[Buchtipp] Heike Wiese: Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht

Von Kristin Kopf

Heute will ich euch  Heike Wieses »Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entste­ht« empfehlen. Viele von euch wer­den in den let­zten Wochen in den Medi­en etwas zum The­ma aufgeschnappt haben – im Rah­men der Buch­pub­lika­tion wurde Frau Wiese oft inter­viewt und rezen­siert. Sie forscht und schreibt  näm­lich über ein The­ma, bei dem die Emo­tio­nen hochkochen und manchen beim Geifern der Schaum aus dem Mund schlägt: Über eine sprach­liche Vari­etät, die sie Kiezdeutsch nennt.

Kiezdeutsch ist eine Jugend­sprache, die sich in mul­ti­eth­nis­chen Wohn­vierteln beson­ders in Berlin, also z.B. Kreuzberg und Neukölln, her­aus­ge­bildet hat. Von anderen Jugend­sprachen unter­schei­det sie sich dadurch, dass sehr viele der SprecherIn­nen zwei- oder mehrsprachig aufwach­sen – aber nicht alle: auch ein­sprachig mit Deutsch aufgewach­sene Jugendliche benutzen Kiezdeutsch. Daher auch die orts­be­zo­gene Beze­ich­nung, in der Kiez als städtis­ches Wohnum­feld vorkommt.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Zu Beginn liegt der Fokus auf den sprach­lichen Merk­malen von Kiezdeutsch und auf ver­gle­ich­baren Vari­etäten in anderen europäis­chen Län­dern. Das ist, um es gle­ich zu sagen, der Teil des Buch­es, den ich nicht sooo toll fand (obwohl ich begeis­tert aufge­sprun­gen bin, als Wiese gle­ich auf den ersten Seit­en ganz en pas­sant erk­lärte, was Prä­ter­i­to­präsen­tien sind – das hat Stil!). Der Haupt­grund für mein Nicht­ganz­soglück­lich­seit mit dem ersten Teil ist die poli­tis­che Kom­po­nente, die per­ma­nent durch­scheint. Mit der ich dur­chaus sym­pa­thisiere, aber der hier, so finde ich, die lin­guis­tis­che Analyse unter­wor­fen wird.

Wiese will zeigen, dass es sich bei Kiezdeutsch wirk­lich um eine Vari­etät des Deutschen han­delt, und zwar um eine voll­w­er­tige Vari­etät, nicht um »schlecht­es Deutsch«. Unter anderem deshalb auch die Beze­ich­nung Dialekt. Dabei schießt sie m.E. etwas über das Ziel hin­aus: Sie betont bei allen Phänome­nen ganz beson­ders, wie gut sie sich in das gram­ma­tis­che Sys­tem des Deutschen ein­fü­gen bzw. wie sie darin schon angelegt seien. Dafür bietet sie zwar span­nende, aber eher anek­do­tis­che Evi­denz, wie zum Beispiel für die Artikel- und Prä­po­si­tion­slosigkeit bei Hal­tepunk­ten des öffentlichen Nahverkehrs (auch Stan­dard: Ich bin grad Alexan­der­platz, nur Kiezdeutsch: Ich bin grad Schule). (Mehr Beispiele zur Kiezdeutschgram­matik, auch mit Hör­beispie­len, find­et ihr auf dem Kiezdeutsch­por­tal.)

Hinzu kommt, dass oft auch eine Erk­lärung über Sprachkon­takt nahe­liegt, die manch­mal zwar erwäh­nt, aber eher abge­tan wird. Das liegt, denke ich, daran, dass das Pro­jekt von der ger­man­is­tis­chen Seite her kommt und daran, dass Wiese unbe­d­ingt zeigen will, wie deutsch Kiezdeutsch ist. Damit beschnei­det sich das Pro­jekt aber m.E. selb­st, ich fände es wirk­lich inter­es­sant, wenn für alle Phänomene, die als typ­isch deutsch beze­ich­net wer­den, auch alter­na­tive Erk­lärun­gen in Erwä­gung gezo­gen wür­den. (Z.B. Artikel­losigkeit und Post­po­si­tio­nen im Türkischen.) Wäre doch nicht schlimm, wenn ein paar der anderen im Kiezdeutschge­bi­et gesproch­enen Sprachen Kiezdeutsch bee­in­flussen wür­den. Ich kriege es irgend­wie nicht ganz zusam­men, dass die mul­ti­eth­nis­che Sprecherge­mein­schaft immer betont wird, aber die damit ein­herge­hende Mehrsprachigkeit als Fak­tor nur insofern mit­spie­len darf, als dass die Jugendlichen dadurch irgend­wie sprach­lich kreativ­er werden.

