eigentlich die Gendersternchen-Schreibweise und ‑Sprechweise für „Bauern und Bäuerinnen“ heißen?
Hybride wie „Lehrer*innen trafen auf Bauern und Bäuerinnen“ sind wirklich weder sprachlich noch schriftlich konsequent und erst recht nicht ästhetisch, weswegen ich fürchte, dass – bei allem Respekt für die Sichtbarmachung all jener, die sich in der Zweigeschlechtlichkeit nicht wiederfinden – die Variante „Lehrerinnen und Lehrer“ und „Ärzte und Ärztinnen“ wohl doch die sinnvollere sein dürfte.
@ Philipp: Bei Ärzt*innen kann man sich keinesfalls fragen, wo das für den maskulinen Plural nötige -e herkommt, denn in dieser Form soll kein maskuliner Plural enthalten sein. Es soll ja, wie im Text steht, keine verkürzte Form von Ärztinnen und Ärzte sein, sondern eine ganz neue Form. Bei der amtlich erlaubten Sparform Ärzt/-innen könnte man sich diese Frage stellen, deshalb ist diese Form laut amtlicher Rechtschreibung auch nicht erlaubt.
‘Lehrer*innen treffen auf Bäuer*innen’
Ich sehe da kein Problem.
Lieber Philipp,
genau, das ist nämlich nötig.
Lieber Philipp,
gute Frage.
» Schon bei „Ärzt*innen“ kann man sich fragen, wo das für den maskulinen Plural nötige ‑e herkommt:
Also, drüber nachdenken ist gut, aber das “e” muss schlicht nirgendwo herkommen. So funktioniert Morphologie nicht.
Zu der Bauer-Frage: ich würde “Bäuer*innen” sagen, aber es ist nicht unmöglich, dass sich “Bauer*innen” durchsetzt – schönes Beispiel.
Umlaute sind jedenfalls nicht böse oder unmaskulin
Ich glaube, auch Menschen zu kennen, die die Glottisverschluss-Aussprache für das Binnen‑I nutzen – müsste mal nachfragen. (Wollte das nur erwähnen, weil am Anfang des Textes dieses Ausspracheform ausschließlich für die Formen mit * oder _ oder ähnlichen Zeichen eingeführt wird.)
Sehr schöner Erklärtext jedenfalls, vielen Dank!
Drei Kommentare zu diesem sehr interessanten Text:
- Wenn Sie schreiben: “Im Schweizerdeutschen ist es übrigens wie im Französischen, ein Eklat wird dort [aɪ̯.ne.klaː] ausgesprochen.”, dann meinen Sie wahrscheinlich “Im Schweizerischen Hochdeutsch” oder “In der Schweizer Standardsprache”, denn in den Schweizer Dialekten, die man manchmal als “Schweizerdeutsch” zusammenfasst, ist der Artikel [aɪ̯n] nicht gebräuchlich.
- Mir scheint, die Sache mit dem Glottisverschluss ist schon ziemlich alt: Diese Aussprache wurde schon vor über zwanzig Jahren für die Formen mit Binnen‑I propagiert und auch praktiziert. In der Sprachwirklichkeit gab (und gibt es) alle möglichen Realisierungen zwischen Aussprache mit klarem Glottisverschluss und einer solchen, die von der femininen Form nicht zu unterscheiden ist.
- Letzterer Punkt führt für mich dazu, dass die Aussage “Wir sehen: Mit dem stimmlosen glottalen Verschlusslaut am Anfang eines Suffixes betreten die Verwender/innen dieser Formen phonologisches Neuland, da der Laut an dieser Stelle bisher nicht stehen konnte.” relativiert werden sollte, denn mir scheint, dass Sie hier etwas postulieren, was noch empirisch überprüft werden sollte: Wird heute wirklich eher (in vereinfachter Notierung) [AUtorʔin] gesagt, statt (wie bisher auch schon [auTORʔin]? Ich kann es nicht beurteilen, da ich hier zuwenig konkreten Input habe und offenbar bisher noch nicht genügend gut zugehört habe.
@ Daniel E: Ja, ich rede über die standardsprachlichen Varianten des Bundesdeutschen, Französischen und Schweizerdeutschen. Ihren letzten Punkt verstehe ich nicht: Nein, niemand sagt AUtorʔin, warum sollten sie auch? Durch das Suffix mit dem glottalen Verschlusslaut verschiebt sich der Wortakzent genauso wie durch das ohne – genau darum geht es doch in dieser Passage.
