Die amerikanische Linguistin Gabe Doyle diskutiert in ihrem immer sehr lesenswerten Blog Motivated Grammar in einem Beitrag “Is speaking the language all it takes to be an expert?” die Frage, warum die Tatsache, dass man eine Sprache als Muttersprache spricht, nicht immer ausreichend ist, über den allgemeinen Gebrauch derselben zu sinnieren. Damit spricht sie — vereinfacht gesagt — einen der Gräben an, die zwischen Sprachwissenschaft und öffentlicher Meinung (über Sprache) liegen. Das geht so: A hat zwar muttersprachliche Kompetenz, aber keine Expertise von sprachlichen Prozessen und sagt, dass es Phänomen Y entweder nicht gibt oder falsch ist. Experte B präsentiert Belege für die systematische Verwendung von Phänomen Y.
Robert Tonks ist nach quasi-eigenen Angaben “der älteste Waliser zwischen Rhein und Ruhr”. Ein Brite also, mutmaßlich Muttersprachler des Englischen. Im September hat er ein Buch über Englisch in der deutschen Sprache veröffentlicht (It is not all English what shines). Dort analysiert er englische Werbesprüche im Deutschen, (rück)“übersetzt” diese und macht sich dementsprechend und in der Summe über Deutsche (Werber) lustig.
Nun möchte ich mir das Buch nicht kaufen. Aber ein Journalist der Zeitung “Der Westen” hat uns den Gefallen getan, ausführlich über die Publikation der angeblich so falschen Verwendung von Englisch im Deutschen zu berichten.
Unter der Annahme, dass die (Ursprungs-)Bedeutung völlig wurscht ist, wenn (und in welcher Form) wir ein Wort in unsere Sprache aufnehmen, können wir uns hier Frage zuwenden: Reicht es aus, wenn Tonks glaubt, die angesprochenen Wortverwendungen gebe es in seiner Muttersprache nicht? Das Irritierende bei Tonks ist, dass er als Muttersprachler irgendwie als gesicherte Instanz gesehen werden könnte.
In einer mehrteiligen Serie werde ich also die dort angeprangerten Anglizismen mit dieser Fragestellung unter die Lupe nehmen. Denn was Tonks von allen anderen Nörglern unterscheidet: 1) Er ist Muttersprachler — und die Argumente der Debatte sind ja besonders oft mit “wir machen uns vor (englischen) Muttersprachlern lächerlich” unterfüttert. 2) Man muss Tonks fast zu Gute halten, dass er neue Beispiele jenseits von Servicepoint, Backshop oder Wellness in den Ring geworfen hat. Frischer Wind in einer Debatte, die fast im Untergang begriffen war — jetzt, wo auch noch der Body Bag gestorben ist.
Teil I: PEARLS & DENTS
Der Artikel macht mit einem Bild der Zahnpasta “Pearls & Dents” auf — und kommentiert wird es mit “übersetzt bedeutet das eigentlich ‘Perlen und Beulen’ — autsch.”
Ja, autsch.
Wörter können mehr als eine Bedeutung haben. Das ist nix Neues. Im Englischen (und im Deutschen übrigens auch) haben wir das Adjektiv dental (der OED listet es auch als Nomen[1. “dental, adj. and n.”. OED Online. September 2011. Oxford University Press. 30 November 2011 <http://www.oed.com/view/Entry/50041?redirectedFrom=dental>.]). Die Vermutung ist nicht besonders weit hergeholt, dass das Adjektiv für ‘Dents & Pearls’ Modell gestanden hat. Außerdem sehen wir ja auch im Deutschen, dass bei Adjektiven auf -al durch Abtrennen des Suffixes die Nomen übrig bleiben: national, funktional, orchestral (Canoo.net[2. http://www.canoo.net/services/WordformationRules/Derivation/To‑A/Suffixe‑F/al.html]) — dafür braucht’s noch nicht mal Englisch- oder Linguistikkenntnisse.*
Was dent betrifft, listet der OED insgesamt drei Einträge als Nomen, jeweils mit einer ganzen Anzahl an Nebenbedeutungen. Im ersten Eintrag (n1.) steht unter der ersten nicht-obsoleten Nebenbedeutung die Bedeutung dent1, die Tonks als die “richtige” ansieht, nämlich die der Beule. Hier geht dent auf das Altenglische dynt bzw. das Altnordische dyntr zurück [2. “dent, n.1”. OED Online. September 2011. Oxford University Press. 1 December 2011 <http://www.oed.com/view/Entry/50036>]. Bedeutung:
‘hollow or impression in a surface, such as is made by a blow with a sharp or edged instrument; an indentation’
[Vertiefung oder Prägung in einer Oberfläche, wie sie etwa durch einen Schlag mit einem scharfen oder kantigen Gegenstand verursacht wird; eine Einkerbung.]
oder deren Ursprungsbedeutung, die heute nicht mehr gebräuchlich ist:
’stroke or blow, esp. with a weapon or sharp instrument: usually a blow dealt in fighting’.
