Wales in Worten

Von Susanne Flach

Ich war let­ztens kurzentschlossen eine Woche in Wales. Ein paar lin­guis­tis­che Ein­drücke sind erwäh­nenswert — ein klein­er Feldforschungsbericht.

Wales brüstet sich mit dem “läng­sten offiziellen Ort­sna­men der Welt”, der — man ahnt es — vor über 100 Jahren kün­stlich erschaf­fen wurde, um den Touris­mus anzukurbeln. Offen­bar prof­i­tiert man immer noch davon, obwohl ich beto­nen möchte, dass sich Llanf— (flamin’ hell!) nicht auf mein­er To-See-Liste befand (genaugenom­men befand sich nichts auf der Liste). Llanfairpwll­gwyngyllgogery­chwyrndrobwll­llantysilio­gogogoch befind­et sich auf der Insel Angle­sey im Nord­west­en Wales. Oder anders: Auf der Zugstrecke zwis­chen Ban­gor und Holy­head. Und hätte ich nicht aufgepasst, wäre Llan­fair­pw– an mir vor­beig­er­auscht. (Ken­nen Sie die “request stops” bei Bussen? Ja? In angel­säch­sis­chen Län­dern, wo man den Arm ausstreck­en muss, um den Bus her­anzuwinken? In Wales gilt das aufm Land auch für Züge.)

Nun denn, es gibt tausend Web­seit­en, die eine unge­fähre Entsprechung des Ort­sna­men haben, ich hab mich mit einem ver­gle­ich­sweise ordentlichen Online-Wörter­buch mal dran ver­sucht, ein Gloss zu erstellen — aber ich muss dazu sagen, dass mir das nur lei­dlich gelingt, da ich von keltischen Sprachen an sich wenig Ahnung habe (und sich Wal­i­sisch von Irisch und Scots Gael­ic dann doch deut­lich unter­schei­det, s.u.):

Llan- fair- pwll- gwyn- gyll- go- ger- y- chwyr- n-
village/
parish
pool white hazel rather near the rapid  ?
drob­wll- llan- tysilio- go- go- goch
whirlpool village/parish (St. Tysilio) cave (?, ogof-) red

All­ge­mein wird eine Über­set­zung so angegeben:

the church of St Mary of the white hazel pool very near the fierce whirlpool in the parish of St Tysilio of the red cave
(Brake 2010: x)

Die Kirche der heili­gen Maria in ein­er Mulde weißer Haseln direkt in der Nähe eines wilden Strudels in der (Pfarr-)Gemeinde von St Tysilio mit der roten Höhle.”

Bevor jet­zt jemand in die Welt zieht und von der “unglaublich kom­plex­en wal­i­sis­chen Sprache” erzählt — diese Art der Wort­bil­dung ist, so wage ich zu behaupten, auch im Deutschen möglich (ich habe ja nie ver­standen, warum Rothen­burg ob der Tauber so gut wie nie abgekürzt wird). Gäbe es im Schwarzwald noch Platz für Touris­ten, wäre ich mir sich­er, dass jemand auf die Idee kom­men kön­nte, Post(er)karten mit “I’ve been to Der­seeneben­dem­großen­bergmit­seinen­wilden­blu­me­nund­seine­nunglaublich­schwarzen­bäu­menin­derge­meind­edesheili­genchristkönigs” zu drucken.

Llan­fair­p­wll­gwyn— scheint zumin­d­est soviel Sinn zu machen, dass es Wal­i­sis­chsprachi­gen auch zu fort­geschrit­ten­er Stunde noch möglich ist, den Ort­sna­men unfall­frei auszus­prechen (mono­lin­gualen Walis­ern gelang dies in einem sorgsam kon­trol­lierten Kon­troll­ex­per­i­ment nicht).