Zu Ärzt*innen: Gibt es hier überhaupt noch eine Spur des Maskulinums? Ich sehe das nicht. Will man Männer und Transmänner unsichtbar machen? Was ist mit dem Singular? Eine Ärzt*in oder: Ein*e Ärzt*in? Besser und gerechter wäre doch wohl: Ein*e A*ärzt*in.
Etwas anderes:
Im Text steht “Befürworter(inn)en” — warum steht die schließende Klammer nicht am Ende des Worts?
Noch etwas anderes:
Gibt es Belege dafür, dass KritikerIn ohne Glottisverschluss gesprochen wird? Also anders ausgesprochen wird als Kritiker*in? Und welchen Sinn macht die Aussprache ohne Glottisverschluss? Es klingt ja dann wie ein normales Femininum, obwohl es gerade nicht gemeint ist. Wenn es darum ginge, das generische Maskulinum durch ein generisches Femininum abzulösen, würde man doch sicher ohne Binnen‑I schreiben.
Mal ganz allgemein:
Ich würde mir gern einen längeren gehenderten Text anhören. Könnte der Blog-Autor was empfehlen? Gibt es da was auf YouTube, oder noch besser, gibt es einen Podcast, in dem diese Redeweise durchgehend zu hören ist? Ich würde mir gerne einen Eindruck machen.
@ Stephan Fleischhauer: Zu Ärzt*innen – das habe ich in meiner Antwort auf Philipps Kommentar bereits beantwortet. Zu den Belegen dafür, dass KritikerIn (mit Binnen‑I) ohne glottalen Verschlusslaut gesprochen wird – natürlich gibt es die nicht, Sie können an der tatsächlich produzierten gesprochenen Form ja nicht erkennen, welche schriftsprachliche Form sie repräsentieren soll. Vilinthril sagt in seinem Kommentar, dass er auch Leute kennt, die Binnen‑I schreiben und glottalen Verschlusslaut sprechen, und Daniel E. sagt in seinem, dass er sich erinnert, den glottalen Verschlusslaut schon zur Hoch-Zeit des Binnen‑I gehört zu haben. Das wäre gute Evidenz, dass diese Aussprachevariante auch für das Binnen‑I existiert. Das Binnen‑I ohne Glottisverschluss auszusprechen, ist eine Strategie, die auf jeden Fall von Befürworter/innen dieser Form praktiziert wurde. Sie haben ganz richtig erkannt, dass die dann wie ein Femininum klingt.
Danke für den spannenden Beitrag. Wie stellt man eigentlich fest, dass sich eine Aussprache ‘etabliert’ hat, wie hier steht? Haben wir dazu schon empirische Daten?
@ Stephan Packard: Das stellt man fest, indem man Leuten zuhört, die so reden.
Dies würde nur funktionieren, wenn dem Suffix [ʔɪn] die phonematische Form /ʔɪn/ zugrundeliegt und das wäre eine problematische Analyse, weil der Glottisschlag kein Phonem des Deutschen ist, sondern mit dem Nachfolgevokal ein stellenbedingtes Allophon dieses Vokals bildet.
Ein weiteres Problem wäre, dass lange nicht alle Varianten des Hochdeutschen über den Glottisschlag als phonetische Variante verfügen. Für viele Hochdeutschsprachige in der Schweiz ist die phonetische Realisierung [ʔɪn] ausgeschlossen.
Der Beschreibung im Artikel bringt mich eher Fälle wie Folgende in den Sinn:
(1) Mein Nachbar ist ziemlich alternativ-isch.
(2) Sie ist noch viel superlieb-er.
(3) Frau Butler-Sloss war eine High Judge-in.
(4) Die Königin ist so weiblich, sie ist fast eine Königin-in.
(5) Er sieht aus wie die Buchstabe M und sein Bruder ist genau so M‑isch wie er.
(6) Ich fand den Auftritt sehr [Kotzgeräusch einfügen]-isch.
