Es ist eigentlich müßig, sich über die »Studium Generale«-Rätselreihe der ZEIT aufzuregen, aber ich kann nicht anders. Diese Woche: »Einführung in die Sprachwissenschaften«. ((Das Fach selbst heißt an den meisten Unis Sprachwissenschaft, oder auch Linguistik, manchmal noch mit modifizierenden Adjektiven wie allgemeine, theoretische, kognitive etc. Der Inhalt des Tests deckt aber primär Einzelphilologien (besonders die letztes Mal ja zu kurz gekommene Germanistik) ab, von daher passt der Plural vielleicht wieder.))
Die ZEITlichen Vorstellungen davon, was man so an sprachwissenschaftlichem Grundwerkzeug braucht, sind äußerst simpel:
- Normgemäße deutsche Rechtschreibung (Groß- und Kleinschreibung, Fremdwortschreibung)
- Normgemäße deutsche Grammatik (Genitivbildung)
- Wissen über Sprachfamilien und Amtssprachen (natürlich nur europäische)
- Lateinkenntnisse (oh my!)
Hinzu kommt das Auflösen einer Chat-Abkürzung (waruuuum?) und, besser passend, terminologisches Wissen (Welthilfssprache, Determinativkompositum).
Aus 1., 2. und 4. trieft die Ahnungslosigkeit nur so heraus. Natürlich muss man, wenn man studiert, Rechtschreib- und Grammatiknormen der Unterrichtssprache(n) beherrschen. Das lernt man aber nicht in einer sprachwissenschaftlichen Einführung, das lernt man in der Schule, und was dann noch nicht sitzt, kann man lernen, wenn man in seine korrigierten Hausarbeiten reinschaut.
Den Unterschied zwischen dem, was die ZEIT denkt, und dem, was im Studium wirklich vorkommt, will ich an Frage 9 etwas verdeutlichen. Hier wird in typischer Sickmanier gefragt:
“The Quest – Der Fluch des Judaskelch” heißt ein US-amerikanischer Spielfilm. Wie hätte er korrekterweise heißen müssen?
Ooooh! Es fehlt ein -s! Oder ein -es? Zu Hülf! Untergang des Abendland ((es))! Nun lernt man in einer Einführungsvorlesung in die germanistische Linguistik aber nicht, wie man die Genitivendung mit Rotstift dazuschreibt oder geifernde, intelligenzabsprechende Kommentare in Internetforen verfasst.
Was man vielleicht, vielleicht lernen könnte, meist in einem höheren Semester, ist, dass der Filmtitel ein aktuelles Sprachwandelphänomen illustriert, an dem auch die ZEIT selbst fleißig mitwirkt.
Eine willkürliche Auswahl: ((Alle Belege via DWDS, Suchabfrage “@des #0 $p=NN”.))
- Der große Lauschangriff des Boulevard (Link)
- Die Energie des Punkrock, seine Schnelligkeit und Spannung — all das korrespondierte bestens mit meinen aufwallenden Hormonen. (Link)
- Zu den Apologeten des Shareholder-Value hat er dabei allerdings nie gehört. (Link)
- Ein Start bei Schlechtwetter ist vor allem deshalb untersagt, weil tiefe Wolken und heftige Winde eine Notlandung bei technischen Problemen des Shuttle in Cape Canaveral gefährden würden. (14.7.2009)
- Mit Blick auf die von ihm angeordnete Schließung des US-Gefangenenlager Guantánamo sagte er, die Muslime sollten ihn nach seinem Taten beurteilen. (Link)
Bei allen Formen würde man also ein Genitiv-s erwarten, findet aber keins. Das Phänomen ist auch der Grammatikschreibung nicht entgangen. So ist in der Duden-Grammatik (2009:200) zu lesen:
Nach Artikelwörtern mit Genitiv-s, zum Beispiel des, dieses, eines, jedes, wird das Genitiv-s oft weggelassen (Unterlassung der Kasusflexion). Es handelt sich um eine Erscheinung, die mit der Tendenz zur Monoflexion in der Nominalphrase zusammenhängt: Ein grammatisches Merkmal wird nur noch einmal ausgedrückt. Das Weglassen der Genitivendung ist standardsprachlich erst teilweise anerkannt.
