Das Cablegate von 2010 (damals auch AdJ-Kandidat) war vom Wortmaterial her noch ein vollständiger USA-Import, das diesjährige Handygate hingegen zeigt mehr deutsche Anteile: Die deutsche Basis Handy verbindet sich mit der Endung -gate ‘Skandal’. Mit letzterer verbindet uns hier im Sprachlog eine innige Freundschaft: Schon für das Jahr 2011 war sie nominiert und wurde gleich doppelt besprochen.
Ich rekapituliere (s. Links oben): Im Anfang war der Watergate scandal, benannt nach dem Watergate-Komplex in Washington, D.C. Kurz konnte er auch einfach als Watergate bezeichnet werden. Der darin völlig bedeutungslose Namenbestandteil -gate wurde dann im englischsprachigen Raum auf weitere Skandale übertragen. Im deutschen Sprachraum gibt es neben den Skandal-Importen aus dem englischsprachigen Ausland 1987 die Kontamination Waterkantgate, und dann auch eigenständige Benennungen.
Unser -gate hat für den deutschen Wortschatz eine sehr ungewöhnliche Funktion: Es handelt sich um ein »onymisches Wortbildungselement«, es wird also dazu genutzt, neue Eigennamen (Onyme) auf der Basis vorhandener Wörter zu bilden. Jede Bildung auf -gate bezeichnet also einen spezifischen Skandal, den wir für benennenswert erachten.
So eine Benennung muss natürlich nicht zwingend mit -gate erfolgen, sie kann auch durch Zusammensetzung zweiter Substantive geschehen (Dreyfus-Affäre, Contergan-Skandal) oder metonymisch, ganz ohne sichtbaren Wortbildungsprozess stattfinden (Tschernobyl, aber gemeinhin eher als Katastrophe denn als Skandal bezeichnet).
Von Watergate zu Eierlikörgate
Die für uns spannende Frage ist jetzt, wie »lebendig« die Skandalbenennung mit -gate im Deutschen ist, oder, sprachwissenschaftlich gesprochen, wie produktiv das Element ist.
Im Fall von Watergate, Irangate, Filegate und Cablegate haben wir es mit direkten Entlehnungen aus dem Englischen zu tun, sie können uns also nicht als Hinwiese dienen. Solche übernommenen Skandalbezeichnungen werden ein paarmal benutzt ((Im Schnitt 3,9‑mal, der Median liegt bei 2.)) und tauchen bei größeren Skandalen vielleicht auch noch ein paar Jahre später wieder auf — ihr Anteil (gelbe Kurve) ist aber relativ gleichbleibend. ((Was die Kurve genau dastellt: Wie viele verschiedene gate-Wörter pro Jahr in einem Zeitungstext zu finden sind (»Types«), geteilt durch ihre Verwendungshäufigkeit (d.h. auch Mehrfachvorkommen zählen mit, »Tokens«). Damit erfasst man in erster Linie die englischen Bildungen, weil in der Überzahl.))
Ich bin hier so vorgegangen, wie Anatol am Montag bei Cyber-. ((Meine Suchabfrage: “*gate OR *gates”; Tokens gesamt: 832, Types gesamt: 261, Erstbelege gesamt: 171, Erstbelege deutsch: 58. Belegzahlen vor 1992 zu gering um Berücksichtigung zu finden.)) Wie bei ihm, so ist auch bei mir die zweite, dunkelrote Kurve wesentlich aussagekräftiger: Sie zeigt an, wie viele der im jeweiligen Jahr erstmals vorkommenden gate-Wörter tatsächlich im Deutschen gebildet wurden. ((D.h. Basis ist ein deutsches Wört oder ein deutscher Orts- oder Personennamen.)) Dazu zählen im Korpus zum Beispiel Nersing-Gate, Bimbesgate, Wesergate, Pauligate und Dirndlgate.
Wie immer sind die Zahlen hier recht klein ((58 deutsche Erstbelege. In der Grafik nicht dargestellte Tokens: 173.)), müssen also mit Vorsicht interpretiert werden. Es zeigt sich, dass die Zahl der deutschen Neubildungen auf -gate im Untersuchungszeitraum zwar schwankend, aber kontinuierlich steigt und momentan recht hoch liegt. ((Alle 5 DeReKo-Neubildungen von 2013 sind deutsch, daher der sicher vergängliche 100%-Wert: Eierlikörgate, Fähnchen-Gate, Krümelgate, Stadtwerke-Gate, Tunnelgate.))
