Die Frau, die Mutter, die Nonne – der Mann, der Vater, der Mönch: dass fast alle Bezeichnungen für Frauen auch grammatisch Feminina und die für Männer grammatisch Maskulina sind, dürfte kein Zufall sein. Das grammatische Geschlecht (man bezeichnet es auch als »Genus«) scheint etwas mit dem biologischen oder sozialen Geschlecht (»Sexus« bzw. »Gender«) zu tun zu haben. Das hat negative Konsequenzen für das sog. generische Maskulinum: Weil grammatische Maskulina im Deutschen kognitiv so eng mit dem männlichen Geschlecht verbunden sind, sind sie ungeeignet dazu, gleichermaßen auf Männer und auf Frauen Bezug zu nehmen. ((Das zeigen alle Untersuchungen zum Thema, eine davon wird hier vorgestellt.))
Herr – Frau – Fräulein …
Sucht man nach Wörtern, die dieses sog. Genus-Sexus-Prinzip »verletzen«, stößt man dahinter auf Personen, die den üblichen Rollenerwartungen nicht nachkommen, z.B. auf schwule Männer (die Memme, die Schwuchtel, die Tunte) und auf sich »zu« männlich gerierende Frauen (der Vamp, der Drache). Für nicht rollenkonforme Frauen wird jedoch noch öfter etwas anderes gewählt, und zwar das dritte Genus, das Neutrum. Es enthält (im Vergleich zu den beiden anderen Genera) mit Abstand die wenigsten Personenbezeichnungen, scheint also tatsächlich eine Art »sächliches« Genus zu sein.
In diesem Beitrag stelle ich Ihnen zunächst einige interessante Forschungsergebnisse zum Status der Neutra im deutschen Sprachsystem vor — sie sind nämlich kaum wertneutral auf erwachsene Menschen anwendbar und ballen sich besonders dort, wo man schlecht über Frauen spricht. Wenn Sie aber zum Beispiel von der Mosel, aus der Eifel oder dem Hunsrück kommen, kennen Sie vielleicht ganz alltägliche, neutral gemeinte Wörter für Frauen: Die Rufnamen. Da schreibt das Sabine dem Franziska eine SMS, weil das Hanna ihm etwas mitbringen soll, und abwertend ist das nicht gemeint. Benutzt man das Neutrum allerdings für Familiennamen von Frauen, die mächtig sind, politisch eine große Rolle spielen, bekommt es einen ganz anderen Beiklang: Über das Merkel lässt sich nicht ohne böse Absicht sprechen. Wie kommt es, dass Neutra einerseits so negativ, andererseits aber neutral oder gar positiv auf Frauen bezogen werden können? Beides lässt sich auf eine gemeinsame Erklärung zurückführen, die in unseren Gesellschaftsstrukturen wurzelt.
Fangen wir mit der Frage danach an, wann man sächliche Substantive für Frauen verwendet und welche das eigentlich sind. Die beiden Genusforscher Michael Köpcke und David Zubin haben 2003 einen interessanten Aufsatz veröffentlicht, in dem sie für Frauenbezeichnungen zwei grammatische Optionen beschreiben: Das Femininum für erwachsene, möglichst verheiratete, sozial integrierte und anerkannte Frauen – das Neutrum dagegen für Mädchen und unreife Frauen und/oder solche, die (aus männlicher Sicht) ihrer Ehre oder Attraktivität verlustig gingen (oft sind diese heute richtige Schimpfwörter): das Weib, das Frauenzimmer, in vielen Dialekten das Mensch (für eine liederliche Frau), auch Anglizismen wie das Girl, das Pin-up, das Playmate, die die Frau als Sexualobjekt darstellen. Hinzu treten viele metaphorische Schimpfwörter wie das Schaf, Aas, Luder, Loch, Ding, Stück, Ekel, bei denen man zuerst einmal denkt, sie seien wegen ihres negativen Bedeutungsgehalts gewählt worden.