Den zweit­en Teil des Buch­es fand ich hinge­gen uneingeschränkt großar­tig. Hier geht es nun wirk­lich expliz­it darum, welchen abw­er­tenden Urteilen Kiezdeutsch aus­ge­set­zt ist und welche gesellschaftlichen Mech­a­nis­men dahin­ter­steck­en. Es geht also um die Wahrnehmung der SprecherIn­nen und um den Sta­tus von Vari­etäten und Dialek­ten. Wiese beze­ich­net Kiezdeutsch ja als deutschen Dialekt. Mir gefällt das nicht so gut, weil die Beze­ich­nung Dialekt all­ge­mein­sprach­lich eher für eine andere Gruppe von Vari­etäten ver­wen­det wird, die Basis­di­alek­te. (In der englis­chen Fach­tra­di­tion ist das allerd­ings anders, Wiese bezieht sich auf Trudg­ill.) Nun teilen sich Kiezdeutsch und die klas­sis­chen Dialek­te zwar viele Aspek­te (z.B. dass ihre SprecherIn­nen oft für unge­bildet gehal­ten wer­den), unter­schei­den sich aber zumin­d­est in einem, den ich recht wichtig finde: Kiezdeutsch ist eine Jugend­sprache. Wenn die SprecherIn­nen älter wer­den, hören sie irgend­wann auf, Kiezdeutsch zu sprechen, und ver­wen­den eine stan­dard­nähere Vari­etät ihres Reper­toires (die sie ja auch vorher schon die ganze Zeit beherrscht­en und in den gesellschaftlichen Kon­tex­ten, wo sie nötig war, benutzt haben). (Aber: Das ste­ht so nicht im Buch, das habe ich entwed­er ander­swo in einem Auf­satz von Wiese gele­sen oder bei einem Vor­trag gehört, das weiß ich grade nicht mehr ganz genau.)

Wieses Ver­wen­dung erschien mir bish­er immer recht pro­voka­tiv, und vielle­icht ist sie es auch, aber je weit­er ich im zweit­en Teil des Buch­es gele­sen habe, desto bess­er kon­nte ich sie ver­ste­hen. Sie beschreibt zunächst (toll, wie ich finde!), wie Stan­dard­deutsch ent­standen ist, und zwar mit Schw­er­punkt darauf, dass es sich hier­bei um den Sprachge­brauch der Mit­tel- und Ober­schicht han­delte. Dadurch kon­nte dieser Stan­dard schnell als sozialer Mark­er inter­pretiert wer­den, mit dem man sich abgren­zen kon­nte, und entsprechend erfuhren die Dialek­te eine Abw­er­tung. Wichtig ist hier also, dass eine Bew­er­tung von Sprech­weisen nie eine Bew­er­tung der Sprache per se ist, son­dern immer eine (soziale) Bew­er­tung ihrer SprecherIn­nen, bei Dialek­ten wie auch bei Kiezdeutsch.

Die näch­sten drei Kapi­tel haben dann eine gemein­same Struk­tur, in denen immer ein “Mythos” geschildert und dann mit der Real­ität kon­fron­tiert wird. Die drei Mythen besagen 1) Kiezdeutsch sei gebroch­enes Deutsch, 2) Kiezdeutsch sei ein Zeichen man­gel­nder Inte­gra­tion und 3) Kiezdeutsch sei eine Bedro­hung des Deutschen. Wiese entkräftet alle drei ele­gant – aber wie genau, das soll­tet ihr lieber selb­st lesen, ich will euch den Genuss nicht nehmen. Beson­ders wichtig dabei finde ich die Über­legun­gen zum Schul­sys­tem, das auss­chließlich auf bil­dungs­bürg­er­lichen Sprachge­brauch setzt.

Alles in allem ein kluges, abso­lut empfehlenswertes Buch, das mir viel Spaß gemacht hat!

Heike Wiese (2012): Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entste­ht. München: C.H. Beck.

[Hin­weis: Der Ver­lag hat mir ein kosten­los­es Rezen­sion­sex­em­plar zur Ver­fü­gung gestellt.]

16 Gedanken zu „[Buchtipp] Heike Wiese: Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht

  1. JJ

    Meine Lieblingsstelle aus der FAZ: »Eine auf Chan­cen­gle­ich­heit bedachte Schule müsste ger­ade die kul­turellen Fes­tle­gun­gen der höheren Schicht­en allen Schülern zugänglich machen.« Schön, dass gar nicht erst ver­schleiert wird, wes Geistes Kind der Autor ist.

    Wäre es vielle­icht möglich, mir das Rezen­sion­sex­em­plar auch mal kosten­los zur Ver­fü­gung zu stellen?

