Zur Verteilung von Anredepronomina im Deutschen, also aktuell dem Siezen und Duzen, wurde schon viel Kluges geschrieben. Das, was ich heute im »Wörterbuch der Mikropolitik« ausgegraben habe, gehört definitiv nicht dazu. Seinen Eintrag »Duzen« leitet Diether Huhn in klassischer Altherrenmanier ein mit den Worten
Wenn — beispielsweise — ein älterer Hochschullehrer einer jungen, schönen Kollegin vorsichtig das „Du“ anbietet und sie läßt sich allenfalls dazu herab, ihn mit Vornamen anzureden, bleibt aber ansonsten beim „Sie“, dann denkt sie möglicherweise, ihre Beziehung zu jenem älteren Kollegen hätte in den Augen der anderen Kolleginnen und Kollegen unterdessen einen Grad von Vertrautheit angenommen, daß nur noch das „Du“ nötig sei, um jenen anderen mitzuteilen, daß sie nun doch miteinander geschlafen haben.
Luft und Kotztüte geholt? Okay, es geht weiter:
Von den einigermaßen sicheren nicht-familiären Du-Fällen ist der Beischlafsfall der gesellschaftlich gesichertste. Wer als „Sie“ in das gewisse Bett geht, steigt als „Du“ wieder heraus (Intimitäts-Du).
Ich weiß nicht so recht, wo ich da anfangen soll. Natürlich erst mal Stereotypen- und Sexismusalarm: Frau ist jung und schön, Mann ist älter (und damit hierarchisch wohl auch höherstehend) ((Im übrigen Wörterbucheintrag, der anekdotisch vom Duzen in den verschiedensten öffentlichen Kontexten handelt, gibt es nur männliche Chefs, Vorgesetzte und Professoren. Die nicht-sexualisierten Untergebenen sind ebenfalls weitgehend männlich.)). Mann ist ja ganz »vorsichtig«, aber Frau zickt rum (typisch Frau halt) und lässt sich nicht herab. (Sicher die Hormone.) Frau muss auf ihren Ruf achten. (Stichwort Hochschlafen.) Der Sex ist, wenn man zusammenarbeitet, unausweichlich (»nun doch«). Logisch, wenn der Mann mächtig und die Frau jung und schön ist.
Es gibt übrigens eine Möglichkeit dieser offensichtlichen Interpretation durch die Kolleginnen und Kollegen zu entgehen: Man tritt einer Partei bei, »die sich als Erbe der Arbeiterparteien empfinde[t]«, dann ist
[D]ie Genossin […] jenseits aller Intimität […] eine Du.
Dann Absurditätsalarm: Es stimmt vielleicht, dass es nur wenige Kontexte gibt, in denen zweifelsfrei geduzt wird. Hier hätten sich das Duzen unter Kindern und Jugendlichen oder unter Studierenden als typische, fast ausnahmslose Fälle angeboten. Auch interessant wäre das asymmetrische Duzen, das sich heute fast nur noch zwischen Lehrkräften und SchülerInnen findet, früher aber auch zwischen Eltern und Kindern üblich war. ((Einen Fall, in dem die Schulnormen stärker wirken als Intimität, hat übrigens die Mopo entdeckt.))
Dass der »Beischlafsfall« in irgendwie relevantem Umfang existieren ((Ich weiß nicht, ob das irgendwie untersucht wurde, aber ich bezweifle sehr, dass man sich in den meisten Fällen noch siezt, wenn der Geschlechtsverkehr beginnt. Hinweise auf Forschung willkommen!)) und dann auch noch neben dem später erwähnten »Polit-Du« der »gesellschaftlich gesichertste« Kontext zum Duzen sein soll, zeigt hingegen allerhöchstens, dass der Autor wohl unbedingt über Sex mit jungen (und schönen) Kolleginnen schreiben wollte.
Herzlichen Dank an @Erbloggtes für den Volltext.