Köpcke/Zubin gehen jedoch noch einen Schritt weiter: Die Tatsache, dass es über 100 solcher negativer Neutra für Frauen gibt, dagegen nur eine Handvoll für Männer, lässt sie vermuten, dass man bei solchen Wörtern, die Frauen degradieren, primär nach Neutra sucht (der negative Inhalt wird natürlich ebenfalls genutzt). Damit lässt sich auch erklären, weshalb für Frauen so viele Verkleinerungsformen (»Diminutiva«) verwendet werden (Mädchen, Fräulein, Flittchen, Entchen): Natürlich drücken sie Kleinheit, Unwichtigkeit und Niedlichkeit aus, aber sie bringen eben auch das Neutrum mit. Kurzum: Das Neutrum kommt überzufällig häufig dann vor, wenn pejorisierend auf Frauen und Mädchen Bezug genommen wird. ((Auch für Männer gibt es einige Neutra, doch ungleich weniger, die sich außerdem nicht exklusiv auf sie beziehen: das Arschloch, das Schwein, das Großmaul.))
Der Berliner Sprachwissenschaftler Manfred Krifka hat 2009 die 600 häufigsten Substantive danach analysiert, ob sie Lebewesen bezeichnen. Bei diesen »belebten« Substantiven stellte er fest, dass 69% maskulin (Gast, Fahrer), aber nur 16% feminin (Person, Frau) und 9% neutral (Kind, Mitglied) sind; die restlichen sind Plurale (Leute, Arbeitslose). Nur Lebewesen sind typischerweise handlungsfähig ((Wenn sie handeln, bezeichnet man sie in der Grammatik als »Agens«.)), sie werden mit dynamischen Verben verbunden, verändern Objekte, kurz: üben Einfluss auf die Umwelt aus. Je »agentiver« ein handelndes Lebewesen, desto prominenter tritt es im Sprachgebrauch auf. Die früheren Briefvordrucke mit der Abfolge Herr/Frau/Fräulein reflektieren dieses Agentivitätsgefälle: Nicht zufällig steht vorne das handlungsfähigste Maskulinum, danach das wenig agentive Femininum und hinten das handlungsschwächste Neutrum. Solche agentivitätsgesteuerten Abfolgen bilden wir ständig – wie z.B. in der Zeitungsüberschrift »Fröhliche Botschaft – Politik für Mann, Frau, Kind und Hund«.
Das Rita und der Peterle …
In vielen Dialekten im Westen des deutschen Sprachgebiets gibt es neutrale weibliche Vornamen vom Typ et/dat Rita, im Süden s’ Rita, also ‚das Rita‘. ((Diese Namen sind nicht mit einer Endung wie -chen verkleinert — dann würde man sich über das neutrale Genus nicht so sehr wundern.)) Für Männernamen sind solche Neutra unbekannt. Sprachwissenschaftlich wurde dieses Neutrum-Areal bislang kaum untersucht, ebenso wenig, wann genau dieses Neutrum verwendet wird und wie es entstanden ist. Manche glauben, die häufige Diminution weiblicher Vornamen habe zur Verallgemeinerung des Neutrums geführt, z.B. das Annchen > das Anna. Das ist jedoch zu einfach und wahrscheinlich falsch. ((Darauf gehen wir in Nübling/Busley/Drenda 2013 ein; Informationen zu unserem Forschungsprojekt finden Sie hier.))
Die Karte zur gesprochenen Alltagssprache aus dem AdA zeigt die ungefähre Verbreitung des Phänomens, die gelben und rosa Punktsymbole bezeichnen die Namenneutra:
In manchen Dialekten können weibliche Vornamen sowohl im Neutrum als auch im Femininum stehen. Das hängt dann von der Beziehung des Sprechers bzw. der Sprecherin zur benannten Frau ab: Ist sie jung (gar ein Mädchen), bekannt, sympathisch, womöglich mit der SprecherIn verwandt und sozial tieferstehend, dann verwenden fast alle Dialekte das Neutrum – ist sie älter, zugezogen, womöglich Ärztin oder Lehrerin, d.h. sozial hochstehend, dann tritt sie ins Femininum:
Was sich in den einzelnen Dialekten unterscheidet, ist, welche Faktoren davon jeweils relevant gesetzt werden. In der Deutschschweiz sind z.B. auch die Namen betagter Tanten, Mütter und Großmütter Neutra, da diese Frauen mit der SprecherIn verwandt sind; hier ist das Alter weitgehend irrelevant – Verwandt- und gute Bekanntschaft sind wichtiger. In anderen Dialekten müssen die Frauen jung sein, um ins Neutrum zu geraten – oder es spielt eine Rolle, ob die benannte Frau verheiratet ist oder nicht. In einem von uns untersuchten Dialekt bezeichnet ein kontextfrei geäußertes es – ohne jeglichen Bezug auf eine vorgenannte Frau – die Ehefrau: Bei »Es ist gerade nicht zuhause« kann es sich nur um die Ehefrau des Sprechers handeln (s. Nübling/Busley/Drenda 2013, S. 182).