Dass ein Artikelwort vorhanden sein muss, sieht man bei Personennamen, die ja artikellos auftreten können:
Josefs Handschuhe, aber
die Handschuhe des kleinen Josef(s)
Im ersten Beispiel gibt es kein weiteres Wort, das die Kasusinformation trägt, ein Abbau könnte also zu Problemen führen. Im zweiten Beispiel ist die Verwendung des s-Genitivs zwar noch möglich, meist unterbleibt sie aber, die Information wird allein vom Definitartikel des ausgedrückt.
Bei anderen Namentypen, zum Beispiel geografischen Namen, ist der Abbau seit mindestens Anfang des 20. Jahrhunderts ebenfalls zu beobachten, wobei die meisten Grammatiken die Variante mit s derzeit noch bevorzugen: der Lauf des Mississippi(s), die Mündung des Tiber(s).
Schaut man noch etwas genauer in die Beispiele hinein und wertet Korpusbelege aus, wie das Nübling (2012) getan hat, wird außerdem deutlich, dass die s-losen Genitive sich besonders dann bewähren, wenn es sich um einen eher unbekannten geografischen Namen handelt: Während des Rheins, des Neckars, des Nils mit s dominieren, haben des Mississippi, des Orinoco und des Yangtse in lektorierten Zeitungstexten vornehmlich keine Endung.
Wahrscheinlich liegt das daran, dass man den Namenkörper als solchen erkennbar halten will: Während wir den Rhein zur Genüge kennen und von den Wogen des Rheins nicht sonderlich verwirrt werden, ist von anderen Flüssen weniger die Rede und es besteht die Möglichkeit einer Fehlanalyse. Woher will man denn wissen, ob es nicht vielleicht *der Orinocos heißt, so wie der Amazonas?
Ganz ähnlich wie mit fremden Namen gehen wir auch mit Fremdwörtern um. Ein paar willkürliche Internetbelege aus respektablen Quellen:
- Die Risiken des Fracking zur Förderung von Öl und Gas aus Schiefergestein sind hochumstritten (Link)
- Vom Siegeszug des Chat, dem Wirtschaftsportal Quartz und „Kill Decision“ (Link)
- Sozialpsychologie des Internet (Link)
- Im Merkmal “kräftig” liegt der Bewertungswert des Dialekt nur unwesentlich unter dem des Standards. (Link)
- Besuch des Minister für Landwirtschaft und Umwelt (Link)
Dem Verständnis tut das keinen Abbruch: Wo der Genitiv vorher doppelt markiert wurde, muss jetzt einmal genügen, damit geben sich ja viele andere Substantive auch zufrieden (die Tante – der Tante).
Wir haben also gesehen, dass manche Substantivgruppen schon ganz zur Monoflexion übergegangen sind (Personennamen), andere sind auf dem Sprung und werden als standardsprachliche Schwankungsfälle eingeordnet (geografische Namen), andere sind zwar weit verbreitet, aber noch nicht in Grammatiken aufgenommen (primär Fremdwörter).
Im Fall des Judaskelch(s) haben wir es bei Kelch nicht mit einem Fremdwort zu tun — aber möglicherweise insgesamt mit einem Eigennamen: Beim Judaskelch handelt es sich um ein bestimmtes Individuum der Sorte Kelch, nämlich das, das aus den 30 Silberlingen, die Judas für den Jesusverrat erhielt, besteht. Auf jeden Fall hat das Wort also namenartige Züge. Der s-Abbau verwundert wenig.
Worin unterscheidet sich also das, was man in der Linguistik wirklich tut, von dem, was die ZEIT sich vorstellt?
Man beobachtet ein sprachliches Phänomen und stellt zum Beispiel fest, dass es von bisher Bekanntem abweicht. Ist man die ZEIT, dann korrigiert man. Studiert man Linguistik, dann sucht man nach Erklärungen dafür. Für mich persönlich ist klar, was mehr Spaß macht.
Literatur:
- Eisenberg, Peter at al. (Hg., 2009): Duden. Die Grammatik. 8., überarbeitete Auflage. Mannheim.