Auch dabei wird das Suffix prosodisch vom Wort getrennt, während typische Auslautsphänome wie Auslautverhärtung und R‑Schwund unterbleiben. Diese Aussprachemerkmale zeigen, dass man eine sprachliche Neubildung versucht, die irgendwie gegen das Sprachsystem verstößt. Und ich glaube, dass genau das auch bei der Konstruktion im Artikel der Fall ist: der Leser sieht auf Papier etwas vor sich (ein Sternchen oder einen Unterstrich), das sich nicht in die (gesprochene) Sprache integrieren läßt, versucht es trotzdem auszusprechen und vermittelt den Systemfehler durch die Abtrennung des Suffixes vom Stammwort.
@ Henk: Es geht nicht darum, ob und unter welchen Umständen, dies funktionieren „würde“. Es funktioniert ganz offenbar, da es Leute gibt, die so sprechen. Dass der glottale Verschlusslaut in den meisten Analysen der deutschen Phonologie nicht als eigenständiges Phonem behandelt wird, liegt ja nur daran, dass sein Auftreten so vorhersagbar ist – wenn sich das ändert, würde sich eben die Phonologie des Deutschen ändern. Ob mir das [ʔɪn]-Suffix ausreichen würde, um so weit zu gehen, weiß ich nicht. Es geht auch nicht darum, ob es ein weiteres Problem „wäre“, das es Varietäten des Deutschen ohne glottalen Verschlusslaut gibt. Es ist entweder ein Problem oder nicht, je nach dem, wie die Sprecher/innen dieser Varietäten mit diesem Aussprachephänomen umgehen. Wenn jemand hier Schweizer Feminist/innen (vor allem Queer-Feminist/innen) kennt oder selbst eine/r ist, und diese Frage beantworten könnte, wäre ich sehr interessiert. Was ihre Beispiele 1–6 betrifft, in keinem einzigen würde ich einen glottalen Verschlusslaut vor dem zusätzlichen Suffix produzieren, mir fehlt hier die Intuition dafür, ob andere das so machen würden. Dass die von mir beschriebene Aussprachevariante die Vermittlung eines „Systemfehlers“ ist, schließlich, halte ich für eine gewagte Behauptung. Die Aussprache findet sich nicht (nur) beim Vorlesen, sondern in der gesprochenen Sprache und ist m.E. eine zunächst bewusst produzierte Variante, die sich einige Menschen angewöhnt und die andere dann übernommen haben. Das Interessante (und darum geht es in meinem Beitrag) ist, dass sie dabei bis auf den an einer vorher nicht erlaubten Position auftretenden glottalen Verschlusslaut die phonologische Struktur des Stammes unverändert lassen, und nicht so anpassen, wie sie es an einer Wortgrenze tun müssten (und übrigens auch nicht so, wie sie es vor einem Suffix tun würden, das mit einem Konsonanten beginnt).
“Das stellt man fest, indem man Leuten zuhört, die so reden.”
Ja, schon klar, aber wie vielen in diesem Fall, um von einer etablierten Aussprache zu reden? Ich habe gestern jemanden getroffen, der kein h aussprach, würde deswegen jedoch nicht von einer etablierten Variante reden wollen. Umgekehrt schreibe ich längst den Gap, realisiere ihn aber bisher nicht phonetisch.
Und es wäre auch interessant, in welchen Gegenden, Klassen, Dialekten diese Aussprache vorkommt; ob diese Realisierung mit anderen konkurriert; usw.
Meine Frage war, ob es dazu systematische Beobachtungen gibt.
@ Anatol Stefanowitsch: Danke für die Richtigstellung bezüglich des Wortakzents: Da habe ich Sie beim ersten Lesen tatsächlich missverstanden.
Und nochmals zur Unterscheidung von Dialekt und Standardsprache in der Schweiz: ‘Schweizerdeutsch’ in einem Wort bezeichnet üblicherweise die Dialekte, als Sammelbegriff. Wenn Sie auf die Standardsprache Bezug nehmen, dann eher ‘Schweizer (Hoch-/Standard-)Deutsch’, d. h. mindestens mit Leerschlag.