Schön, dass ich gerade Ingeborg Bachmanns Malina lese und weil es so schön passt:
“Sie dürfte mit dem Sie der Fanny Goldmann verwandt sein, die angeblich, natürlich nur Gerüchten zufolge, zu allen ihren Liebhabern beharrlich Sie gesagt hat. Sie sagte natürlich auch zu allen anderen Männern Sie, die nicht ihre Liebhaber werden konnten, und sie soll einen Mann geliebt haben, zu dem sie ihr schönstes Sie gesagt hat. Frauen wie die Goldmann, von denen man immerzu spricht, können nichts dazu oder dagegen tun, aber eines Tages zirkuliert eben ein Satz in der Stadt: Leben Sie auf dem Mond? was, das wissen Sie nicht? die hat ihre größten Lieben, und das waren ja einige, mit dem unnachahmlichsten Sie sagen absolviert! Selbst Malina, der nie etwas Gutes und nie etwas Schlechtes über jemand sagt, erwähnt, er habe heute Fanny Goldmann kennengelernt, sie war auch eingeladen bei den Jordans, und er sagt unwillkürlich: Ich habe nie eine Frau so schön Sie sagen gehört.”
Ach das erste Kommentar hat immerhin so ein schoenes Zitat, sonst koennte man mit dem igitt-sagen gar nicht mehr aufhoeren hier.
Fußnote 3 nennt ein dringendes Desiderat der Forschung im Bereich der linguistischen Pragmatik und der Sprachwissenschaft ganz allgemein. Es wäre zu begrüßen, wenn dazu in angemessener Zeit auch mehrere Dissertationen veröffentlicht würden.
Mit anderen Worten: Sehr schön.
Schön aufgeregt. Vielleicht sogar zurecht, ein Buch von 1998 betreffend. Und jetzt? Wo ist die Realität abseits dieses Buchs? Ich (m) habe auch ältere Dozentinnen geduzt, und Kommilitoninnen auch ältere Dozenten und nichts dergleichen ist passiert. Recht wahrscheinlich ist auch nichts dergleichen gedacht worden.
Bemerkenswert ist doch auch, dass die Aussage des Anstoßes in einem Satz über 6 Zeilen (Standard-Seitenbreite, Times 12pt) geht und aus einem einzigen Satz mit über 70 Wörtern besteht. Liest das wirklich jemand, dieses Buch? Ich glaube, ich hätte allein wegen diesem Stil nach einer halben Seite genug.
“Es stimmt vielleicht, dass es nur wenige Kontexte gibt, in denen zweifelsfrei geduzt wird.”
Hmm, also meiner Erfahrung nach wird in Sporthallen konsequent und Ausnahmelos geduzt. Kommt sicher aus der deutschen Vereinskultur. Ist lustig, wenn man die Leute vorher schon kannte oder hinterher in anderen offizielleren Kontexten trifft. Aber vielleicht hat gemeinsamer Sport ja auch etwas mit “Intimität” zu tun und sollte doch besser Geschlechter getrennt stattfinden. Ein Forschungsdesiderat ist übrigens auch das Duzen von Bewohnern in Einrichtungen/ Heimen durch die ihnen zugewiesenen Pflege- und Betreuungskräfte… Auch hier ein schwieriger Zusammenhang mit Intimität.
Einige Genoss/innen hassen das Genoss/innen-Du. Zu ihnen gehörte Johannes Rau. Als er einst Kanzler werden wollte, sollte er auf einer lokalen Wahlkampfveranstaltung eine Rede halten. Zuvor hatte ihn der örtliche SPD-Bürgermeister mit einer fröhlichen Duz-Attacke begrüßt. Raus erste Worte darauf: “Herr X, vielen Dank. Hiermit biete ich Ihnen das ‘Sie’ an.”
Wie ulkig! Ein lustiger Beitrag aus der Sittengeschichte der 50 Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Der Beischlafsfall ist schon sehr lustig. Es ist wohl nicht gesichert, dass man während des Beischlafs grundsätzlich nicht miteinander spricht (denn nur so ist ein klares “Vorher-Nachher” ja denkbar, wenn überhaupt maßgeblich viele Menschen mit jemandem ins Bett gehen, den sie siezen).
