Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat ein Problem: Sie heißt nun einmal, nun ja, Gesellschaft für deutsche Sprache und muss deshalb ab und zu etwas zum Thema „deutsche Sprache“ sagen. Das an sich wäre ja auch noch kein Problem.
Das Problem ist, dass es ganz offensichtlich bei der Gesellschaft für deutsche Sprache niemanden gibt, der sich mit der deutschen Sprache auskennt, oder sich wenigstens ein bisschen für sie interessiert.
Und das merkt man dann halt jedes Jahr zur Vorweihnachtszeit, wenn das „Wort des Jahres“ bekannt gegeben wird. Hastig setzt man sich zusammen und überlegt sehr lieb- und leidenschaftslos, welches Wort man denn diesmal nehmen könnte. Wenn es ganz schlecht läuft, kommt dann schon mal ein Wort heraus, das eine Verwendungshäufigkeit von Eins hat, wie Rettungsroutine im Jahr 2012. Oder eins, das zufällig gerade en vogue war, als man sich zusammensetzte, wie Stresstest 2011 oder GroKo 2013, das aber ansonsten keine besondere Rolle in der deutschen Sprache spielt.
Und so war es auch in diesem Jahr. Es hatte sich anscheinend niemand so richtig Gedanken gemacht, und so saß die Jury dann wohl gestern Abend etwas ratlos beieinander und schob verzweifelt Ideen hin und her, als irgendein – Achtung, Wortspiel – heller Kopf sich an die Fernsehbilder von den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls erinnerte. Gab es da nicht diese leuchtenden Luftballons die man – allen physikalischen Gesetzmäßigkeiten zum Trotz – sogar aus dem Weltall sehen konnte? Wie hieß diese Installation noch gleich? Ach ja, genau:
Das Wort des Jahres 2014 ist Lichtgrenze. Diese Entscheidung traf am Donnerstagabend eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS). Das Wort bezieht sich auf die Lichtinstallation zum Anlass der Feierlichkeiten »25 Jahre Mauerfall« in Berlin. Es spiegelt in besonderer Weise die großen Emotionen wider, die das Ende der DDR im Herbst 1989 auch 25 Jahre später noch in ganz Deutschland hervorruft. Über 8000 weiße, leuchtende Ballons erinnerten auf einer Länge von 15 Kilometern an den Verlauf der Berliner Mauer und die frühere Teilung der Stadt. Die filigrane Durchlässigkeit der Installation und das Aufsteigen der Ballons auf dem Höhepunkt der Feierlichkeiten symbolisierten beeindruckend die Auflösung und Aufhebung der einst in jeder Hinsicht dunklen Demarkationslinie. – Ursprünglich hatte die Jury das Wort Lichtgrenze gar nicht auf ihrer Liste. Erst in der Diskussion kam der Vorschlag auf, der dann aber für das gesamte Auswahlgremium so überzeugend war, dass er alle anderen Kandidaten für Platz 1 aus dem Rennen schlug. [Pressemitteilung der GfdS]
Ja, die Emotionen! Die „filigrane Durchlässigkeit“! Das „beeindruckende Aufsteigen“ der Ballons! Da kann man schon mal vergessen, dass man hier nicht das „Event des Jahres“ wählen soll, sondern, wie der Name schon sagt, das WORT DES JAHRES. Und als Wort, das ist nicht schwer vorherzusagen, wird Lichtgrenze exakt gar keinen Eindruck in der deutschen Sprache hinterlassen. Wozu sollte man es auch verwenden? Die Installation ist weg und wird – so wollen wir hoffen — frühestens in 25 Jahren wieder aus der Mottenkiste der Ideen gekramt, die vorher besser klingen als sie hinterher tatsächlich aussehen.
Wenn das Wort des Jahres schon mit den Feierlichkeiten zum Mauerfall zu tun haben muss, dann schlage ich Mauerballon vor. Denn erstens ist dieses Wort – anders als das Wort Lichtgrenze – vom allseits beliebten Volksmund geprägt worden. Und zweitens wird es uns noch eine Weile begleiten, in so nützlichen Sätzen wie Haben Sie schon einen Mauerballon gefunden?, Mauerballon fliegt bis nach Lettland und Mauer-Ballons werden Müllproblem.