Da die Namenneutra den Normalfall darstellen, wirken sie keinesfalls negativ, eher sogar positiv, auf jeden Fall vertraut. Auch die betreffenden Frauen bzw. Mädchen stellen sich selbst im Neutrum vor, z.B. am Telefon: »Hallo, hier isch ‘s Rita!«. Die nächste Abbildung stellt das den Verhältnissen für Jungen und Männer in südbadischen und Schweizer Dialekten gegenüber. Der obere Pfeil betrifft Frauen, der untere Männer. Die Neutra sind rosarot, die sexuskongruente Genusverwendung (also Femininum bei Frauen, Maskulinum bei Männern) dunkelblau. Um auch das unterschiedliche Verhalten bei diminuierten Namen zu erfassen, wurden Gertrudle und Peterle mit der Verkleinerungsendung -le ‚-lein‘ aufgenommen.
Selbstverständlich gilt auch für das Alemannische, dass sämtliche diminuierte Substantive Neutra sind – nur bei den männlichen Vornamen ergibt sich eine merkwürde Ausnahme: Hier sind es lediglich kleine Jungen, deren diminuierter Vorname (s’ Peterle) das Neutrum auslöst (eine Informantin gab an: Babys und Jungen im Kindergarten), während ältere Jungen, Halbwüchsige und erwachsene Männer – allen grammatischen Regeln zum Trotz – maskuline Diminutive erhalten (de® Peterle). Normalerweise werden männliche Vornamen seltener diminuiert, meist wird die Normalform sexusentsprechend im Maskulinum verwendet (der Peter). Was bei Männern vollkommen ausgeschlossen ist, bei Frauen hingegen den unmarkierten Normalfall darstellt, ist der volle Name im Neutrum: s’ Gertrud, aber *s’ Peter.
Was steht hinter diesen eklatanten Genusgegensätzen? Man könnte vermuten, dass Frauen im Neutrum größere Wertschätzung und Wärme zukommt, schließlich wehren sich die Betreffenden nicht dagegen und verwenden die Formen selber, sowohl mit Bezug auf sich selbst als auch auf andere vertraute Mädchen und Frauen. Das Neutrum ist per se nicht degradierend. Dennoch verwundert die Asymmetrie: Warum betrifft dies nicht auch vertraute Jungen und Männer? Die Antwort lautet mit Nesset (2001:220): »Woman’s place in man’s world is at home«. Neutrale Streicheleinheiten gibt es nur für solche Frauen, die sich im männlichen Kontrollbereich aufhalten, also in Haus und Hof: Es ist die domestizierte, die ungefährliche, verwandte, befreundete, junge Frau, das Mädchen, das ins freundliche Neutrum tritt. Prototyp dürfte die Ehefrau sein. Frauen, die sich jedoch nicht in diesen Radius einfügen, die als Konkurrentin in den beruflichen Aktionsradius des Mannes »eindringen« und sich dort seiner Kontrolle entziehen (bzw. womöglich ihn kontrollieren), werden mit dem sexuskongruenten Femininum bezeichnet. Solche »gefährlichen« Frauen werden also grammatisch ernstgenommen, hier gilt die sonst – und bei Männern immer – übliche Genus-Sexus-Entsprechung.
Es gibt Dialekte (wie das Berndeutsche), wo Frauennamen im Femininum sogar dezidiert negativ und abwertend sind; sie drücken Aufsässigkeit, Grobheit, zu viel Macht aus, und keinesfalls sind solche Frauen für Männer begehrenswert. Zu mächtige, gefährliche Frauen werden hier mit dem Femininum abgestraft. Der Normalfall im Berndeutschen lautet: Weibliche Vornamen sind Neutra.