Was Wal­i­sisch für uns aber dann doch ganz exo­tisch erscheinen lässt, ist die auf den ersten Blick ungewöhn­liche Häu­fung an Kon­so­nan­ten: Mor­phem­gren­zen hin oder her, aber bere­its die eigentliche Orts­beze­ich­nung Llan­fair­p­wll dürfte aus­re­ichen, von einem Zun­gen­brech­er zu sprechen. Ein­er­seits ja, da der Digraph <ll> nicht das Phonem /l/ darstellt, son­dern /ɬ/, ein stimm­los­er lat­eraler alve­o­lar­er Frika­tiv (an dieser Stelle kom­men Ihnen Klin­go­nis­chken­nt­nisse zugute!). Ein ein­fach­es wal­i­sis­ches Sprachkurs­buch würde Ihnen jet­zt rat­en: Zunge wie zu einem ‘l’ anle­gen, dann die Luft durch­pusten, also irgend­wo eine Mis­che aus unserem ‘l’ und ‘ch’ (wie Bach). Es bleibt ein Zun­gen­brech­er — oder hab ich zu viel versprochen?

Der zweite, offen­sichtlichere Grund für den Zun­gen­brech­er ist, dass <w> in den meis­ten Fällen die Phoneme /u:/ und /ʊ/ repräsen­tiert (‘langes’ bwz. ‘kurzes’ u), sel­tener auch ein Phonem ähn­lich dem Englis­chen /w/, und deshalb zu den Vokalen zählt. Damit ist die Ver­wand­schaft von <pwll> zu [pu:l] ‘pool’ dann nicht mehr ganz so so wirk­lich weit weg. Auch im Englis­chen spricht man bei /w/ phonetisch von einem Hal­b­vokal (semi-vow­el), da [w] in der Artiku­la­tion der von Vokalen ähnelt, pho­nol­o­gisch aber nicht-vokalis­che Eigen­schaften aufweist.

Das wal­i­sis­che Alpha­bet kommt ohne <k>, <q>, <v>, <x>, und <z> aus, hat darüber hin­aus noch die Digraphen <dd>, <ff>, <ng>, <ph>, <rh> und <th>, die neben <ch> und <ll> als, hm, Einzel­buch­staben gel­ten (ähn­lich wie <ij> im Nieder­ländis­chen). Das tut <ch> im Deutschen nicht (obwohl nur einen Laut repräsen­tierend) und wir schreiben <ch> in Kreuz­worträt­seln in zwei Kästchen. (Digraphen im Wal­i­sis­chen haben übri­gens auch Auswirkun­gen darauf, wie Wörter im Wörter­buch ste­hen.) <f> und <ff> repräsen­tieren im wal­i­sis­chen zwei Phoneme — <ff> entspricht dabei /f/ und <f> dem Englis­chen /v/, also etwa wie bei wife-wives; <ng> gilt für wal­i­sis­che Kreuz­worträt­sel­fre­unde und Lexikon­schreibern als ein Buch­stabe, entspricht dem /ŋ/im Englis­chen oder im Deutschen. <dd> ist ein ’stimmhaftes th’ (that), <th> das stimm­lose Pen­dant (thing).

Mehrere Walis­er haben mir ver­sichert, dass Wal­i­sisch eine ver­gle­ich­sweise phonetis­che Sprache ist, das heißt, dass man fast alles (so) ausspricht, wie man es schreibt. Ver­glichen wom­it ist dabei aber immer die entschei­dende und sel­ten gegebene Zusatz­in­for­ma­tion. Ver­glichen mit Englisch trifft das wohl zu (ver­glichen mit Irisch erst recht). Die Ein­fach­heit der Aussprache behauptet auch Brake (2010: x), aber die will ihr Sprach­lehrbuch verkaufen, welch­es sich ob der Reich­weite von Wal­i­sisch wohl über­wiegend an Walis­er, englis­chsprachige Ein­wan­der­er und/oder von Sprach­bil­dungspoli­tik miss­brauchte Briten wen­det. Da kann ich in der Ein­leitung schlecht schon damit losle­gen, dass es zusät­zlich zur exo­tisch anmu­ten­den Anlaut­mu­ta­tion noch stimm­lose Nasale /m̥/, /n̥/ und /ŋ̊/ gibt (Mor­ris-Jones 1953[1921]). Williams (1994) kommt dann fürs Wal­i­sis­che auf 51 Phoneme — zum Ver­gle­ich: Englisch und Deutsch haben jew­eils (je nach Auf­fas­sung und Zählweise) etwa 44. Wenn man aber dieser Tabelle einiger­maßen Glauben schenken kann, kommt Wal­i­sisch sog­ar auf bis zu 58.