Die Lichtgrenze auch als Metapher?
Was würde das besagen?
Dass auch das Licht an Grenzen stösst?
Dass dahinter das Reich der Finsternis beginnt?
Jede Menge Zündstoff
für Hellsichtige und Finsterlinge.
Diesen metaphorischen Aspekt übersieht der Beitrag im Sprachlog, der sich vor allem an der Verwendungshäufigkeit zu orientieren scheint.
Die Wahl dieses Wortes ist eine Verbeugung vor der Dauerpropaganda der deutschen veröffentlichten Meinung, die sich just in Zeiten, in denen ein neuer Kalter Krieg heraufzuziehen droht und neue Grenzen errichtet bzw. verschoben werden, an der Erhabenheit der eigenen Geschichte geradezu berauscht. Nicht das Wort selbst, sondern die Auswahl aus diesem spezifisch politischen Kontext entblösst eine entlarvende Ignoranz als Folge ideologisch geprägter Geistesgrenzen. Die Gesellschaft für Deutsche Sprache als ein staatstragender Pfeiler eines Deutschlands im 21. Jahrhundert.
@Heinz Schneemann: Lichtgrenze ist sicherlich ein schönes, geradezu poetisches, Wort. Aber es hat nur marginales Gewicht im Zusammenhang mit 2014 — weder wurde es häufig gebraucht, noch benennt es etwas für dieses Jahr besonders typisches besonders treffend.
Dass seine metaphorische Kraft “in besonderer Weise die großen Emotionen wider[spiegelt], die das Ende der DDR im Herbst 1989 auch 25 Jahre später noch in ganz Deutschland hervorruft” kann ich wohl nicht als einziger nicht mal mit der Lupe erkennen. Es sei denn, “in besonderer Weise” hieße so etwas wie “nur für einen kleinen Zirkel gleichempfindender”. Aber diese Interpretation würde die angestrebte Allgemeingültigkeit eines Wortes DES JAHRES konterkarieren.
Dieser in der Tat fatale Eindruck, den Jörg Eiben eben formuliert, entsteht wohl, wenn man unterstellt, dass die auswählende Gesellschaft für Deutsche Sprache damit die ihr hier untergeschobenen Absichten verfolgt.
Doch muss man das so sehen??
Für mich ist “Lichtgrenze” eine hervorragende Metapher, die zu einem tieferen Nachdenken über Aufklärung, Grenzen aller Art und auch die “Achse des Bösen” einlädt.
Das Anregungspotential dieses Wortes des Jahres zu nutzen, erscheint mir fruchtbarer, als die Auswahljury zu Finsterlingen zu erklären.
Das Wort für sich ist in der Tat eines, das den Geist schweifen lässt. Es hätte Platz in diversen Kontexten, z.B. in fantastischer Literatur. Meine Reflexion galt nicht dem Wort selber, sondern der Auswahl aus einem spezifischen, politisch-ideologischen Kontext (s. Begründung), vorgenommen nicht von Finsterlingen, sondern von ahnungslosen Akklamateuren einer neuen deutschen (Ost-) Politik, die angesichts ihrer Defizite nicht der akklamierenden Zustimmung bedürfte, sondern kritischer Reflexion. Methodisch betrachtet: von sprachwissenschaftlichen Juroren würde ich erwarten, dass sie bei ihrer Entscheidung über die Lexikologie von “Lichtgrenze” hinaus die semantischen Bezugsstrukturen und den pragmatisch-sozologischem Kontext dieses Wortes bewerten. Sollten sie so vorgegangen sein, ergibt sich die ideologische Motivation der Wahl des Wortes fast von selbst.