Das Merkel: Disziplinierung (zu) mächtiger Personen
Aus einem Beitrag über Angela Merkel im Spiegel vom 18.05.13 erfuhr ich, dass sie bisweilen auch »das Merkel« genannt werde. Beim Googeln stieß ich auf Hunderte solcher Belege, v.a. in Kommentaren, Foren, Blogs. Die Gegenprobe ergab dagegen nicht einen einzigen echten Beleg für »das Kohl« und nur eine Handvoll für »das Schäuble«. Zunächst stößt man bei der Eingabe von »das Merkel« auf durchweg geschmacklose, hochgradig sexistische Bilder. Die harmlosesten zeigen unvorteilhafte Bilder, mit denen man sich, selbst nach Jahren, immer noch über Merkels Frisur mokiert. Doch auch verbal wird mit dem Neutrum fast ausnahmslos degradiert:
»Das Merkel« … [basierend auf Internetbelegen]
… hat keine Ahnung [z.B. von Demokratie], weiß nicht, was es tut, begreift nichts, kann sich nicht entscheiden, handelt nicht, bezieht nie Position, belügt die Bevölkerung dümmlich, zaudert und zögert, merkt es nicht, kann sich nicht durchsetzen [bei Banken, Klimagipfeln], verpasst Chancen, veranstaltet eine Sauerei, rotiert, trifft sich mit mächtigen Staatschefs und redet ihnen nach dem Mund, kriecht ihnen hinten rein, lässt sich über den Tisch ziehen, knickt ein, umgibt sich mit einem Eunuchen-Stadl, nimmt sich ein Beispiel. Es muss weg, man muss es rausschmeißen, verhindern, hinter der Mauer wegschließen, man kann es in die Tonne kloppen, es darf nicht Kanzler werden, ist fehl am Platz, ein großer Schaden für die Demokratie. Auch bundeskanzlert es, ist es doch nur Bundeskanzlöse, Kanzlette, Faselkanzlerin. Es täuscht hinweg [z. B. über die Wirtschaftslage], heuchelt, irrt (nicht), rotiert, betrügt und belügt das Volk, schafft gute Stimmung, schwimmt in Champagner, verprasst Steuergelder, dreht sich kreidebleich um. Es schaut zu griesgrämig, lacht zu wenig, trägt die falschen Haare und Kleider. Es glaubt, schwätzt, schwafelt, plappert, plaudert, erzählt, formuliert, redet schön, redet Quark, kann nicht reden, predigt, gibt von sich, denkt sich was, behauptet, mahnt, meint, genießt, nickt mit dem Kopf, kann es kaum erwarten, sitzt irgendwo, sitzt es aus.
Analysiert man die Qualität der Degradierung, dann finden sich zwei Leitmotive: »Das Merkel« versagt als Politikerin, und es versagt als Frau. Bekanntlich war Angela Merkel zuerst »das Mädchen«, und als sie Kanzlerin wurde, mutierte sie direkt zur »Mutti«. Das pure Frausein wird ihr konsequent verwehrt, dies belegen die vielen Beispiele, die »das Merkel« auf Frisur und Kleider reduzieren, die immer verkehrt sind. Sie darf nicht mitspielen in dem medialen Theater, das Frauen aus männlicher Perspektive evaluiert. Schließlich verletzt sie mindestens zwei wichtige Spielregeln: Sie interessiert sich für ihr Äußeres ebenso viel wie die meisten Männer, nämlich kaum, und sie strebt, wie viele Männer auch, nach Macht. Dafür wird sie mit dem Entzug des Femininums bestraft – aber nicht etwa ins Maskulinum erhoben. Sie wird durch das Neutrum aus der Geschlechterordnung verbannt: Es scheint schlimmer zu sein, gar kein Geschlecht zu haben als das falsche. So wird Guido Westerwelle zwar oft ins Femininum gesetzt, um ihn – siehe oben – wegen seiner Homosexualität abzuwerten, doch gerät er nicht ins Neutrum.
Was genau leistet hier das Neutrum? Die Funktion der Neutralisierung besteht in einer Agentivitätsreduktion. Auffälligerweise folgen auf »das Merkel« nur wenige transitive Handlungsverben, also solche, die Angela Merkel als mächtiges Agens erscheinen lassen, als das sie Objekte beeinflusst, steuert, verändert – und wenn, dann sind solche Handlungsverben meist verneint. Vielmehr befindet sich »das Merkel« oft in Passivkonstruktionen, in denen ihr etwas widerfährt, sie wird – Zitate: verachtet, ausgelacht, diffamiert, abgewählt, gestürzt. Sie handelt nicht selbst, vielmehr ist sie direktes Objekt der Handlungen anderer. Dies ist eine subtil-grammatische Methode, die mächtigste Frau Europas zu entmachten.