Zwei Anmerkungen:
1) Sie schreiben: „Nein, niemand sagt AUtorʔin, warum sollten sie auch?“
Der Akzent verschiebt sich, wenn ein vokalisch anlautendes Suffix folgt, bei [ʔɪn] ändern sich die Silbengrenzen innerhalb des Wortes jedoch nicht. Es heißt zum Beispiel [dɛs ˈʔaʊ̯toːɐ̯s] (Genitivsuffix ‑s) und [ˈʔaʊ̯toːɐ̯ʃaft] (Suffix ‑schaft), so würde ich auch [ˈʔaʊ̯toːɐ̯ʔɪn] sprechen. [ʔaʊ̯ˈtoːʁʔɪn] ohne r‑Vokalisierung finde ich furchtbar (vgl. [ˈleːzɐlɪç]), ebenso [ɡ] im Auslaut einer Silbe wie bei [çiˈʁʊʁɡʔɪn]. Bin ich da etwa idiosynkratisch?
2) Meines Wissens zählt das Schweizer Hochdeutsch nicht zum Schweizerdeutschen, vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerdeutsch#Schweizer_Hochdeutsch_und_Schweizerdeutsch
@ Ivan Panchenko: Im Beitrag spreche ich die Suffixe, die mit Konsonanten beginnen, nicht direkt an, insofern verstehe ich Ihre Frage jetzt. Worum es mir ging (vielleicht bessere ich da von der Deutlichkeit der Formulierung noch nach), ist, dass das Suffix mit dem glottalen Verschlusslaut sich morphophonologisch genauso verhält, wie das ohne.
Dass es diese Aussprachevariante gibt und dass es sie zu erklären gibt, das bestreite ich auch gar nicht. Dass es phonetisch ein Suffix [ʔɪn] gibt bestreite ich ebensowenig. Ich lesen Ihren Vorschlag jedoch so, dass Sie eine zugrundeliegende Form /ʔɪn/ unterstellen. Dabei nehmen Sie an, dass das Deutsche über das Phonem /ʔ/ verfüge. Das wäre eine fallspezifische Annahme, die wenigstens unabhängige Evidenz bedarf. Ansonsten wäre der Vorschlag wie ein Deus ex Machina, der nur um diesen Fall zu erklären ein neues Phonem unterstellt.
Mit Ockhams Rasiermesser in der Hand würde ich sagen, dass wir zuerst mal schauen sollten, ob nicht eine alternative Erklärung vorhanden ist, die ohne fallbedingte Annahmen auskommt.
Ist übrigens bekannt, wie stark die Aussprache mit [ʔɪn] im deutschen Sprachraum verbreitet ist? Wenn sie nur unter einigen erwachsenen Sprechern vorkommt, könnte es auch sehr gut sein, dass diese Aussprache gar nicht durch einen normalen kindlichen Spracherwerb zustandegekommen ist, sondern durch bewusstes Eingreifen in die sprachliche Struktur. Dann wäre gar keine sprachwissenschaftliche Erklärung nötig.
@ Henk: Wenn ich eine zugrundeliegende Form /ʔɪn/ unterstellen würde, hätte ich statt der eckigen Klammern Schrägstriche verwendet (und gesagt, dass ich eine solche zugrundeliegende Form unterstelle). Dass die Form durch ein bewusstes Eingreifen in die Sprache entstanden ist und bislang vermutlich nicht im kindlichen Spracherwerb erworben wird, scheint mir offensichtlich. Warum daraus folgt, es sei keine sprachwissenschaftliche Analyse nötig (eine „Erklärung“ liefer ich ja nicht), verstehe ich allerdings nicht.
Ein schöner Beitrag, dass die offensichtlichen Probleme angegangen wurden. Das Problem aber ist, dass die generische Form als Maskulinum interpretiert wurde. Je mehr das Generikum nicht mehr als Generikum sondern als Maskulinum gesehen wird, wird es ungerecht. So befinden wir uns Rückwärtsgang von einer gleichgestellten Welt hin zu einer genderspezifischen Welt, bei der immer mehr nach Geschlecht unterschieden wird. Auch wenn dabei Macht von Männern zu Frauen umverteilt wird, wird dabei in Kauf genommen, dass wir uns von einer gleichgestellten Welt immer weiter entfernen.