- Nübling, Damaris (2012): Auf dem Wege zu Nicht-Flektierbaren: Die Deflexion der deutschen Eigennamen diachron und synchron. In: Rothstein, Björn (Hg.): Nicht-flektierende Wortarten. Berlin/New York, 224–246. (Link)
Nach Artikelwörtern mit Genitiv–s, zum Beispiel des, dieses, eines, jedes, wird das Genitiv–s oft weggelassen (Unterlassung der Kasusflexion). Es handelt sich um eine Erscheinung, die mit der Tendenz zur Monoflexion in der Nominalphrase zusammenhängt: Ein grammatisches Merkmal wird nur noch einmal ausgedrückt. Das Weglassen der Genitivendung ist standardsprachlich erst teilweise anerkannt.
Ist das tatsächlich eine neue Erscheinung? Ich kenne aus alten Akten des öffentlichen Dienstes eine Standardwendung: Die Aussage des Müller, die Schwester des Schulze — aber: der Hund des Rentners. Der Wegfall des Genitiv‑s * ist auf Personennamen beschränkt und dient dem gleichen Zweck wie er im Artikel genannt wurde; der Name soll unverändert bleiben, dass niemand den Müllers oder den Schulzes für verdächtig halte.
* oder Genitiv‑s’? Genitiv-ses?
Bei Personennamen ist das keine neue Erscheinung (Details im Nübling-Aufsatz), das typische Beispiel ist hier eine Titeländerung bei Goethe:
Die Leiden des jungen Werthers (1774)
Die Leiden des jungen Werther (1787)
(Vgl. hier)
Bei anderen Substantiven scheint es neuer zu sein, ich habe da aber nicht erschöpfend recherchiert.
Auch wenn zum Thema “Lateinkenntnisse” zB sicherlich mehr zu sagen wäre als “oh my” (nicht eher “o mei”?), trifft die Beobachtung, dass das Genetiv‑S in den letzten Jahren rasch verfällt, völlig zu. Je seltener ein Wort, desto mehr wird es als unveränderlicher Eigenname empfunden, desto ungewohnter die Deklination: “das Auffüllen des Getränkekühlschrank”. Genauso haben wir das Dativ‑E verloren; die romanischen Sprachen ebenso wie das Englische sind diesen Weg vorausgegangen. Diese Entwicklung der Schriftsprache spiegelt auch den Einfluss der gesprochenen Sprache, die den Genetiv außerhalb einiger Residualkonstruktionen bereits abgeschafft hat: “die Tür von der Wohnung”.
Also,mir helfen meine Lateinkenntnisse jedenfalls bei vielen Gelegenheiten, beispelsweise wenn ich hier — im sprachlog. — etwas lese. Natürlich genügt auch ein Wörterbuch…
Ich denke, dass hier viele Autoren gegen Latein sind, hängt mit historischen Dingen zusammen und weil es wohl cool wirken soll! Immerhin haben die Römer die Germanen als Barbaren bezeichnet und das nehmen ihnen noch heute einige Deutsche übel. Was ist daran aber so falsch?!
@Max: Nichts gegen Lateinkenntnisse. Ich habe auch welche. Meine Klammer werden wahrscheinlich nur Leute aus der Linguistik so richtig nachvollziehen können, die aber um so besser.
Unter Laien, ganz besonders unter LateinlehrerInnen und Eltern von Gymnasialkindern, herrscht die weit verbreitete Auffassung, Latein sei a) der Schlüssel zu allen anderen Sprachen und b) die einzige Möglichkeit, deutsche Grammatik zu lernen.
Das hat natürlich damit zu tun, dass Latein viele Jahrhunderte lang europäische Bildungssprache war und (u.a. daher) als vollkommener, besser, richtiger etc. als die Volkssprache (z.B. Deutsch) empfunden wurde.