Haha! Und plöt­zlich sieht Wal­i­sisch mit seinem schnuck­li­gen Alpha­bet aus zwanzig Mono­graphen und acht Digraphen gar nicht mehr so phonetisch aus. Nun ist es wohl so, dass im Wal­i­sis­chen jedes Graphem tat­säch­lich aus­ge­sprochen wird — wom­it es sich natür­lich ein­fach­er gestal­tet, sich an der Schrift ent­langzuhangeln, wenn man die Sprache ler­nen möchte bzw. eine bessere Vorstel­lung davon haben kön­nte, wie ein unbekan­ntes Wort aus­ge­sprochen wird. Im Ver­gle­ich zu Englisch (<draught> als [drɑːft], aber <drought> als [draʊt]) oder Irisch (<thab­hairt> als… okay, lassen wir das, aber ich finde, es klingt n büschen wie ‘heart’) stimmt die Auf­fas­sung ver­mut­lich weitgehend.

(Ein unter­halt­samer und infor­ma­tiv­er Kom­men­tar zur Graphem-Phonem-Kor­re­spon­denz find­et sich übri­gens bei Kristin.)

Weit­er oben schrieb ich, dass Wal­i­sisch von Irisch und Schot­tisch-Gälisch rel­a­tiv weit weg ist, obwohl alle drei Sprachen zur keltischen Sprach­fam­i­lie gehören. Während sich Sprech­er des Irischen und Schot­tisch-Gälis­chen mit etwas gutem Willen ver­ste­hen kön­nen, ist das zwis­chen Schot­tisch-Gälisch und Irish auf der einen und Wal­i­sisch auf der anderen Seite nicht möglich. Denn nur weil Sprachen ver­wandt sind, muss das nicht heißen, dass sich Sprech­er ver­ste­hen kön­nen (etwa wie Deutsch und Englisch). Wal­i­sisch gehört mit Kor­nisch und Bre­tonisch zu den Bri­tan­nis­chen Sprachen, während Schot­tisch-Gälisch und Irisch mit Manx zu den Goidelis­chen Sprachen gehören. (Zu einem Überblick der Klas­si­fizierung hier entlang.)

Mir war aber noch was anderes aufgefallen.

In Wales ist die Sprache all­ge­gen­wär­tig. Nahezu alles ist zweis­prachig aus­geschildert und benan­nt. Straßen­schilder, Zug­durch­sagen, Baustel­len­hin­weise, Wer­bung in jed­wed­er Form, Buss­childer, Restau­ran­tkarten, Kasse­nau­to­ma­te­nanzeigen, Lebens­mit­tel, Ver­pack­un­gen — im Prinzip alles, was in Wales pro­duziert wird und nicht aus Eng­land oder sonst­wo importiert ist oder dor­thin exportiert wird (sog­ar aufwändigst hergestellte Schilder und Poster bei Marks & Spencer). Ich sage mal: das macht das Sprachen­ler­nen wirk­lich denkbar ein­fach: so war’s mir beispiel­sweise möglich, bere­its nach dem zweit­en Schild den typ­is­chen Plu­ral­mark­er -au auszu­machen: toiled/toilet > toiledau/toilets.

In Pubs, Cafés und Bussen wird häu­fig kaum Englisch gesprochen — zugegeben, diese Ein­schätzung beruht auf meinem Urlaub in Zen­tral- und Nord­wales, in Süd­wales oder in größeren Städten ist die Sit­u­a­tion auch mal englis­ch­er. Span­nend fand ich aber so Insel­beobach­tun­gen, dass Gespräche unter Frem­den häu­fig auf Englisch begin­nen, beispiel­sweise in Cafés und Kiosken. Irgend­wo in den ersten Sätzen müssen sie aber so n Code ver­steckt haben, denn irgend­wann wech­selt man ziem­lich unver­mit­telt ins Wal­i­sis­che. Der Zeit­punkt dieses Wech­sels nähert sich zeitlich immer stärk­er der Begrüßungs­formel, je weit­er nord­west­lich man fährt. In Caernar­fon passierte es mir sog­ar, dass mich jemand auf der Straße auf Wal­i­sisch ansprach.