Ein Blick auf das Englische macht dies klar. Dort gibt es keine männlichen und weiblichen Formen, sondern nur die generische Form. Dass trotzdem bei doctor, user, mentor etc. die Assoziation eher auf Männern als Frauen liegt, hat also nichts mit der Sprachform zu tun. Würden deutsche Feministinnen die englische Sprache gestalten können, so würden sie vermutlich auch dort weibliche Formen einführen und die generische Form anschließend zur männlichen Form deklarieren. Schließlich soll das Gendersternchen nicht in erster Linie eine gerechte Sprache abbilden, sondern es soll verstören und zum Nachdenken anregen. Damit wird auch klar, warum wir von Schrägstrich, Binnen‑I über den Unterstrich inzwischen beim Stern angelangt sind. Was sich aber etabliert hat, das verstört nicht mehr. Deshalb wird auch der Genderstern bald verstoßen werden. Vielleicht kommt dann das Inklusions-Plus, weil der Stern Beliebigkeit suggeriere, wogegen das Plus deutlich macht, dass es ein Postives Mehr gibt als nur Männer und nur Frauen etc.
Wenn dann auch das Plus ausgelutscht ist, ist der Weg zurück versperrt. Die generische Form ist gerade von den Feministinnen vermännlicht worden. Damit wird Männern deutlich mehr Raum eingeräumt, als vor den ganzen neuen Formen. Vermutlich entdecken dies in einem Jahrzehnt auch vermehrt Feministinnen, die dann aber die Verantwortung dafür bestimmt nicht bei sich sehen werden.
@ Velo Fisch: Nein, nicht die generische Form wurde als Maskulinum interpretiert, sondern das Maskulinum wurde für generisch erklärt, und zwar in dem Moment, als Frauen immer stärker als eigenständige Menschen wahrgenommen wurden, die irgendwie erwähnt werden mussten. Vorher konnte man(n) munter das Maskulinum verwenden, weil ohnehin nur Männer zählten. Also erfand man das „Mitgemeintsein“ und propagierte es kräftig (siehe Doleschal 2002). Dass das nicht ewig gutgehen würde, war zu erwarten.
Der Blick auf das Englische zeigt nur, dass Geschlechterstereotype existieren – was wohl niemand infrage stellt. Die Effekte dieser Stereotype lassen sich aber von den Effekten des grammatischen Genus klar unterscheiden – maskuliner Genus löst männliche Assoziationen auch bei typisch weiblichen Berufen aus und umgekehrt (siehe hier). Es hat also sehr wohl etwas mit der Sprachform zu tun, und zu glauben, „deutsche Feministinnen“ hätten über diese Frage nicht nachgedacht oder würden im Englischen weibliche Formen einführen, zeigt nur, dass Sie sich erstens nicht mit dem befassen, was Feministinnen tatsächlich tun und sagen, und dass Sie sie zweitens für unwissend halten. Beides nicht ratsam, wenn man sich zu feministischen Themen äußern möchte.
Was die Abschwächung der Wirkung von Formen wie dem Gendergap und dem Gendersternchen angeht, haben Sie recht. Das haben auch Feministinnen schon lange beobachtet und bemängelt, und viele von ihnen sind deshalb auch von der Vorstellung, das Sternchen könnte amtliche Rechtschreibung werden, nur mäßig angetan. Allerdings gibt es keine gute Alternative dazu (denn das Maskulinum ist keine), aber da Eingriffe in die tatsächliche Sprachstruktur nicht ohne Weiteres möglich sind, müssen sie sich mit dem kleineren Übel begnügen.
Danke für die historischen Belege. Finde ich interesant. Und ja, ich bin kein Linguist, sondern Laie.
Was das Englische angeht, so bin ich mir da nicht so sicher. So wird im englischen Sprachraum dafür plädiert, keine gegenderten Substantive mehr zu verwenden (“You should basically stop using gendered nouns” https://www.washingtonpost.com/posteverything/wp/2014/11/12/you-should-stop-using-gendered-pronouns-immediately/?noredirect=on&utm_term=.5b7605bc6c9a). Deutsche Feminist_innen dagegen wollen Frauen “sichtbar” machen und finden daher die neutralen Formen wie z.B. “Studierenden” nicht optimal. Das war ja auch in der Piratenpartei eine wesentliche Diskussion. Ist es gut, das Gendern zu vermeiden und auf Eichhörnchen auszuweichen, oder ist geschlechtsneutrale Sprache aus feministischer Sicht unerwünscht. Im Endeffekt geht es dabei auch um die Frage, ob nur die patriarchalische Sprache neutralisiert werden soll, oder ob Sprache feministisch instrumentalisiert werden soll. Letzteres wäre damit genau das Spiegelbild dessen, was dem Patriarchat immer vorgeworfen wurde.