Gates des Jahres
Im Wahlkampf werden gerne kleine Skandale postuliert und große Skandale unter den Tisch gekehrt. Entsprechend gab es da ein Eierlikörgate, das war da wo Steinbrück also bei so Leuten zu Besuch war und es Eierlikör gab und es dachten alle das wären ganz normale Leute und nachher war die eine in der SPD und das war ein Skandal und der Mensch logischerweise unwählbar, weil halt.
Das eingangs erwähnte Handygate im Zusammenhang mit der NSA-Affäre (Merkels Handy wurde abgehört und niemand wunderte sich so recht darüber) ist wohl die Bildung, die 2013 die größte Verbreitung fand. In den Zeitungsdaten des DeReKo ist sie leider noch nicht enthalten (gehen nur bis Sommer).
Das Jahr ganz knapp verpasst hat Pofallagate, dessen Person zwar eng mit dem Handygate verbunden ist (okay, für ihn kam das dann wohl schon überraschend), der aber erst am 2. Januar (oder wars der 1.?) durch den eventuellen Wechsel in den Bahnvorstand von sich reden machte und damit seinen ganz individuellen Skandal bekam.
Der Wortbildungshotspot: Twitter
Schon vor zwei Jahren haben wir gesehen, dass die gate-Skandale immer mehr an Bedeutung verloren, die Benennung zunehmend ironisch (und damit auch kurzlebiger) wurde. So schrieb Suz:
Es ist nur eine Stichprobe — aber wir sind im Deutschen offenbar von der großen Staatsaffäre zum kleinen Kantinenwitz gewandert. Von Watergate zu bajuwarischen Empörung über Krawatten? Also da gehört schon eine gehörige Portion Dramaqueengequengel, aus Letzterem sowas wie Ernsthaftigkeit rauszulesen. Außerdem fehlt der heutigen Verwendung der Aspekt der Ursprungsbedeutung bzw. der, die noch in den 2000er Jahren vorherrschend war, nämlich das des Staatsskandals und des die Öffentlichkeit täuschenden Vertuschens.
Besonders auf Twitter, und besonders im Umfeld der Piratenpartei hat sich -gate als Hinweis auf ein eher unwichtiges Ereignis etabliert, um das viel Lärm gemacht wird — und manchmal nicht einmal das.
Hier hat sich das Wortbildungselement auch von seiner Basis befreit und tritt nun, ohne ein Name zu sein, als Gate ‘Pseudoskandal; Ereignis, über dessen Bewertung man sich uneinig ist’ auf. Weil sich Wortbestandteile nicht gut suchen lassen, habe ich mir ersatzweise einmal dieses Substantiv angesehen. ((Suche nach #gate auf Deutsch.)) Für 2013 gabe es 35 Tweets, viele mit einer (selbst)ironische Lesart, z.B.:
Ich will mich aufregen und meine Filterbubble spült mir kein passendes #Gate in die TL. Schwach, Leute — einfach nur schwach.
— Stephan Kornberger (@Zoor) February 8, 2013
Der @ennolenze hat einen Frühstücksberater, während andere #Piraten das selber machen müssen. DAS ist ein #gate!
— heidelbeerlinerin (@nutellaberliner) May 26, 2013
Was habt ihr eigentlich alle grad mit Anzügen? Hab ich ein neues #gate verpasst?
— Gefion (@GefionT) September 8, 2013
Ab und an scheinen sich Tweets zwar auf von den Schreibenden ernstgenommene Ereignisse zu beziehen, aber das vorfreudige Händereiben hört man hier mit:
Oh Oh da kommt auf die #Piraten nen ziemlich dickes #Gate zu.http://t.co/NN5a36ef
— Cyberkalle (@Cyberkalle) February 7, 2013
Die Bildung von gate-Wörtern dient gerade bei Twitter nicht der reinen Benennung, sondern der Bewertung und Abwertung, der subjektiven Heraushebung bestimmter Ereignisse und der Erlangung oder Wahrung von Diskurshoheit.
