Hm, ja. Bei mir im Seminar ist das erst letzte Woche wieder passiert, und ich war ein wenig hilflos – im sechsten Semester und nach zahlreichen Pflichtveranstaltungen in der Linguistik müsste man es eigentlich besser wissen.
Aber worum geht es?
Wir sind enorm schriftfixiert, was bei sprachwissenschaftlichen Laien oft dazu führt, dass sie nicht unterscheiden, was Schreibung ist und was nicht.
So habe ich zum Beispiel schon von Studierenden gehört, dass man früher <Taxen> geschrieben habe, jetzt aber zunehmend <Taxis> schreibe. Das hat aber mit der Schreibung nichts zu tun – sie bildet nur einen Wandel ab, der sich auf einer anderen Ebene vollzogen hat: Aus einer Art der Pluralbildung (auf -en am Wortstamm) wurde eine andere (auf -s an der Grundform). Auch ganz leicht zu merken daran, dass dieser Unterschied auch bestehen bleibt, wenn man sich nicht die Schreibung anschaut, sondern das Wort gesprochen hört.
Dagegen ist so etwas wie <Delfin> statt <Delphin> ein reines Schreibphänomen, an der Grammatik ändert sich da nichts. Dennoch waren in den heißen Zeiten der Rechtschreibreform viele der Meinung, die Sprache an für sich werde verändert, also das Missverständnis-Gegenstück zu eben.
Die im Bild angesprochene Verwechslung ist nach meinem subjektiven Eindruck noch häufiger: Hier werden Buchstaben und Laute gleichgesetzt. Dass das so nicht funktionieren kann, merkt man spätestens, wenn man sich einzelne Beispiele anschaut:
Zunächst einmal spricht man in der Linguistik gar nicht von Buchstaben, sondern von Graphemen. Dafür gibt es einen exzellenten Grund: Oft bilden nicht einzelne Buchstaben einen Laut ab, sondern Kombinationen aus ihnen. So steht <sch> für /ʃ/, <ck> für /k/, <ph> für /f/ etc. Dabei wären <s>, <c>, <h>, <k>, <p> die Buchstaben, aber <sch>, <ck> und <ph> die Grapheme. Wenn man über Schönschreibübungen spricht, sind erstere sinnvoll, aber wenn man über den Zusammenhang von Schrift und Lautung sprechen will, braucht man letztere.
Jetzt habe ich eben gesagt, dass Grapheme Laute (besser: Phoneme) abbilden. Das nennt man, je nach Richtung, Graphem-Phonem-Korrespondenz oder umgekehrt. Diese Korrespondenz ist im Deutschen allerdings oft nicht besonders gradlinig. So gibt es häufig mehrere Grapheme, die einem Phonem entsprechen: /s/ kann man schreiben als: <lassen>, <Spaß>, <Last>. Umgekehrt kann das Graphem <s> für das stimmlose /s/ (Last), für das stimmhafte /z/ (reisen) und sogar für /ʃ/ (Straße) stehen. Es gibt also in keine Richtung eine 1:1‑Entsprechung zwischen Graphemen und Phonemen.
Meine Studierenden hatten sich nun ein paar Seiten aus dem Mainzerischen Asterix angeschaut und dabei Beispiele wie die folgenden entdeckt:
Isch saach ’s zum letzte Mol: Halt doi Maul!
Alles fertischmache … zum Empfang!
Beschrieben wurde das mit »Im Mainzer Dialekt wurde <ch> zu <sch>«. Das ist schlicht falsch: Hier wurde ein Laut zu einem anderen, die Schreibung reflektiert das nur. Man hat nicht aus orthographischen Gründen angefangen, <ch> als <sch> zu schreiben, sondern deshalb, weil sich das Phonem geändert hat, das man aufschreiben wollte.