Bei grammatischen Beschreibungen “niederer” Sprachen wie dem Deutschen bediente man sich daher des lateinischen Vorbilds: Grammatische Kategorien, die man im Lateinischen kannte, suchte man auch hier, beim Verfassen präskriptiver Grammatiken “erfand” man Konstruktionen, die dem Lateinischen entsprachen. Dabei sah man das Lateinische nicht als eine Sprache unter vielen, sondern als “Universalsprache”. Andere Sprachen besitzen Phänomene, die es im Lateinischen nicht gab, das Lateinische ist in einiger Hinsicht grammatisch durchaus absonderlich, aber getreu dem Motto “Ein Falschfahrer? Hunderte!” hämmerte man sich die anderen Sprachen so zurecht, dass es wieder passte. Besonders übel wurde dabei (bis in die neuere Zeit hinein) Sprachen mitgespielt, die typologisch ganz anders sind — bei denen zum Beispiel eine Unterscheidung von Wortarten nicht sinnvoll ist.
Entsprechend reagiert man in der Linguistik, besonders in der Sprachtypologie, recht empfindlich auf die Latein-ist-der-Schlüssel-zu-Allem-Behauptung, und die steckte für mich implizit im Abfragen eines lateinischen Sprichworts drin.
Klammer zu 🙂
@Moritz
Ja, der Kasusabbau ist ein Thema, das sich schon mindestens seit dem Germanischen durch die (vor)deutsche Sprachgeschichte zieht. Dabei wurden die grammatischen Informationen zunehmend auf Begleiter (Artikel, Pronomen, Adjektive) ausgelagert, am Substantiv selbst verschw(a|i)nden sie. Darin unterscheidet das Deutsche sich auch vom von Dir angeführten Englischen und Französischen.
Der Abbau des Dativ-e(s) war meines Wissens in erster Linie lautlich gesteuert — mehrsilbige Wörter bauten (teilweise erheblich) früher ab als einsilbige. Gehört aber natürlich trotzdem zum Kasusabbaupuzzle.
Der Punkt mit der gesprochenen Sprache ist sehr wichtig, ja, danke für die Erwähnung! Da der Genitiv mehr und mehr auf geschriebene Sprache beschränkt wird, kann es zunehmend zu Unsicherheiten im schriftlichen Gebrauch kommen, die den Abbau unterstützen. Ich habe bei meinen Studierenden häufig das Gefühl, dass es für sie besonders “gehoben” klingt, wenn sie das s weglassen. Wäre mal spannend, rauszufinden, ob das so ist und falls ja, wie eine solche Einschätzung zustandekommt.
Ich habe noch ein wenig weiterüberlegt mit der eventuell wahrgenommenen höheren Stilebene — vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass sehr viele entlehnte lateinische Maskulina auf -us ausgehen und dann meist nicht overt genitivmarkiert werden? Das Prestige des Fachwortschatzes würde dann auch auf weitere Wörter übertragen. Hm.
Ich wünsche mir, dass das verschwinden des s eine Reaktion auf das Auftauchen des Apostrophs ist. Ich geh jetzt weiter träumen und troll mich.
Der Beleg auf Linguistik-Online ist offensichtlich ein Tippfehler, denn der Genitiv wurde ansonsten konsequent richtig verwendet (soweit ich das gesehen habe), insbesondere bei dem noch mehrfach auftretenden Wort Dialekt.
Und Spiegel und Deutschlandradio sind keine respektablen Quellen. Allen voran ist der Spiegel eine wahre Goldgrube für die Auswüchse solcher Servicejournalistenkrankheiten.
@Thomas: Mit “respektable Quelle” ist gemeint, dass auf den entsprechenden Seiten i.d.R. Texte von Menschen mit hoher Schriftsprachkompetenz erscheinen und dass diese Texte von anderen Menschen korrekturgelesen werden.
Tippfehler ist natürlich immer möglich, die Menge der Quellen macht’s dann aber.
Dass die Form bei Linguistik online nicht angepasst wurde, spricht aber doch für eine gewisse Akzeptanz, immerhin gibt es ja zwei Autoren und dann auch noch die Herausgeberin der Zeitschrift bzw. die anonymen ReviewerInnen.
@Kristin: Genau das bezweifle ich bei manchen Artikeln.
Das kann man zu jedem Tippfehler sagen, der in einer Fachzeitschrift auftaucht.