[Hieb oder Schlag, besonders mit einer Waffe oder einem scharfen Gegenstand: meist ein Schlag ausgeführt während eines Kampfes.]
Die Entwicklung zur heutigen Beule ist also nachvollziehbar.
Im zweiten Eintrag im OED, also zu dent2 - mit einer etwas später belegten Erstverwendung von dent - heißt es in Bedeutungsschattierung 1:
‘An indentation in the edge of anything; in pl. applied both to the incisions and the projections or teeth between them.’ [obs]
[Eine Einkerbung in der Kante eines Gegenstandes; im Plural bezogen auf die Einschnitte und Ausbuchtungen oder Zähne im Zwischenraum.]
und in Schattierung 2:
A tooth, in various technical uses.
Als Beispiele dieser technischen Verwendungen werden aufgeführt: Zacken in Webstühlen und in Zahnrädern oder Uhrwerken. Also das was wir auch im Deutschen als Zahn bezeichnen können. Etymologisch wird angemerkt, dass es vom Französischen dent ‘Zahn’ kommt:
Etymology: < French dent tooth; but sense 1 perhaps originated as an extension of sense 4 of dent n.1, under the influence of the French word, or of indent and its family. [3. “dent, n.2”. OED Online. September 2011. Oxford University Press. 30 November 2011 <http://www.oed.com/view/Entry/50037>.]
[Französisch dent ‘Zahn’; aber Bedeutung 1 entstand vielleicht als Erweiterung von Bedeutung 4 von dent n.1. unter dem Einfluss des französischen Worts oder dem von indent ‘Einrückung/Ausbuchtung’ und seiner Wortfamilie.]
Das Interessante dabei ist: Die Herausgeber des OED sind sich nicht sicher, ob sich die Bedeutungen ‘Beule’ (germanischer Ursprung) und ‘Zahn’ (lateinisch/französischer Ursprung) komplett unabhängig voneinander entwickelt haben. Die Fragen wären: ist dent2, dessen Bedeutung mit Zähnen im technischen Sinn zu tun hat, in Teilen eine Erweiterung der ersten Bedeutung dent1, die auf Altenglisches bzw. Altnordisches Material zurück geht? Oder sind die beiden mehr oder weniger zufällig Homonyme, haben also bei gleicher Form unterschiedliche, miteinander nicht verwandte Bedeutungen?**
Halten wir fest: wenn dent im Englischen reflexartig als ‘Beule’ interpretiert wird, dann liegt das zunächst daran, dass dent ‘Beule’ vermutlich die häufigere Verwendung ist (wobei die Hypothese erlaubt sein muss, dass dent im Zusammenhang mit Zahnpflege doch eher als ‘Zahn’ wahrgenommen wird).
Es heißt also nicht, dass dent nicht auch ‘Zahn’ bedeuten kann. Im Englischen, aber vereinzelt auch im Deutschen, haben wir es oft, dass die Adjektive auf lateinisches Lehngut zurückgehen, bei den entsprechenden Nomen sich aber die germanischen Elemente bewahrt haben. Besonders auffällig ist das in recht elementaren Lexikoneinträgen des täglichen Sprachbedarfs (Grundwortschatz). Beispiele sind sun vs. solar, moon vs. lunar, hand vs. manual, foot vs. pedal oder brother vs. fraternal.
Aber da die ganze Etymologiereise natürlich für den heutigen Gebrauch nicht hinreichend ist (Gefahr des “etymologischen Fehlschlusses”) und ich die nicht-obsolete Bedeutung von dent2 im OED für mein eigenes Sprachgefühl zu mickrig fand, habe ich die Bedeutung im Merriam-Webster nachgeschlagen. Unter 3dent, dem zweiten Eintrag für ein Nomen, heißt es lapidar: TOOTH.