Damit stehen wir vor einem scheinbaren Widerspruch: Neutrale weibliche Vornamen drücken Wertschätzung aus, neutrale Familiennamen aber offene Aggression. Es handelt sich jedoch um die zwei Seiten der gleichen Medaille. Kehren wir noch einmal zu dem Aufsatz von Nesset (2001) zurück, dessen Fazit lautet: »Woman’s place in man’s world is at home«. Wertschätzung (auch grammatische) erfährt diejenige Frau, deren Aktionsradius (zumindest früher) die Haustür nicht überschreitet (Verwandte, Ehefrau, Mädchen) – und entsprechende Missbilligung diejenige, die Haus und Hof verlässt und in den Handlungsbereich der Männer eindringt. Hier erfährt sie durch die Neutralisierung eine Disziplinierung, grammatischer ausgedrückt: eine De-Agentivierung und In-Animatisierung. Wie wir oben gesehen haben, ist das Neutrum das Genus, das die wenigsten belebten Objekte enthält. Das Neutrum steht also für Unbelebtheit und Handlungsunfähigkeit.
Vornamen setzen immer eine Duz‑, also Nähe-Relation voraus und belobigen die vertraute, ungefährliche Frau mit dem Neutrum – Familiennamen setzen dagegen eine Siez‑, also Distanz-Relation voraus. Sie disziplinieren bzw. degradieren die allzu agentive, »gefährliche« Frau mit dem Neutrum. Ähnliches gilt für sächliche Frauenbezeichnungen wie Weib, Frauenzimmer, Fräulein, Ding, Stück. Die gemeinsame Funktion beider Neutra besteht in einer Platzanweisung. Haben Frauen bereits ihren ohnmächtigen Platz inne, wirkt das Neutrum affirmierend-wertschätzend, haben sie ihn nicht inne, so weist ihnen das Neutrum diesen Platz zu, wirkt es disziplinierend-aggressiv. In beiden Fällen handelt es sich um eine Art grammatische Zähmung oder Lähmung. In patriarchalen Gesellschaften bestimmen Männer über Platz und Aktionsradius der Frauen. Toilettenschilder mit breitbeinigen Männern und einbeinigen Frauen künden noch heute von dem Raum, den Männer sich und den Frauen zuweisen. Auch dass typische Frauenberufe weniger verdienen, zeugt von der geringeren Wertschätzung weiblicher Agentivität.
Somit lässt sich zusammenfassen, dass sich jahrhundertelanger Androzentrismus tief in die Grammatik eingegraben hat und sich noch heute in der Möglichkeit zeigt, weibliche Vor- und auch Familiennamen ins Neutrum setzen zu können. Dass auch andere Bevölkerungsgruppen durch das Neutrum degradiert werden können, belegt die folgende Beobachtung des Namenforschers Adolf Bach (1952, 46):
Mir nicht deutbar ist die Tatsache, daß in Bad Ems und weiterhin am Mittelrhein um 1900 die Familiennamen der Juden vielfach mit sächlichem Geschlecht gebraucht wurden: das bzw. ’s Goldfisch, ’s Löwenstein, ’s Rosenheim, ’s Baruch usw. Geht diese Form auf eine Eigenart des Judendeutschs zurück, oder liegt in ihr eine Verächtlichmachung? Meines Wissens wurden die genannten Formen damals nicht vor den betr. Juden selbst gebraucht.
Mit Blick auf »das Merkel« lässt sich diese Tatsache durchaus deuten: Es ist Verächtlichmachung.
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Damaris Nübling ist Professorin für historische Sprachwisssenschaft des Deutschen an der Universität Mainz, Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur und Trägerin des Konrad-Duden-Preises. Neben historischen Sprachstufen erforscht sie aktuelle Variations- und Wandelphänomene, ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt außerdem auf der Namenforschung.
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Literatur:
Bach, Adolf (1952): Deutsche Namenkunde I. Die deutschen Personennamen Teilband 1. Heidelberg.
Elspaß, Stephan/Möller, Robert (2003ff.): Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA).
Köpcke, Klaus-Michael/Zubin, David (2003): Metonymic pathways to neuter-gender human nominals in German. In: Panther, Klaus-Uwe/Thornberg, Linda (eds.): Metonymy and Pragmatic Inferencing. Amsterdam/Philadelphia, 149–166.
Krifka, Manfred (2009): Case syncretism in German feminines: Typological, functional and structural aspects. In: Steinkrüger, Patrick/Krifka, Manfred (eds.): On Inflection. Berlin/New York, 141–171.