Aber ansonsten wirkt das eher wie falsch übertragene Gepflogenheiten aus der Film- und Fernsehkunst. Ich einnere mich noch, wie absurd ich es immer fand, dass in synchronisierten Filmen aus dem Englischen stets nach dem ersten Kuss das Du regelhaft Pflicht war (was ja in der Originalsprache gar nicht funktioniert). Das deutsche Fernsehen hat diese Konvention übernommen, und fast scheint es, der “Lexikon”-Autor habe das nun auf den Geschlechtsverkehr extrapoliert, vielleicht unterstützt durch das Fernsehpattern nach dem Modell “Ingeborg, ich kann nicht mehr ohne Sie leben” – Kuss – Schnitt – beide im Bett danach – Ingeborg: “Hubert, ich will auch nicht mehr ohne dich sein.”
Vielleicht schaut der Autor einfach zu viel fern?
Kritisiert der Autor durchs Beispiel nicht selbst die gesellschaftlichen Verhältnissen?
Im Beispiel kann man ja nicht der Kollegin den Vorwurf machen, dass sie Angst um ihren Ruf hat. Daran sind gesellschaftliche Vorurteile Schuld.
Ich finde, er kritisiert da schon die sexistische Gesellschaft. Sehe ich das falsch? Oder wie könnte ein Beispiel Sexismus kritisieren, ohne Stereotypen zu bemühen? (keine rhetorische Frage)
“Es stimmt vielleicht, dass es nur wenige Kontexte gibt, in denen zweifelsfrei geduzt wird.”
Mir fallen da noch die Damen und (zumindest bei uns um die Ecke zunehmend) Herren an der Supermarktkasse ein, die ein eigenes Feld der lingustischen Forschung bilden dürfte: “Herr Hansen, kannst Du mal sagen, was die Tomaten Kommen?”
“Auch interessant wäre das asymmetrische Duzen, das sich heute fast nur noch zwischen Lehrkräften und SchülerInnen findet”
Ich verstehe nicht ganz. Man bringt Kindern nach wie vor bei, dass sie Erwachsene siezen sollen, waehrend Erwachsene Kinder duzen. Demnach ist das asymmetrische Duzen durchaus ueblich.
Da es ja zunehmend üblich wird, sich mit Arbeitskollegen zu duzen und das oft von Anfang an, frage ich mich, woran ich dann merken soll, wer mit wem schläft. Und da denkt man, das Duzen erleichtert die Kommunikation. Falsch gedacht. War mir nur bis jetzt nicht bewusst.
“Wer als „Sie“ in das gewisse Bett geht, steigt als „Du“ wieder heraus (Intimitäts-Du).”
Das kann ich bestätigen. Alle Frauen, die siezenderweise mit mir ins gewisse Bett gegangen sind, haben mich beim Heraussteigen geduzt (nicht nur die jungen, schönen Hochschullehrerinnen, wohlgemerkt).
@Daniel: Dürfen wir davon ausgehen, dass die Menge “Alle Frauen, die siezenderweise mit mir ins gewisse Bett gegangen sind” leer ist?
Für einen Dilettanten bist du ganz schön scharfsinnig, muss ich schon sagen. 🙂
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@m’r:
leider nicht. Ein Beispiel für Sexismus ohne Kommentar zu bringen und Sexismus damit irgendwie widerzuspieglen ist gerade keine Kritik, weil Selbstverständlichkeiten eben das sind, was kommentarlos immer wieder und wieder wiederholt wird. Die Darstellung macht’s. Und wie KK ja aufzeigt ist die Darstellung von Herrn Huhn eben in der Wahl des Beispiels 100% stereotypenkonform und eben auch sexistisch, z.B. wenn in Formulierungen wie „sich allenfalls dazu herablassen“ klare Vorwürfe an bestimmte Rollen zugewiesen werden…
Wenn man Kritik an Stereotypen üben will dann muss man sie sichtbar machen, das geht halt nur schlecht implizit.
Das “Du” als “Beweis” fürvollzogenen Geschlechtsverkehr heranzuziehen, ist ja wohl ziemlich daneben. Ich duze mich auch im Berufsleben, ob mit Vorgesetzten oder Personen, die in der Hierarchie unter mir stehen.
Geschelchtsverkehr hatte ich bisher mir keinem, noch habe ich mich dazu hergeben müssen, noch habe ich andere Personen dazu genötigt.
Wenn ich jemanden duze auf der Arbeit, dann nur, weil ich meine, die Person arbeitet korrekt im Sinne des Teams, nicht und nie und nimmer sexuell.…..
Wie kann man das nur missdeuten, wenn man keine asozialen Gedanken hat.……