@Jörg Eiben und @nöööö
Diese Argumentation setzt m.E. unterschwellig voraus, dass die Juroren als eine Art normensetzende Instanz fungieren, deren Urteil für ihr Sprachvolk politisch maßgeblich oder wegweisend sein muss.
Das sehe ich nicht so.
Ich freue mich, wenn mir ein anregendes Wort zum Selberdenken zugespielt wird. Und gerade die metaphorische Ambivalenz erscheint mir in Zeiten tiefgreifender Polarisierungen sehr geeignet für gute Gespräche unter den Gesprächsbereiten zu sein.
Ich gebe zu, dass ich auch erstaunt war und dieses Wort hinsichtlich der Verwendungshäufigkeit in 2014 nicht einmal unter den Top 10 vermutet hätte. Es ist natürlich die Frage, ob das das zentrale Kriterium für ein “Wort des Jahres” ist.
Für mich ist auch nicht diese Inszenierung zum 9. November das Entscheidende, obwohl das Wort dort seinen gegenständlichen Ursprung hat. Nein, ich sehe, dass sich mit “Lichtgrenze” Diskursräume öffnen, in denen das außergewöhnlich bedrückende Jahr 2014 “ausgeleuchtet” werden kann.
“Dass seine metaphorische Kraft “in besonderer Weise die großen Emotionen wider[spiegelt], die das Ende der DDR im Herbst 1989 auch 25 Jahre später noch in ganz Deutschland hervorruft” kann ich wohl nicht als einziger nicht mal mit der Lupe erkennen. Es sei denn, “in besonderer Weise” hieße so etwas wie “nur für einen kleinen Zirkel gleichempfindender”.”
Dafür haben wir uns ’89 vor Wasserwerfer gestellt — mit dem Ergebnis, dass die Schandmauer abgerissen wurde — um uns heute sagen zu lassen “yeaaah, whatever”? Ich kann dir versichern, @nöööö, dass es eine ganze Menge Menschen gibt, die auch 25 Jahre später noch mit großen Emotionen an diese Zeit zurückdenken. Von einem kleinen Zirkel kann hier also ganz bestimmt keine Rede sein.
Ich gehe da ganz mit Heinz Schneemann mit, ein Quantitätskriterium scheint mir für die Auswahl des “Wort des Jahres” wesentlich wertloser zu sein, als ein Kriterium, das eine Besonderheit des Jahres hervorhebt. Und wenn 25 Jahre Mauerfall dafür nicht reichen, dann wüsste ich gern, was 2014 noch Großartiges zu bieten hatte. Und dann immer noch lieber Lichtgrenze, Mauerballon ist einfach nur albern, dieses Wort lese und höre ich hoffentlich nie wieder.
@ Mirko Peschke
Ja, nee, is klar, wenn man persönlich das DDR-Regime zu Fall gebracht hat, kann man einer Licht-Installation, die aussieht, als sei sie von einem IKEA-Lastwagen gefallen, nur mit ganz großen Emotionen begegnen.
@Heinz Schneemann und Mirko Perschke:
Der “kleine Zirkel Gleichempfindender” bezieht sich auf das Verstehen des Wortes im zitierten Sinn. Nicht auf den Mauerfall, der macht mir auch heute noch einen Kloß im Hals.
“Diese Argumentation setzt m.E. unterschwellig voraus, dass die Juroren als eine Art normensetzende Instanz fungieren, deren Urteil für ihr Sprachvolk politisch maßgeblich oder wegweisend sein muss.
Das sehe ich nicht so.”
Ich auch nicht.
Ich kann aber auch die unterstellte unterschwellige Voraussetzung nicht erkennen.
Wenn ein Wort des Jahres für mehr als eine kleine Gruppe Bedeutend sein soll, sollte schon in allgemeiner Verwendung gewesen sein und das Jahr charakterisieren. “Grüne Männchen” z.B. wäre ein weitaus besserer Kandidat gewesen.
Dass der Fall der Mauer bzw. der Grenze ein ganz besonderes Ereignis war, wird sicher niemand in Abrede stellen. Und natürlich denken viele, die es miterlebt haben, mit großen Emotionen an diese Zeit zurück (ich zum Beispiel auch).