Wenn man sich neue Phonologie ausdenkt, warum dann der stimmlose glottale Plosiv [ʔ], den man nicht schreiben kann. Das ist doch unpraktisch.
Versuche, Deutschsprechende von der Vokalisation des uvularen Frikativs in ‑er oder von der Auslautverhärtung bei ‑b, ‑g, ‑d abzuhalten, sind fast unmöglich, aber auch nicht schwieriger als ihnen die Verwendung eines stimmhaften dentalen Frikativs beizubringen. Ich plädiere also für das [ð] vor ‑innen. Das kann man nett schreiben, braucht also kein *, _ oder Binnenversalien. Die Isländer machen es uns vor: mit einem hübschen Eð. Dieses Zeichen erinnert zudem etwas an ein ♀-, ♂- und ♁-Symbol und ist doch selbst noch ohne jede Genderzuschreibung. Es eignet sich also prima zur Darstellung aller Geschlechter und Nichtgeschlechter. Und zusätzlicher Pluspunkt: Es beruhigt die Konservativen durch beherzten Rückgriff auf altgermanisches Kulturgut. Hübsch klingt ‑ðinnen noch dazu.
Vorwärts, Genderistðinnen!
Ich war von dieser Ausspracheregel echt angenehm überrascht. Sie ist gut durchdacht und unmissverständlich, wenn man sie vollständig anwendet.
Allerdings ist es den meisten Deutschen gerade nicht möglich, vor einem Glottisschlag eine Auslautverhärtung oder ein “r” statt eines [ɐ] auszusprechen. Ich habe das hinreichend bei meinen Mitschülern im Arabischkurs beobachtet, in dem solche Kombinationen wichtig sind.
Dadurch wird die Ausspracheregel zwar nicht gänzlich unmöglich, aber durch die Einschränkungen soweit uneindeutig, dass man als Zuhörer stark auf den Kontext achten muss, um die Endungen von ganzen Wörtern wie “in” oder “innen” zu unterscheiden.
Addendum: Wenn ich meine eigene Aussprache und die in meinem Umfeld richtig wahrnehme, erscheint mir die Realisierung der Glottisschlag-Endung konsequent mit [ɐ] umgesetzt.
@Wentus: Diese Aussprache sollte den meisten Deutschsprachigen möglich sein, man muss sich ja nur ein abgesetztes „in“ bzw. „innen“ danach denken (statt der eigentlichen Endung mit glottisschlagloser Aussprache).
@ Henk: Ein Phonem ist meiner Meinung nach ein Laut, der einen Bedeutungsunterschied bewirken kann.
Im Wortpaar (“verreisen”, “vereisen”) ist der Glottisschlag der einzig unterscheidende Laut.
Richtig erscheint mir der Hinweis, dass die deutschen Ausspracheregeln verändert werden, sofern vor einem Glottisschlag keine Auslautverhärtung oder kein [ɐ] statt r ausgesprochen werden sollen. Dieses Kunststück schaffen nur Deutsche mit viel Fremdsprachenerfahrung.
Dann verstehe ich den Sinn des Artikels eigentlich nicht. Dass [ʔɪn] als Suffix vorkommt, is offenbar eine Beobachtung. Ist es nicht so, dass Sie beobachten, dass darin ein unerklärbarer Glottisschlag vorkommt und dass sie versuchen, diese Beobachtung versuchen dadurch zu erklären, dass der Glottisschlag nicht als platzbedingte allophonische Variante zu erklären ist, sondern als Phonem? So habe ich den Artikel interpretiert, auch weil Sie in Ihrem Kommentar vom 10.6 8:30 Phoneme erwähnen. Wenn ich Sie falsch verstanden habe, bitte ich um Entschuldigung und Aufklärung.
Sie schreiben:
“Dass die Form durch ein bewusstes Eingreifen in die Sprache entstanden ist und bislang vermutlich nicht im kindlichen Spracherwerb erworben wird, scheint mir offensichtlich.”
Es war eine ernsthafte Frage. Ich bin Niederländer und obwohl ich öfters im Deutschland bin, ist mir diese Form nie unterlaufen. Ich bin durch eine Verknüpfung auf Facebook auf diesen Artikel gestoßen und fand ihn als Sprachwissenschaftler irgendwie interessant.
