Haben muslimische Seefahrer Amerika entdeckt, wie es der türkische Ministerpräsident Erdoğan behauptet? Nein, natürlich nicht. Die Ureinwohner Amerikas haben Amerika entdeckt, und zwar vor über fünfzehntausend Jahren, als es noch keine Muslime gab. Aber, und das meint Erdoğan ja, haben muslimische Seefahrer Amerika vor Christoph Kolumbus besucht? Erdoğans Beleg für seine Behauptung ist eine Moschee, die Kolumbus angeblich auf einem Hügel an der kubanischen Küste gesehen habe und die er in seinem Schiffstagebuch erwähnt.
Die AFP-Pressemeldung, die bisher alle deutschen Medien einhellig übernommen haben (z.B. ntv), führt diese Behauptung auf einen „umstrittenen Artikel“ des Historikers Youssef Mroueh von 1996 zurück und berichtet, dass der mit seiner Interpretation von Kolumbus’ Tagebucheintrag nicht auf breite Zustimmung stößt:
Seine Kollegen weltweit interpretieren diesen [Eintrag] jedoch anders — nach ihrer Auffassung nutzte Kolumbus die Moschee nur als bildhaften Vergleich zur Beschreibung einer Hügelkette auf Kuba.
Liegt hier also ein wissenschaftlicher Streit über einen schwierig zu interpretierenden Tagebucheintrag vor? Eine vieldeutige Passage, die die einen so, die anderen eben so deuten?
Wir erfahren es nicht, denn die Pressemeldung zitiert die betreffende Stelle nicht und kein Medium verlinkt auf das Tagebuch, obwohl es bei Wikisource im Volltext vorliegt.
Sehen wir also selbst nach. Die strittige Stelle ist schnell gefunden (der entscheidende Satz ist hier durch Fettdruck hervorgehoben):
Señala la disposición del río y del puerto que arriba dijo y nombró San Salvador, que tiene sus montañas hermosas y altas como la Peña de los Enamorados, y una de ellas tiene encima otro montecillo a manera de una hermosa mezquita. Este otro río y puerto en que ahora estaba tiene de la parte del Sudeste dos montañas así redondas y de la parte del Oesnoroeste un hermoso cabo llano que sale fuera.
Kolumbus beschriebt hier einige „schöne und hohe Berge“ (montañas hermosas y altas) und sagt dann: „und einer von ihnen hat oben einen anderen Hügel in Art einer schönen Moschee“.
Das ist nicht besonders schwer zu interpretieren – montecillo bedeutet so etwas wie „Hügel“ oder „Erhebung“ (manchmal auch „Haufen“), womit schon einmal klar ist, dass Kolumbus eben über einen Hügel spricht, und nicht über ein Gebäude. Und a manera de heißt eben „in Art von“ – deutsche Wörterbücher übersetzen es oft auch schlicht mit „wie“.
Kolumbus spricht hier also nicht von einer Moschee auf einem Berg, sondern von einem „Hügel in Art einer Moschee“.
Es bleibt also bei der bekannten Endteckungsreihenfolge Amerikas. Erst kamen drei Wellen von Ureinwohnern, dann kamen die Wikinger, dann Kolumbus und dann der ganze Rest.
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Mal eine Frage, da das öfter vorkommt, bedeutet “Entdecken” tatsächlich “etwas finden, wovon zuvor _niemand sonst_ wusste”? Weil es der Verwendung nach, die mir geläufiger ist, mehr “etwas finden, wovon _man selbst_ nicht zuvor wusste” zu bedeuten scheint. Ich meine, wenn jemand erzählt: “Ich habe da eine tolle Kneipe entdeckt!”, wäre das ja auch Quatsch, weil selbst, wenn man der erste Gast überhaupt wäre, zumindest ihre Betreiber von ihrer Existenz wissen. Und ihre Vermieter. Und die Gewerbeaufsicht. Hoffe ich mal.
Oder dann kann auch niemand einen Schatz oder ein Verbrechen “entdecken”, weil zumindest der/die Verbrecher/in/nen bzw. die Person(en), die den Schatz versteckte(n), davon wusste(n). Effektiv wäre die Verwendung des Wortes “entdecken” sehr eingeschränkt, wenn dazu erforderlich ist, dass niemand sonst von der Entdeckung zuvor weiß. Wer hat den Sauerstoff “entdeckt”? Scheele, Priestley oder vllt. ein Alien in der Andromedagalaxis vor 1 Mrd. Jahren?
Unterdessen im VolcanoCafé: Kommentator YY fragt: “And I’ve been wondering who were the first to discover Turkey.” Kommentator BillG antwortet: “Everyone in the US knows that one.. Turkey was discovered by the Pilgrims on Thanksgiving.”
Vielen Dank für die Recherche, endlich mal einer, der in der Originalquelle nachschaut und seinen Text somit vernünftig belegt. Jetzt muss das nur noch einer an Hr. Erdogan mailen.
Super! Vielen Dank, da haben die anderen Medien wirklich nirgendswo einen Link zu der Passage oder eine nähere Erklärung ob da wirklich eine Moschee war. Schnell kopiert ohne zu recherchieren, so kennt man das ja inzwischen leider.
Danke für den Artikel, vor allem, weil er den unkritischen Gebrauch des Verbes “entdecken” problematisiert, was in anderen Zusammenhängen oft unterbleibt.