Nesset, Tore (2001): How pervasive are sexist ideologies in grammar? In Dirven, René et al. (eds.): Language and ideology, Bd. 1: Theoretical cognitive approaches. Amsterdam, 197–226.
Nübling, Damaris/Busley, Simone/Drenda, Juliane (2013): Dat Anna und s Monika – Neutrale weibliche Rufnamen in deutschen Dialekten und im Luxemburgischen als Fall pragmatischer Genuszuweisung. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 80/2, 152–196.
Nübling, Damaris (2014): Das Merkel – Das Neutrum bei weiblichen Familiennamen als derogatives Genus? In: Debus, Friedhelm et al. (eds.): Linguistik der Familiennamen. Germanistische Linguistik 225–227. Hildesheim, 205–232.
Ich vermute, dass die Formulierung “das Merkel” von der Satirezeitschrift Titanic stammt. Die titelte schon 2000 “Darf das Kanzler werden?” (http://www.titanic-magazin.de/fileadmin/_migrated/pics/card_520986442.jpg )
Interessant. Bin neulich nämlich wieder über folgende Aussage bei Wikipedia gestolpert, die man auch von vielen SaaländerInnen häufig hört:
Diese Besonderheit der „neutralen Frauen“ ist nicht in einer Geringschätzung der Frauen begründet…
Dieser Artikel bestätigt jetzt meine Meinung, dass das nicht so ganz richtig sein kann, oder habe ich jetzt was falsch verstanden?
Alter Hut. Mark Twain: In German, a young lady has no sex, while a turnip has. Think what overwrought reverence that shows for the turnip, and what callous disrespect for the girl. See how it looks in print—I translate this from a conversation in one of the best of the German Sunday-school books:
“Gretchen. Wilhelm, where is the turnip?
“Wilhelm. She has gone to the kitchen.
“Gretchen. Where is the accomplished and beautiful English maiden?
“Wilhelm. It has gone to the opera.”
Könnte bei “das Merkel” nicht auch die lautliche Ähnlichkeit zu “Ferkel” (zumindest Mit-)Auslöser für das Neutrum sein?
“Das von der Leyen” oder “Das Kraft” (das ist aber auch schwierig zu suchen) hab ich jedenfalls noch nie gelesen. “Das Dreyer” oder “das Kramp-Karrenbauer” klingen für mich auch sehr fremd. Möglicherweise haben diese auch noch nicht genug mediale Aufmerksamkeit für eine aussagekräftige Untersuchung.
… ha, und prompt doch fündig geworden: https://de.answers.yahoo.com/question/index?qid=20130420111601AAcw90O
Zitat: ‘Muss man noch mehr wissen um sich darüber klar zu werden, was das “von der Leyen” ist? Ich denke nicht.’
Einwand abgeschwächt.
Schön, hier etwas von Ihnen zu lesen, Frau Nübling. An dieser Stelle noch ein Lob für Ihr Einführungsbuch in die Historische Sprachwissenschaft des Deutschen — ich habe es sehr gerne gelesen.
Zum Thema Namen:
Ich komme aus der Südpfalz und kenne Wendungen wie “’s Rosenheims” auch. Hier wird es aber mit einem “s” am Ende gesprochen, ist nicht auf jüdische Namen beschränkt und als Sprecher analysiere ich es als Genitivform; z. B. “’s Müllers” = “die Familie des Müllers”.
Interessant ist vielleicht auch, dass bei uns Nachnamen eine feminine Form erhalten können, z. B. “die Müllern” = “Frau Müller”, “die Schmidten” = “Frau Schmidt”. Bei Frau Merkel wird das dann zu “die Merkelsen”, woher das eingeschobene “s” kommt, kann ich mir aber nicht erklären.
Mir fällt noch ein Pispers-Zitat ein: “Und wenn du glaubst, dümmer geht’s nicht mehr, kommt von irgendwo ein Merkel daher”.
Leider nur aus meinem Gedächtnis zitiert, einen Beleg habe ich auf die Schnelle nicht finden können.
Ist aber schon relativ alt, vielleicht schon vor 2000. Eventuell findet sich ja ein Rechercheprofi, der mehr findet als ich …
Heißt das, im äußersten Westen Deutschlands sind die Menschen patriarchischer als anderswo, da diese Form meines Wissens nur dort verbreitet ist?