In den Zeitungen hingegen, wo fast nur Ereignisse von größerer Reichweite zu -gates werden, scheint es eher darum zu gehen, eine griffige Bezeichnung zu haben, um einen Skandal besser vermarkten zu können, die bewertende Perspektive bleibt (etwas) mehr im Hintergrund.
Fazit
Wir stehen also vor einem spannenden Paradox: Die gate-Bildungen werden immer kurzlebiger, weil sie oft unwichtige Ereignisse bezeichnen und so schnell wieder vergessen sind, wie sie aufkommen. Gerade durch die Ausweitung auf Ereignisse von kurzer Relevanz wird aber der Einsatzbereich für -gate viel größer, es können also bedeutend mehr Bildungen entstehen als zuvor, die Produktivität des Suffixes steigt.
Ich würde ihm daher dieses Jahr eine echte Chance einräumen: -gate nimmt in der Zeitungssprache zu, wenn die Zahlen auch klein sind, und es ist ein in bestimmten, meiner Einschätzung nach größer werdenden Kreisen stark verbreitetes Netzphänomen. Die letzte Nominierung vor zwei Jahren zeigt außerdem, dass diese »Twitternutzung« keine ganz kurze Mode ist.
Heißt das jetzt, man sollte demnächst mal “Gate” ohne Bindestrich ebenfalls betrachten/mitnominieren?
Die ‑gates nehmen zu, weil damit immer mehr nicht die handfesten Skandale, sondern Skandälchen, Pleiten, Pech und Pannen bezeichnet werden. Es ist eine Inflation (Aufblähung) und damit Entwertung des Worts, halt wie beim Geld.
Die Ausweitung der Bedeutung auf nicht erwähnenswerte Nichtereignisse ist natürlich auch ein Sprachwandel. Ich würde aber trotzdem ein Wort vorziehen, dass in einem positiveren Sinn auffällt.
Hmm, würde das heissen, dass wenn ‑gate gewinnt, dass ich dann zwei ausgezeichnete AdJ in Folge nominiert hätte?
Pingback: tweets | 2014-01-16 | viola's blog
Eine Suche auf Google News für “gate: site:de” in 2013–2014 liefert weitere Treffer (natürlich nur die, die mit Bindestrich geschrieben werden, da Google nicht nach Wortteilen sucht). Deutsche Wortstämme:
Handtaschen-Gate, Mops-Gate, Krümelmonster-Gate, Klo-Gate, Mutti-Gate, Brüderle-Gate: englische Wortstämme oder Eigennamen: Egg-Gate, Pluna-Gate, Nanny-Gate, Antenna-Gate.
Und hier noch alle Bindestrich-Gates der ersten fünfzig Seiten Suchergebnisse auf Spiegel.de, sortiert nach frühestem Vorkommen.
2000: Leo-Gate
2001: Sophie-Gate, Diplo-Gate
2002: Windsor-Gate, Cherie-Gate, Blatter-Gate, Enron-Gate
2004: Moni-Gate
2005: Lippen-Gate, Nipple-Gate
2006: Grabsch-Gate
2007: Plame-Gate, Angola-Gate, Höschen-Gate
2008: Sexy Photos Gate, Telekom-Gate, Blago-Gate, Karma-Gate
2009: Oregon-Gate, Goldman-Gate, Flugi-Gate , Lasagne-Gate, Murdoch-Gate, Facebook-Gate, Muffin-Gate
2010: Boob-Gate, Battery-Gate, Nipple-Gate, Crotch Shot-Gate, Woerth-Gate
2011: Battery-Gate, Karachi-Gate, Cable-Gate, Ruby-Gate
2012: Skateboard-Gate, Geiz-Gate, Prantl-Gate, Bikini-Gate, Big-Bird-Gate, Tweet-Gate
2013: Antenna Gate, Dirndl-Gate, Reifen-Gate, Handy-Gate, CO2 Gate
Wow. Was jetzt nicht son wahnsinnig gutes Licht auf die Deutsche Nachrichtensphäre legt, aber gut.
(-Gate hat’s dir offenbar sehr angetan…)
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