Zu Sultan Erdogan: Es wäre schön, wenn man ihn einfach nicht ernstnehmen müsste, weil die Strategie, sich wichtig zu machen ja so offensichtlich ist. Leider hat er aber so viel Macht und verändert die türkische Gesellschaft nachhaltig.
An Mycroft: Es handelt sich eben nicht um Objekte deren Entdeckung unabhängig von Geschichte stattfindet, sondern um den Beginn eines Völkermordes, Kolonisation und einer schon seit über 500 Jahren andauernden Ausbeutung. All dies veschleiert das Verb “entdecken” mit seiner eher positiven Konnotation.
Es geht also nicht um eine reine, alltägliche Wortbedeutung, sondern vielmehr um den ideologischen und geschichtsklitternden Gebrauch, der von amerikanischen Ureinwohner_innen immer wieder kritisiert wird.
Na ja, es ist natürlich NICHT die Originalquelle, sondern die Volltextversion der spanischen Ausgabe von 1892. Das Original des Kolumbus-Tagebuchs ist mW nicht erhalten.
(Wobei ich nicht davon ausgehe, dass im Original von einer echten Moschee die Schreibe ist…)
Ich finde, Mycroft hat da einen interessanten Punkt angesprochen. “Entdecken” heißt sicherlich nicht, dass man der erste Mensch überhaupt ist, der von der Existenz einer Sache erfährt. Meiner Intuition nach reicht es aus, die erste Person innerhalb einer Gruppe zu sein, auf welche sich dann (implizit) bezogen wird. Wenn also von der “Entdeckung” Amerikas durch Kolumbus die Rede ist, werden die amerikanischen Ureinwohner nicht als Teil dieser Gruppe betrachtet. Man könnte diese Aussage auch so paraphrasieren, dass Kolumbus Amerika für die Gruppe der Europäer entdeckt hat.
Ich darf aus meinem Blogeintrag — http://wp.me/s5285B-erdogan — zum Thema zitierten:
»Nehmen wir an, Columbus hätte tatsächlich eine Moschee gesichtet. Dann wäre er schnurstracks dorthin aufgebrochen, denn sein Ziel war es ja, den Herrscher von China, den Großen Khan, zu finden. Er hatte sogar einen Arabisch-Dolmetscher dabei, weil er davon ausging, dass dies am ehesten die Sprache sein würde, die die Menschen im fernen Osten verstehen. Aber Columbus fuhr einfach weiter und ist auch nie wieder zur Bahia de Bariay zurückgekehrt.« Die Bahia de Bariay ist die Bucht, von der aus man den besagten Berg sehen kann.
Die Frage, was mit “entdecken” eigentlich gemeint ist, ist tatsächlich die entscheidende beim Streit um die Entdeckung Amerikas.
Wir (naja, viele von uns) feiern oder ehren heute Kolumbus, weil der einen Kontinent gefunden hat, von dem außerhalb seiner Grenzen wahrscheinlich niemand etwas wusste; und weil die Welt durch ihn davon Kenntnis erlangt hat; und weil diese Kenntnis nicht wieder vergessen wurde.
„Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“
Georg Christoph Lichtenberg (Sudelbücher)
@Rolf: Kolumbus hat Amerika zwar gefunden, aber nicht _gesucht_. Könnte “entdecken” im Unterschied zum allgemeineren “finden” nicht einfach bedeuten, “etwas, von dessen Existenz man selbst nicht wusste” finden, im Unterschied zu “etwas, von dessen Existenz man wusste” finden?
Magellan “entdeckte” die Magellanstraße. Er hat zwar nach einer (portugiesenfreien) Schifffahrtsroute nach Asien gesucht, aber konnte nicht wissen, dass es sie tatsächlich gab.
Amundsen “entdeckte” den Südpol _nicht_, sondern hat ihn _erreicht_, da er vorher genau wusste, dass es ihn gibt, und wo er liegt.
Zoll “entdeckt” Heroinversteck.
Produzent “entdeckt” Showtalent.
Kinder “entdecken” die Welt.
Mir fällt gerade kein Gegenbeispiel ein.
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Ich denke, dass man “entdecken” mit einem Bezug auf jemanden oder einen Kulturkreis verstehen kann:
Man “entdeckt” eine Kneipe — für sich.
Man “entdeckt” einen neues Gebiet — für den europäischen Kulturkreis als wichtige geschichtliche Zäsur im Zeitalter der “Entdecker”.
“Entdecken” ist also immer subjektiv, und damit abhängig von der Perspektive.
nur für die Türken hat Amerika noch kein Türke wirklich entdeckt. 😉
Nach “etwas” darüber Nachdenken — hat “entdecken” wirklich eine positive Konnotation? Für mich nicht, ich denke dabei neben positiven Dingen (wie Penicillin) auch an negative (wie Kernkraft). Und wenn jemand dabei nur positive Konnotationen hat (und schlechte historische Kenntnisse) — war die “Entdeckung” des Seeweges nach Indien durch da Gama dann etwas gutes? Es war definitiv nicht das erste Mal, dass jemand Afrika umrundet hatte.
Oder die Entdeckung der Antarktis? Und Kriege, Sklaverei und Völkermord gab es schon vor Kolumbus auf dem nach dem Bankier benannten Doppelkontinent wie anderswo auch; dass ist natürlich keine Rechtfertigung für noch mehr davon, aber es ist auch nicht so, dass Kolumbus quasi im Alleingang an allem Übel schuld ist.