Ich dachte immer, Bayern sei besonders konservativ, aber wir kennen hier sogar beim Diminutiv die Form “D’Annerl” (neben dem sächlichen Genus). Interessanterweise sind z.B. auch im Russischen Diminutive v.a. für Frauen besonders beliebt, obwohl da das Genus erhalten bleibt.
“Das Merkel” ist auch der einzige Nachname, bei dem der sächliche Artikel jemals halbwegs gängig war (und auch das eher vor ihrer Kanzlerschaft), ich kann mich nicht erinnern, dass mir das ansonsten jemals untergekommen wäre.
“Der Peterle” habe ich noch nie gehört, nur “das Peterle”…
Frauen sind nun mal niedlich, also ist es auch logisch, daß mehr Neutra für sie benutzt werden.
Frauen und Männer haben nun einmal eine unterschiedliche Physis und damit einhergehende Rollen. Einen Faustkeil kann man mit einer weiblichen Hand nicht so gut benutzen geschweige denn bearbeiten.
Soll dieser Artikel Unterstützung für die feministische Ideologie liefern?
Man kann so einiges formal feststellen. Die Leute werden sich trotzdem nicht von ihrem Sprachgebrauch abbringen lassen. Auch wenn manche Leute absurde Konzepte einer vermeintlich “geschlechtergerechten Sprache” entwickeln.
Das Ausmaß an Realitätsverleugnung dieser Menschen verschlägt einem immer wieder die Sprache.
„jahrhundertelanger Androzentrismus“
Dann ist es ja nur gerecht, wenn uns nun eine heiss glühende Androphobie in unser kollektives Bewusstsein gedrillt wird. Ach wie schön ist es doch ein Reiner, Wahrer, Gerechter unter den Menschen zu sein!
“Es gibt Dialekte (wie das Berndeutsche), wo Frauennamen im Femininum sogar dezidiert negativ und abwertend sind;”
Da gibts allerdings sehr grosse Unterschiede. Das Solothurner Deutsch hält Frauennamen im Femininum für grob, Berndeutsch eher weniger. Es gibt Berner Oberländer Dialekte, wo männliche Vornamen (auch von Erwachsenen) immer Neutra sind.
@ Moritz. Von Pispers ist der belegt: “Und wenn du glaubst, blöder geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Söder her”.
Sprachlich auch viel schöner.…..
Obwohl Hermann jetzt ja getopt hat.… mit seinem Vertriebenenvergleich.… *hüstel*
Zum Thema: Da es mir als Nordlicht vergönnt ist, öfters mal in der Südpfalz aufzukreuzen (schwitzige Ecke um diese JAhreszeit), fiel mir dort schon immer auf, das weibliche Personen mit dem Neutrum bezeichnet wurden. Allerdings immer nur im engeren Bekanntenkreis und auch nie abfällig, das Anke ist eben ne Nette und ganz Liebe.….
War zwar ungewohnt, aber, wie gesagt, immer wertneutral.…
Vielen Dank an Damaris Nübling für den interessanten Beitrag. Ich bin im Saarland aufgewachsen und meine Freund_innen im Norden sind immer sehr schockiert, wenn sie von dieser Eigenart meines Mutterdialektes erfahren. Jetzt hab ich etwas analytisches Futter zu diesem Phänomen.
“Das Hilde” kennt natürlich auch jeder Familie-Heinz-Becker-Fan. 😉 Danke für diesen informativen, sprachgeographischen Beitrag. Ich möchte mich Thomas’ Lob anschließen.
Was mich als mittelhessischen Regiolektsprecher immer wieder aufs Neue fasziniert ist die gänzliche Abwesenheit von Artikeln vor Eigennamen, wie man es auf der Karte in den nörlichen Gebieten des deutschen Sprachraums erkennen kann. Sowas unökonomisches!, fluche ich mir regelmäßig Sekundenbruchteile später in Gedanken vor, wenn ich mal wieder von “der Lena”, “dem Jan” oder “dem Professor Rösler” erzähle.
@ Moritz. Für mich bezieht sich ein Merkel auf ihre Handlungen oder Aussagen. Es wird ja auch oft von “einem klassischen N.N.” gesprochen.
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Die Westerwelle ist ja auch naheliegend, es heißt auch die Welle. Weshalb es sich führ mich nicht direkt als Falsch anfühlt.
Bei das Westerwelle und das Anna legt sich dafür alles quer. Das kann nicht richtig sein.