Hinzu kommt, dass nicht alle hochdeutschen <ch>-Schreibungen dialektal mit <sch> widergegeben werden: Während das für <isch> und <ich> klappt, haut es schon bei <mache> nicht mehr hin, es heißt nicht <masche>. Der Grund liegt darin, dass <ch> einem Phonem entspricht, das zwei bis drei unterschiedliche lautliche Realisierungsvarianten (“Allophone”) hat (– habe ich vor einer Ewigkeit mal ganz gründlich erklärt, hier):
- nach einem Vokal, der vorne im Mund gebildet wird (e, i, ö, ü) oder nach einem Konsonanten spricht man [ç] (mich, Milch, hecheln, …)
- nach einem hinteren Vokal (a, o, u) spricht man [x] (Bach, doch, Buch)
In unserem Fall werden nur die [ç]-Realisierungen zu /ʃ/, die [x]-Realisierungen werden beibehalten. Außerdem taucht oben noch ein zweites <sch> auf, in <fertisch>. Da wäre die Standardschreibung <fertig> mit <g>, hier entspricht dem [ç]-Laut also kein <ch>. Solche Dinge kann man, wenn man auf das Schriftbild zurückgreift, einfach nicht adäquat beschreiben.
Nach meiner Erinnerung war ein Vorwurf der Rechtschreibreformgegner, die Reform ändere nicht nur die Rechtschreibung, sondern darüber hinaus auch die Sprache (zum Beispiel, in dem man durch Auseinanderschreiben bisher zusammengeschriebener Wörter Wortartenzuordnung und sogar die Betonung ändert). Wer diesen Vorwurf vertritt, verkennt nicht den Unterschied zwischen Sprache und Schrift, er klagt ihn ein.
Zugegeben, die Getrennt- und Zusammenschreibung ist noch einmal ein ganz anderer Punkt. Im Zweifelsfallbereich gibt es widerstreitende Kriterien (“Wortbildungsprinzip” vs. “Relationsprinzip” bei Fuhrhop z.B.), die eine zufriedenstellende Lösung einfach nicht zulassen. Diese Probleme treten genau in den Fällen auf, in denen man sich auch sprachwissenschaftlich nicht sicher ist, ob die Einheiten Wortstatus haben oder nicht.
Für Laien, die sich seit dem Schreibenlernen nie mehr damit beschäftigt haben, was ein Wort ist (außer: “das, was zwischen Leerzeichen steht”), kommt diese Frage dann natürlich auf, wenn die Schreibung, und damit scheinbar auch der Wortstatus einer Einheit, geändert wird, was zu großer Verunsicherung führen kann.
Gestern hatte ich im meinem Polnischlehrbuch gelesen: “Der Stammauslaut ist der Buchstabe vor der Flexionsendung” und “Endungen sind die Buchstaben, die bei der Flexion an den Stamm gehängt werden”.
Hatte schon überlegt, an den Verlag zu schreiben, aber dann bekommt man als Antwort wahrscheinlich nur wieder: “unsere Produkte richten sich vornehmlich an Laien, deshalb richten wir uns nach dem alltäglichen Sprachgebrauch.”
Besonders im Polnischen mit seinen ganzen Digraphen ist die Definition als “der Buchstabe” ja besonders schräg.
Netter Kommentar vom Grammatologen Peter T. Daniels (“The World’s Writing Systems”): “I am more concerned about people who say “grapheme” instead of “letter”.
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Kürzlich fragte mich mein Sohn (5. Klasse), ob das Y ein Vokal oder ein Konsonant sei. Meine Antwort: Das Y ist ein Buchstabe. Buchstaben sind weder Vokale noch Konsonanten. Aber der Lautwert des Y ist meistens entweder ü oder i. Und das sind Vokale.
Damit hat er dann einen dicken Minuspunkt gesammelt, als er der Lehrerin erklärte, das Y sei ein Vokal und diese ex cathedra verkündete, es handele sich im Gegenteil um einen Konsonanten.
Skurrile Geschichte, aber leider sehr plausibel. Y taucht ja generell nur in Fremdwörtern auf, und da verhält es sich dann meist wie im System der Gebersprache — bei Yoga ein Konsonant, bei hybrid ein Vokal etc.
Würde mich mal interessieren, ob die Lehrerin sich das selbst zurechtgelegt hat, oder ob das wirklich irgendwo so behauptet wird.