Nur die Verbindung zu der Installation aus Leuchtballons ist ein wenig dünn. Gut, die Ballons haben den Verlauf der Berliner Mauer nachgezeichnet (müsste es deshalb nicht eher Lichtmauer heißen statt Lichtgrenze?), und der Installation lagen allerlei tiefsinnige Gedanken zugrunde. Kann man schön, gut, richtig finden. Oder albern, abgehoben, unpassend, irrelevant usw.
Die erwähnten großen Emotionen gelten aber doch in jedem Fall den Ereignissen vor 25 Jahren und nicht der Installation oder dem (wie angemerkt poetischen und u.U. denkanstoßenden, aber im Sprachgebrauch praktisch nicht existenten) Wort Lichtgrenze. Die Haltung, die jemand zu Lichtgrenze einnimmt, dürfte in den seltensten Fällen auch nur das Geringste damit zu tun haben, wie diese Person an den Mauerfall zurückdenkt.
Und dann wäre da noch die Frage, warum sich überhaupt alle für das Wort des Jahres von denen interessieren. Verstehe ich z.B. nicht. Was bringt dieses Wort des Jahres in der Form denn überhaupt?
Die Gesellschaft für Deutsche Sprache schreibt zum Wort des Jahres:
“Nicht die Häufigkeit eines Ausdrucks, sondern seine Signifikanz bzw. Popularität stehen bei der Wahl im Vordergrund: Auf diese Weise stellen die Wörter eine sprachliche Jahreschronik dar, sind dabei jedoch mit keinerlei Wertung oder Empfehlung verbunden.”
Meiner Ansicht nach entzieht sie sich damit jeglicher Art von Kritik, denn wer kann schon belegen, dass ein Wort nicht signifikant bzw. nicht populär ist? Wie denn?
Aber: Warum soll die GfS nicht genau das tun? Ist doch ihr gutes Recht, die Kriterien für ihr Vorgehen festzulegen.
@Ursula Walther: hmja. Stellte sich nur die Frage, wie man Signifikanz und Popularität messen möchte, ohne Häufigkeit heranzuziehen. So gesehen kann man an der Frequenz schon ziemlich gut sogar belegen, was nicht populär ist.
Wäre es eine schlechte Idee, wenn Leute *mit Fachkenntnis* einen “Ausdruck des Jahres” wählen würden, der tatsächlich gebräuchlich und charakteristisch für das Jahr ist? Vielleicht sogar ohne Einengung auf dessen Herkunftssprache? Vielleicht ein Team das schon bewiesen hat das es so etwas kann?
@ Ursula: “denn wer kann schon belegen, dass ein Wort nicht signifikant bzw. nicht populär ist? Wie denn?”
Es ist nicht Aufgabe dieses Blogs, die Signifikanz bzw. Popularität eines Wortes zu widerlegen, es wäre Aufgabe der GfDS, diese Signifikanz bzw. Popularität zu belegen.
Behauptungen in den Raum stellen und es der Gegenseite überlassen, diese zu widerlegen, ist schlechter Stil und diesen schlechten Stil überlassen wir Sarazzin und Konsorten.…
PS: Negationen lassen sich eh nicht beweisen. Oder können Sie mir beweisen, dass sich in Ihrer Küche keine vier unsichtbaren rosa Einhörner befinden?
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Ich freue mich immer, wenn das Wort des Jahres veröffentlicht wird. Denn dabei lerne ich neue Wörter kennen, die ich noch nie gehört habe. Das ist doch was.
Mir gefällt das Wort grundsätzlich ganz gut, ich sehe es einfach nicht im Zusammenhang mit dem Wort des Jahres. Ein Wort des Jahres muss in diesem Jahr rumgegeistert, überall immer wieder aufgetaucht sein. Und das kann man von Lichtgrenze nun wirklich nicht behaupten.
Ich denke da dauernd an Star Wars. Obwohl es da eine Licht_Mauer_ ist.
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