Sie schreiben:
“Warum daraus folgt, es sei keine sprachwissenschaftliche Analyse nötig (eine „Erklärung“ liefer ich ja nicht), verstehe ich allerdings nicht.”
Weil Phonologen (jedenfalls in der strukturellen Schule, mit der ich am besten vertraut bin) versuchen, sprachliche Beobachtungen systematisch zu erklären und damit einen Beitrag dazu leisten, die Möglichkeiten des menschlichen Sprachsystems zu beschreiben. Wenn von erwachsenen Sprechern bewusst in die Sprache eingegriffen wird, wird außerhalb des Systems etwas produziert, dass keine phonologische Erklärung bedarf. Das wäre, als ob wir abmachen würden nach jedem Verb zu pfeifen oder jedes Satzende durch einen Lächeln zu unterstreichen, oder jedes dritte Wort im Satz durch seine englische Übersetzung zu ersetzen. Das sind halt Eingriffe, die sich nicht durch das System erklären lassen, dass während der Spracherwerbsphase entstanden ist. Erwachsene können bewusst eigentlich alles mit Sprache machen, was sie wollen.
Sollten jedoch Kinder dieses Suffix in ihre Sprache übernehmen, dann wäre etwas entstanden, das erklärungbedürtig wäre, weil es sich nicht mit dem bisher beschriebenen deutschen Phonologie verträgt. Wenn aber dieses Phänomen sich auf Erwachsene beschränkt (und, wie ich jetzt verstehe, auf eine Gruppe politisch motivierter Erwachsenen, die durch Sprache die Gesellschaft zu verändern versuchen), dann kann die Sprachwissenschaft eigentlich nichts sinnvolles über diese Art von Reden sagen.
Aber vielleicht übersehe ich einiges, das mag sein. Ich lasse mich gerne aufklären.
Interessant! In meiner Familie haben wir die Aussprache mit Pause (und daher automatisch folgendem [ʔ]) gleich beim ersten Auftreten des Binnen‑I erfunden, ohne äußere Einwirkung, soweit ich weiß; dass andere Leute auf dieselbe Idee gekommen sind, wundert mich nicht, und sagt uns etwas über deutsche Phonologie.
Dazu allerdings…
O nein. [ʔ] steht in, soweit ich weiß, der gesamten deutschen Sprache am Beginn jeder ununterbrochenen Äußerung, die sonst mit einem Vokal beginnen würde. In anderen Worten ist [ʔ] der postpausale Stimmeinsatz vor Vokalen. (Dasselbe gilt für Großteile des Englischen; im Französischen ist es dagegen optional.)
Zusätzlich wird [ʔ] nördlich des Weißwurstäquators (oder so ähnlich…) vor jede betonte Silbe gesetzt, die sonst mit einem Vokal beginnen würde. Wortgrenzen scheinen nichts damit zu tun zu haben: [ʔ]Astero[ʔ]iden und Kometen (kein [ʔ] vor und), Ru[ʔ]ine, Lu[ʔ]ise, Na[ʔ]omi. Mir als Österreicher ist das sowohl in meinem Dialekt als auch in der Schriftsprache völlig fremd; es fällt mir jedes Mal stark auf.
Dementsprechend spreche ich Verein, vereinigen und vereisen als [fɐˈʀɛ̞ɪ̯n], [fɐˈɛ̞ɪ̯nɪg̊ŋ̩] und [fɐˈɛ̞ɪ̯sn̩] aus, alle drei ohne [ʔ], die letzten beiden mit ungestörtem Vokalübergang. (Verein wird nicht als zusammengesetzt wahrgenommen, vermutlich, weil es keinen *Ein gibt, und behält daher sein /r/.)
Übrigens dürfte die nördliche Variante älter sein. Im Englischen scheint sich vom Alt- zum Mittelenglischen ein Wechsel von der im Deutschen nördlichen zur südlichen Variante vollzogen zu haben.
Das ist ja faszinierend. Für mich und in meiner begrenzten Erfahrung ist vor dem Suffix eine (phonologische) Pause und damit eine Wortgrenze. Aber auch falls dort statt einer Wortgrenze ein Konsonant, ein phonemisches /ʔ/, ist, hätte ich unvokalisiertes /r/ in dieser Position für unmöglich gehalten.