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“… das Neutrum dagegen für Mädchen und unreife Frauen und/oder solche, die (aus männlicher Sicht) ihrer Ehre oder Attraktivität verlustig gingen (oft sind diese heute richtige Schimpfwörter): das Weib, das Frauenzimmer, …”
Das Weib war doch früher eine ganz normale Bezeichnung für eine Frau, so viel ich weiß, das hat doch nichts mit “ihrer Ehre oder Attraktivität verlustig gingen” zu tun?
Im Schweizerdeutsch scheint mir das Neutrum auch vom Namen abzuhängen: s Vreni, s Heidi, s Susi sind üblich, s Ruth, s Erika, s Sabine weniger. Das hat viellicht mit der Endung ‑i zu tun.
Hier sind ja mittlerweile einige Kommentare zusammengekommen, auf die ich als Sprachlogvertreterin kurz eingehen will:
@Christian: Jein. Der Artikel zeigt, dass das Neutrum im Saarland nicht abschätzig gemeint ist — aber dass es dennoch aus einer Kultur heraus entstanden ist, in der ein Machtgefälle zwischen Männern und Frauen besteht.
@Ulrike Haessler: Ich nehme an, der Kommentar hatte einzig zum Ziel, Mark Twain zu zitieren. Dass der ein alter Hut ist, wissen wir, glücklicherweise geht der Artikel ja viel tiefer und in eine andere Richtung als die, sich über das Deutsche lustig zu machen.
@Thomas (I): Bei den jüdischen Namen aus dem Artikel scheint ja kein erstarrter Genitiv vorzuliegen (zumindest ist kein Flexiv am Namenkörper selbst zu sehen) UND Bach hätte die Beobachtung wohl nicht notiert, wenn die Formen auch bei den nichtjüdischen Namen aufgetreten wären. Zu dem -sen gibt es Literatur, ich weiß nur grade nicht aus dem Kopf, was — Rudolf Steffens müsste dazu was gemacht haben.
@Thomas (II): Aus dem neutralen Artikel lässt sich zwar auf patriarchalische Strukturen schließen, der Umkehrschluss ist aber nicht zulässig.
@Sebastian: Der Artikel vor Eigennamen kann im Norden auch vorkommen — hat aber dann oft eine verächtliche Bedeutung. In Mittel- und Süddeutschland ist er hingegen so gängig, dass er zwar grammatische Strukturen verdeutlicht (denn man sieht so einem Namen ja sonst nicht an, ob er im Nominativ, Akkusativ oder Dativ steht), aber pragmatisch nichts “liefert”. Auch dazu wurde schon einiges geforscht.
@Daniel: Soweit ich das sehe, machen Köpcke/Zubin keine Aussage darüber, wann das Neutrum derart funktionalisiert wurde — das könnte ja auch erst passiert sein, als das Weib schon am Absinken war.
Die i‑Endung im Schweizerdeutschen ist auch ein Diminutiv, so wie -lein und -chen, d.h. diese Namen sind natürlich strukturell Neutra (außer in den Dialekten, in denen das “reale” Geschlecht das überschreibt). Ein Übergang auf nichtdiminuierte Namen ist dann eben die Besonderheit, um die es hier geht, und die in manchen Dialekten ganz regulär zu beobachten ist.
Und @Sebastian Wiemann: Wir haben den Kommentar mal freigeschaltet, weil er sich so schön selbst auseinandernimmt. Wenn Sie den Artikel, über den Sie sich so erbosen, dann auch gelesen haben, reden wir vielleicht weiter.
Auch bei @m ist mir völlig unklar, wo der Bezug zum Text sein soll bzw. wo der Text irgendwelche männerhassenden Aspekte besitzen könnte.
Ich (Mitte 30, männlich, aus Saarbrücken) kann das mit den sächlichen Artikeln bei Frauennamen bestätigen. Bei sehr viel älteren oder höherstehenden Frauen würde ich das zu vermeiden suchen, aber es kommt zu selten vor, dass ich solche Frauen beim Vornamen nenne, als dass ich hier eine feste Regel angeben könnte. Denn (kleine Ergänzung): der sächliche Artikel bei Familiennamen ist nicht möglich, egal ob mit oder ohne “Frau” davor. Ergänzung 2: nicht nur der Artikel, sondern auch das Pronomen ist im rheinfränkisch sprechenden Saarland für (nicht zu alte und hochstehende) Frauen sächlich. Es wird in betonter Stellung “ääs” ausgesprochen.