Laut Volk­szäh­lun­gen und Stu­di­en sprechen etwa 20% der Walis­er wal­i­sisch zumin­d­est “ordentlich” (fair, was immer das heißen mag). Das ist für die inselkeltischen Sprachen ein beina­he phänom­e­naler Wert. In Schot­t­land sind es weniger als 2% (hier sind aber wohl Mut­ter­sprach­ler gemeint). In Irland sind der­ar­tige Umfra­gen notorisch schw­er vom Ein­fluss des Nation­al­stolz der Iren zu tren­nen und davon, dass jed­er Ire Irisch als Zweit‑, de fac­to aber nur als Fremd­sprache ler­nen muss. Die (Selbstein)Schätzungen der Iren liegen deshalb tra­di­tionell irgend­wo zwis­chen 70,000 (Mut­ter­sprach­ler) und 1,8 Mil­lio­nen — wobei meist genügt, auf Irish sagen zu kön­nen, dass man auf Klo muss, um durch die Sekun­darstufe zu kom­men und sich als Irischsprech­er zu beze­ich­nen. Die niedrigere Zahl erscheint deshalb im Ver­gle­ich zu den Zahlen aus Schot­t­land und Wales real­is­tis­ch­er und entspricht somit eben­falls etwa 2% (1,7 Mil­lio­nen entsprächen fast 40%). Die Unter­schiede sind nicht ein­fach zu inter­pretieren: denn wenn in der Umfrage in Wales “flu­ent or fair speak­er” von 21% mit “ja” beant­wortet wird (der Link zur Studie im Wikipedia-Artikel ist lei­der tot, aber beim UNHCR wird zusam­menge­fasst und aufgeschlüs­selt: 16% “read, write and speak it”, 8% “with less pro­fi­cien­cy”), in Irland aber gefragt wird, “how often do you speak Irish?”, dann wer­den hier zwei völ­lig ver­schiedene Sachver­halte abge­fragt. Die Zahlen sind also zu ver­wirrend — mein Ein­druck aus ein­er Woche ist aber, dass ich per­sön­lich mit mehr Walis­ern gesprochen habe, die untere­inan­der Wal­i­sisch sprachen, als mir in drei Jahren Irish Pub Irischsprechende übern Weg gelaufen sind.

Und soweit ich informiert bin, gibt es in Wales keine offiziellen Schutzge­bi­ete, die den irischen Gaeltacht entsprechen wür­den — obwohl unter­schiedlich stark ist die Sprache flächen­deck­end recht lebendig.

Nicht nur deshalb: Wales war nett, ist ne Reise wert!

Literatur

Brake, Julie. 2010. Com­plete Welsh. Hod­der Arnold.

Mor­ris-Jones, J. 1953[1921]. An Ele­men­tary Welsh Gram­mar. Oxford/Claredon Press.

Williams, Briony. 1994. Welsh let­ter-to-sound rules: rewrite rules and two-lev­el rules com­pared. Com­put­er Speech and Lan­guage 8: 261–277. [Link zu ein­er Onlineversion] 

4 Gedanken zu „Wales in Worten

  1. Kai

    Dass Sprach­lehrbüch­er nicht immer die Ein­fach­heit der Aussprache der zu ler­nen­den Sprache behaupten müssen, habe ich als Bohemist oft erfahren. Mir sind einige Tschechis­chlehrbüch­er untergekom­men und in den aller­meis­ten kommt ziem­lich früh der zwar sin­n­arme, aber gram­ma­tisch kor­rek­te und voll­ständi­ge Satz “Strč prst skrz krk” vor. Das ist wohl eine absichtliche Schock­ther­a­pie, die zum frühen Aussieben dient: Wer sich davon nicht abschreck­en lässt, den schockt auch später nichts mehr. Wer diese Hürde hinge­gen nicht hin­nehmen kann oder will, der sollte sich dann vielle­icht eine andere Sprache suchen…

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    1. suz Beitragsautor

      Hm ja, Strč prst skrz krk dürfte den gewün­scht­en Effekt haben. Erin­nert mich spon­tan an: US deploys vow­els to Bosnia (The Onion, 1992?). Man kann also so oder so ver­suchen, seine Büch­er zu verkaufen.

      (Btw — hast du ein Gloss zu Strč prst skrz krk?)

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  2. Pingback: blogspektrogramm, die fünfzehnte (juni 2012) « lexikographieblog

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