(Ich persönlich kann es aussprechen, aber ich kann ja Französisch und habe das also bewusst gelernt.)
Die Auslautverhärtung fasziniert mich immer wieder. Südlich des Weißwurstäquators sind alle Obstruenten von vornherein schon stimmlos*, und südlich der Zone mit binnendeutscher Konsonantenschwächung wird die Fortis-Lenis-Unterscheidung auch am Wort- sowie Silbenende nicht aufgehoben** – von der mittelbairischen Lenisierung, die |t| und |tː| am Wortende hinter Vokalen und /l/ in /d/ verwandelt und gnadenlos in die österreichische Schriftsprache hinübergetragen wird, einmal abgesehen. Jetzt wohne ich in Berlin an einem sogenannten Endbahnhof (der Endstation einer U‑Bahn-Linie), der natürlich mit [t] angesagt wird, und jeden Tag denke ich an Enten statt an ein Ende!
Konkret sage ich [kɪɐ̯ˈʀʊɐ̯g̊], [kɪɐ̯ˈʀʊɐ̯g̊ɪn], [kɪɐ̯ˈʀʊɐ̯g̊ʔɪn].
Und ja, die deutsche Auslautverhärtung geschieht – anders als die polnische, die russische oder morphembedingt die niederländische – am Silbenende. Hier in Berlin ist mir Sydney als [ˈzɪtniː] untergekommen, im Fernsehen (von einer Arte-Nachrichtensprecherin) Simbabwe als [zɪmˈbapvɛ] (perfektes Timing im Stimmeinsatz, kein [b], kein [f]).
* [b d g] sind für mich die schwierigsten Laute der französischen Sprache, gefolgt von [z ʒ] und bestimmten Konsonantenketten, die mit /r/ beginnen. – /v/ zähle ich nicht als Obstruenten, weil es sich noch immer wie ein Approximant verhält, für die meisten Sprecher auch einer ist ([ʋ]), und zumindest manche der Ausnahmen, wie ich, zwar einen Frikativ artikulieren, aber dann stark genug nasalisieren, dass keine Reibung fühlbar ist. Offenbar mache ich dasselbe mit /j/, und im Englischen muss ich aufpassen, das nicht auf /z/ und /ð/ auszudehnen – die verschwinden dabei nämlich fast.
** Wie in den meisten Dialekten des (Ost?-)Jiddischen, interessanterweise.
@ Henk (10. Juni 2018, 12:23):
Die Aussprache mit [ʔ] bildet das Gendersternchen in der gesprochenen Sprache ab. Da könnte sich eine Änderung der deutschen Phonologie andeuten, und das ist natürlich Gegenstand sprachwissenschaftlicher Betrachtung. Ob das muttersprachlich erlernt ist oder jetzt absichtlich (mit einer z.B. politischen Agenda im Hinterkopf) oder (wie in der Familie von David Marjanović) unbewusst oder instinktiv so gemacht wird, ändert daran nichts.
@ David Marjanović: Interessant, aber hier bin ich gestolpert:
Verein u.ä. kenne ich (norddeutsch) fast nur mit [ʔ]. [fɛˈʀain] o.ä. habe ich auch schon gehört, aber eher selten. Keine Ahnung, ob das eine regionale Variante ist. Pons gibt als Aussprache übrigens [fɛɐ̯ˈʔain] an, ich selbst sage eher [fɐˈʔain]. Eine schnelle Umfrage unter Kollegen ergibt durchweg Aussprachen mit [ʔ]. Das ist sicher nicht repräsentativ, aber es scheint mit dem [ʔ] doch komplizierter zu sein.
Ist es natürlich.
Ah ja, noch was: in aspirierenden norddeutschen Aussprachen wird /t/ vor /n/ und /l/ (vermutlich auch /m/; bin gespannt auf /r/) zu [ʔ], wie es im Englischen oft vorkommt. Der Grund ist derselbe: In Umgebungen, in denen es schwierig ist, zu aspirieren, wird die Aspiration nicht einfach weggelassen, sondern aktiv fortgenommen, indem man den Atem anhält.
Inzwischen hat die spanische Sprache ein nichtbinäres Geschlecht entwickelt. ¡Derechos lingüísticos para todes!