Es wäre ja zu schön, wenn John F. Kennedy sich in seiner viel zitierten und in der Wahrnehmung (west-)deutscher Medien historisch befremdlich überhöhten „Ich-bin-ein-Berliner“-Rede tatsächlich als mit Marmelade gefülltes Backwerk bezeichnet hätte. Aber obwohl sich entsprechende Gerüchte vor allem in der englischsprachigen Welt hartnäckig halten, hat er das nicht. Das durfte ich anlässlich des 50. Jahrestages seiner Rede nicht nur der AFP erklären, sondern das habe ich schon vor genau fünf Jahren – damals noch im Bremer Sprachblog – ausführlich diskutiert. Und Susanne hat vor zweieinhalb Jahren beschrieben, wie und wo dieser Mythos entstanden ist.
Für diejenigen, die sich nicht durch diese empfehlenswerten, aber alten, Blogbeiträge wühlen wollen: Der Mythos geht ungefähr so. Kennedy hätte eigentlich sagen müssen Ich bin Berliner, da das sogenannte Prädikatsnomen, also das Substantiv, das dem Verb sein folgt, in dieser Art von Herkunftszuschreibung keinen Artikel haben dürfe. Deshalb sei Kennedys Ich bin ein Berliner nicht als Herkunftszuschreibung zu interpretieren, und Berliner könne sich hier nicht auf „Einwohner/in der Stadt Berlin“ beziehen. Die einzige Alternativinterpretation für Berliner sei „mit Marmelade gefülltes rundlich-plattgedrücktes Backwerk“.
Nun wäre, mit oder ohne Artikel, ohnehin kein Berliner auf diese Interpretation gekommen, denn – man kann es nicht oft genug erklären – die betreffenden Backwaren werden in Berlin nicht als Berliner sondern als Pfannkuchen bezeichnet (das, was man andernorts Pfannkuchen nennt, heißt in Berlin dann Eierkuchen). Aber die grammatische Grundlage des Pfannkuchenmythos ist ohnehin falsch.
Zwar ist es richtig, dass die Zugehörigkeit zu allgemein anerkannten Gruppen von Menschen – nicht nur bezüglich ihrer Herkunft, sondern auch bezüglich ihrer Berufe, Hobbies, Religion, u.a. – normalerweise durch einen Kopulasatz ohne Artikel ausgedrückt wird: Ich bin __ Sprachwissenschaftler, ich bin __ Blogger, ich bin __ Biertrinker, ich bin __ St.-Paulianer usw. In dem Satz Ich bin Berliner kann Berliner deshalb tatsächlich nur schwer als „Pfannkuchen“ interpretiert werden (außer, wenn ein Pfannkuchen das sagt).
Das macht aber den Kopulasatz mit Artikel weder ungrammatisch, noch schränkt es die Interpretation von Berliner auf „Pfannkuchen“ ein. Wir verwenden diese Variante überall da, wo wir uns nicht einer allgemein anerkannten Gruppe zuordnen, sondern uns (häufig subjektiv) gewisse Eigenschaften zuschreiben wollen – z.B. ich bin ein Feinschmecker, ich bin ein Wunderkind, ich bin ein Rockstar, ich bin ein Schlitzohr usw.
Das zeigt sich auch daran, dass durch Adjektive modifizierte Gruppenbezeichnungen typischerweise die Variante mit Artikel erfordern: Ich bin Berliner, aber ich bin ein netter Berliner, ich bin Biertrinker, aber ich bin ein durstiger Biertrinker, ich bin St.-Paulianer, aber ich bin ein enttäuschter St.-Paulianer. Denn damit ordne ich mich nicht mehr vorrangig einer Gruppe zu, sondern beschreibe meine Eigenschaften. Wenn eine Kombination aus Adjektiv und Substantiv eine allgemein anerkannte Gruppe bezeichnet, kann sie aber wieder ohne Artikel stehen. So kommen Minimalpaare wie Ich bin ausgezeichneter Blogger (d.h., ein Blogger, der eine Auszeichnung erhalten hat) und ich bin ein ausgezeichneter Blogger (d.h., jemand, der ausgezeichnet bloggen kann) zustande (in meinem Fall stimmen, Sie haben es sich wahrscheinlich schon gedacht, beide Aussagen).
Nun wollte Kennedy ja aber eben nicht behaupten, dass er einen Wohnsitz in Berlin habe oder dass er – ohne dass die Welt bislang davon wusste – eigentlich in Berlin zur Welt gekommen sei. Genau das aber würde Ich bin Berliner bedeuten. Was er tatsächlich behaupten wollte, war, dass er eine (vermeintlichen) Eigenschaft der Berliner teilt – und damit meinte er nicht ihre Unfreundlichkeit oder ihre Überzeugung, besonders Schlagfertig zu sein, sondern ihre (vermeintliche) Freiheitsliebe:
All free men, wherever they may live, are citizens of Berlin, and, therefore, as a free man, I take pride in the words “Ich bin ein Berliner.”
Wenn man Kennedy kritisieren wollte, Anlässe gäbe es ja mehr als genug. Aber die Grammatik und die Bedeutung seines (zumindest in Deutschland) berühmtesten Satzes gehören nicht dazu.
Ich habe mir gerade vorgestellt, Kennedy hätte gesagt “Ich bin Berliner.” — interessanterweise hört sich das für mich nicht so nachdrücklich an wie “Ich bin ein Berliner.” Letzteres impliziert für mich stärker, damit auch zu sagen “Ich in einer von euch (Berlinern).” Vielleicht aber lediglich umgangssprachliche Wahrnehmung.
Ich finde es zwar anstrengend, aber gleichzeitig faszinierend, was für ein verbreitetes Phänomen diese längst widerlegte Legende im englischsprachigen Raum ist. Der Wunsch, dass die Geschichte wahr wäre, muss wirklich mächtig sein!
Bei Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Ich_bin_ein_Berliner) habe ich gelesen, dass der Begriff “Berliner” für das Gebäck in den 60er Jahren sogar weitgehend unbekannt gewesen sei — leider steht das dort ohne Quellenangabe. Dass es gerade in Berlin nicht Berliner, sondern Pfannkuchen heißt, ist ja in Deutschland — so jedenfalls mein Eindruck — eines der bekannteren Beispiele für regionalspezifische Bezeichnungen, und so wissen wohl heute auch die meisten Leute aus Berlin, dass es anderswo Berliner heißt, auch wenn sie das selbst nicht sagen. Über die Verbreitung dieses Wissens im Jahre 1961 wüsste ich jetzt gerne mehr…
Es ist doch ein beliebter Trick von Sprachnörglern, tatsächliche oder behauptete Grammatikfehler oder Anglizismen zu kritisieren, indem sie abwegige “Missverständnisse” konstruieren, auf die kein vernünftiger Mensch je kommen würde.
Als ob irgend ein Zuhörer ernsthaft auf die Idee gekommen wäre: “Hoppla, der verwendet den unbestimmten Artikel, der muss ein Süßgebäck meinen.”
Pingback: Verlinken und andere schreiben lassen IV: Ich bin ein Pfannkuchen | I have recently become happy and I find it over-rated
@Piet
Es gibt da einen Witz, der in etwa so geht: “Why the hell did Kennedy say ‘I’m a donut’?”