Auf welchem Wege ist denn “Yoga” ins Deutsche gelangt? Vermutlich über das Englische; denn das “System der Gebersprache” Sanskrit beinhaltet ja keine lateinischen Buchstaben wie das Y.
Ja, wahrscheinlich Englisch oder Französisch (sagt das Pfeifer-WB).
Schade, habe Ihre Antwort erst jetzt gelesen.
Würden Sie sagen, dass die Erklärung, die ich meinem Sohn gegeben habe, stimmt? Ich kann keinen Fehler darin finden.
Zur Frage, ob die Lehrerin sich das zurechtgelegt hat: Ich erinnere mich noch an meine Grundschulzeit. Da hieß es auch, a, e, i, o, u seien Vokale, alles andere Konsonanten. Die Umlaute wurden nicht thematisiert.
Ein Bekannter, der auch Grundschullehrer ist, hat, als ich ihn darauf ansprache, auch ex cathedra verkündet, Y sei nunmal ein Konsonant und fertig. Auf eine Diskussion über Laute und Buchstaben ließ er sich nicht ein.
Ja, die Erklärung ist absolut korrekt und wird z.B. auch hier ähnlich gegeben. Ich habe mal ein wenig gegooglet, aber keine Hinweise darauf gefunden, dass in Materialien für GrundschullehrerInnen etwas anderes behauptet wird. Rätselhaft.
“under the spell of spelling” — davon scheinen aber selbst Phonetiker (!) nicht ganz frei zu sein. Mir fällt gerade auf, dass bei Auflistungen des deutschen Vokalinventars selten [ɐ] dabei ist, etwa bei Tabellen für die Frequenzen von F1 und F2. Dabei ist im Deutschen nun wahrhaftig ein eher wichtiger Vokal.
Hmja, da stellt sich halt, ähnlich wie bei Schwa und Glottisverschlusslaut, die Frage, ob es sich wirklich um ein Phonem des Deutschen handelt, oder nicht vielmehr um ein Allophon. Vgl. z.B. hier, detaillierter bei T. Alan Hall Phonologie, S. 71.
Natürlich sind die Phone [ɐ], [ʁ] und [χ] Allophone des Phonems /r/. Wie die Phonologen Vokale klassifizieren, weiß ich nicht; ich lese mich gerade erst allmählich in Phonologie ein und versteh’ offengestanden noch nicht recht, was die Phonologen umtreibt. Aber *phonetisch* ist [ɐ] aufgrund seiner akustischen und artikulatorischen Eigenschaften als Vokal klassifiziert; und in einem phonetischen Kontext, wenn es darum geht die akustischen Eigenschaften von Lauten aufzulisten, damit sie im Spektrogramm bestimmt werden können, dann müsste [ɐ] bei den Vokalen dabei sein.
(Aber danke für den Link!)
[Leider gibts Probleme mit den spitzen Klammern für Grapheme, deshalb noch einmal neu gepostet:]
Ich finde es super, dass hier einmal dieses Thema aufgegriffen wird. Gerade wenn man sich didaktisches Material anschaut, stößt man immer wieder auf diese Problematik!
Leider passiert aber die Vermengung von Laut– und Buchstabenebene nicht nur linguistischen Laien und Sprachdidaktiker’innen, sondern auch immer wieder uns Linguistinnen und Linguisten. Gerne wird schnell mal für die Nennung eines Lautes (Phonems) ein Buchstabe (ein Graphem) angegeben. (Dabei bleibt leider auch immer unklar, warum gerade dieses Graphem dann anstelle eines Phonems benutzt wird — die Graphem-Phonem-Beziehungen sind ja ein durchaus umstrittenes Thema in der Linguistik/Graphematik!) So passiert das auch leider immer wieder in diesem Blog und auch oben in diesem Text selbst: Zitat: “nach einem hinteren Vokal (a, o, u) spricht man [x] (…)” — Und man sieht auch gleich, dass das dann zu Fehlerhaftem führt: Ein Wort wie “euch” zeigt, dass diese Regel eben nicht nach dem VokalBUCHSTABEN “u” gilt, sondern nach dunklen (silbischen oder nicht-silbischen) VOKALEN.