Auch das sagt noch nichts über die Frequenzgefälle zwischen dent1 und dent2 im tatsächlichen Sprachgebrauch aus. Also habe ich nach ‘dent’ auf .uk-Seiten gesucht — da findet man eigentlich nur Treffer zu dent1. Kaum überraschend. Sucht man aber nach ‘dent+tooth’ sieht das ganz anders aus: DENT ist ein beliebtes Wortbildungselement in — obächtle! — der britischen Werbesprache. Eine Fülle an Produkt- und Firmennamen haben ziemlich offensichtlich nicht dent1 im Sinn: Eco Dent, Rota Dent, AloeDent, Smile Dent, AcceleDent, Medical Dent, Swiss Dent Crystal Coating oder ValueDent, für Hundeliebhaber gibt’s Nutri Dent und für britische Medizintouristen nach Polen Kor-Dent. Ok, ich glaube, das reicht — die können unmöglich alle für Deutsche in Großbritannien kreiert worden sein.
Fazit für Teil I der Fragestellung: wenn der Muttersprachler nicht alle Bedeutungen eines Begriffs parat hat, ist das nicht tragisch, sondern oft normal. Etymologische Kenntnisse sind für den heutigen Allerweltssprachgebrauch irrelevant. Problematisch wird es erst, wenn der Muttersprachler einer durchaus üblichen Verwendung in einem bestimmten Kontext eine Lächerlichkeit andichtet. Und erst recht dann, wenn er sich damit über den Sprachgebrauch seiner Mitmenschen lustig macht.
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*Das ist nicht wirklich sauber argumentiert: genau genommen werden hier keine Suffixe abgetrennt, sondern der regelmäßige Wortbildungsprozess wickelt sich in der Mehrzahl über das Hinzufügen von Suffixen ab, also hier nation > nation+al.
**Lassen wir hier die mögliche Perspektive außen vor, dass die Bedeutungen ‘Kuhle’, ‘Zacken’ oder ‘irgendwas dazwischen’ doch nicht so ganz unabhängige semantische Assoziationen wecken. Denn viele heutige Homonyme sind etymologisch sehr wohl miteinander verwandt und somit sprachhistorisch gesehen Fälle von Polysemie.
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Aus dieser Reihe:
Noch mehr Beulen für Athen (Teil II: Live Cooking)
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Edit: Ich habe den Namen des Autors mehrfach falsch geschrieben. Danke für den Hinweis, ich habe es berichtigt und: es tut mir ehrlich leid.
Müsste sich ein dentist der Tonk’schen Sprachauffassung zufolge nicht mit Beulen beschäftigen?
Grundsätzlich wird bei der Denglisch-Kritik von Muttersprachlern und von denen, die sich auf Muttersprachler berufen, zweierlei verkannt:
1. Niemand kennt seine Muttersprache in sämtlichen Varietäten auch nur annähernd zu 100%. Deshalb heißt der Dauerbrenner public viewing eben nicht nur öffentliche Aufbahrung, auch wenn viele US-Amerikaner nur diese Bedeutung kennen.
2. Wenn jemand lange im Ausland lebt, ist er / sie trotz des Informationszeitalters anscheinend von der Sprachentwicklung im Mutterland abgekoppelt. Ich hatte mal eine Debatte mit einem Engländer aus Stuttgart, der behauptete, fitness studios gebe es im UK nicht, sondern nur gyms. Das Internet sagt was anderes.
Zu dentist: Jein. Natürlich wüßten die Tonks dieser Welt, dass es sich im Englischen bei -ist um ein Agenssuffix handeln kann. Diese Art der Wortbildung (Ableitung) ist bei dentist nicht vollständig transparent, weil es eben häufiger um tooth geht und nicht um dents. Dentist ist in der Bedeutung aber soweit lexikalisiert und konventionalisiert, dass es im Normalfall den Zahnarzt bezeichnet.
Zum Public Viewing: Genau so isses. Und es ist sogar ziemlich egal, ob Amerikaner darunter was anderes verstehen (noch nicht mal das tun sie, wenn ich mich richtig entsinne, obwohl sie es auch für öffentliche Aufbahrung nutzen).
Zu 2.: Genau das scheint Tonk auch zu widerfahren. Aber es trifft natürlich auch Sprecher, die noch im entsprechenden Land leben, vielleicht nicht so ausgeprägt. Danke fürs fitness studio - ich werde mich demnächst mal mit einem anderen Dauerbrenner dieser Kategorie, wellness, beschäftigen.