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  2. Oliver Scholz

    Vie­len Dank für die Besprechung! Allerd­ings muss ich sagen, dass mir das Buch nicht beson­ders attrak­tiv erscheint; denn bezüglich des sprach­poli­tis­chen Telos muss ich per­sön­lich nicht mehr agi­tiert wer­den. Für die stärk­sten, die wesentlichen Argu­mente gegen die drei von Dir genan­nten Mythen muss ich nicht auch nur einen Blick auf die Vari­etät selb­st wer­fen, son­dern nur wis­sen, dass es eine Vari­etät mit wenig­stens eini­gen ver­hält­nis­mäßig sta­blien Eigen­schaften ist, die von ein­er hin­re­ichend große Gruppe von Sprech­ern in unter­schiedlichen All­t­agssi­t­u­a­tio­nen gesprochen wird.

    Span­nend wären für mich ger­ade die Details lin­guis­tis­ch­er Einord­nungs­fra­gen, bei denen Du Män­gel siehst. Die These, dass es sich um einen neuen Dialekt han­delte, der vielle­icht in Zukun­ft auch Ein­fluss auf die Stan­dard­sprache nähme, wäre doch eine aus­ge­sprochen span­nende! Wenn es sich allerd­ings wirk­lich bloß eine Jugend­sprache han­delte, dann weiß ich offen ges­tanden nicht, was das Ganze soll. Dann wäre die ganze Aufre­gung von bei­den Seit­en bloß ein Hype; und merk­würdig fände ich dann an diesem Hype (*falls* das so ist!) inson­der­heit die Seite von Heike Wiese. Der Autor des ver­link­ten FAZ-Artikels ist bloß ein­er der üblichen “phrophets of lin­guis­tic doom” (David Crys­tal), die es schon seit Jahrtausenden gibt.

    In diesem Zusam­men­hang finde ich auch die Beze­ich­nung “Kiezdeutsch” selt­sam. Die Phänomene, die Du hier nennst, jeden­falls kenne ich auch aus Frank­furt und Offen­bach, wo ich wohne. Was genau ist es an dieser Vari­etät, das sich auf Berlin beschränkt? Was sind die Gemein­samkeit­en und Unter­schiede zu ver­gle­ich­baren Vari­etäten in andern deutschen Bal­lungs­ge­bi­eten? Wenn Du das Buch vor allem für seine lin­guis­tis­che Analyse gepriesen hättest, dann käme mir an dieser Stelle nicht so schnell der Aus­druck “medi­aler Hype” schon wieder in den Sinn.

    Wie ste­ht es mit den phonetis­chen Aspek­ten, die mich per­sön­lich beson­ders inter­essieren wür­den? Schreibt sie irgen­det­was dazu? Der fra­gende Ver­gle­ich mit dem englis­chen MLE liegt nahe:

    http://www.englishspeechservices.com/blog/?p=284

    http://www.youtube.com/watch?v=hAnFbJ65KYM

    (Was gäbe ich dafür, wenn es auch deutschsprachige Blogs gäbe, die sich mit den englis­chsprachi­gen Phonetik-Blogs auch nur von Ferne ver­gle­ichen ließen!)

    Ich hab’ auf Anhieb keine Hör­beispiele auf der Kiezdeutsch-Seite gefun­den. Allerd­ings fiel mir beim Suchen auf, dass hier schon wieder — in Aus­drück­en wie “Vielfalt”, “Kreativ­ität”, “Vere­in­fachung” — sprachäs­thetis­che Wer­tun­gen hinein spie­len, die nicht reflek­tiert wer­den. Die Vari­etät ver­di­ente es genau­so ernst genom­men und respek­tiert zu wer­den, wenn sie sich durch byzan­ti­nis­che Vari­a­tio­nen über extrem reduzierte Grund­for­men ausze­ich­nete. (Ob ich dann auch Ele­mente aus ihr auch in meine Schrift­sprache übernähme, stünde im einen wie im andern Fall dann immer noch auch einem andern Blatt. Mir schiene übri­gens die Begeis­terung für “Vielfalt” und “Kreativ­ität” glaub­hafter, wenn die betr­e­f­fend­en Autoren auch wirk­lich ihr Stan­dard­deutsch erkennbar vom “Kiezdeutsch” bee­in­flussen ließen.)

    Oliver

    PS: Aber jeden­falls schön ein­mal wieder etwas im [ʃplɔk] zu lesen!

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    1. Kristin Beitragsautor

      Lieber Oliv­er,

      hmmm, paar Anmerkun­gen dazu:

      1. Das Buch ist mein­er Mei­n­ung nach sehr gut obwohl diese poli­tis­che Dimen­sion durchk­lingt. Aber ja, wer sich in der Sozi­olin­guis­tik gut ausken­nt, wird wahrschein­lich nicht sooo viel Neues ler­nen, son­dern nur sehen, wie es auf eine neue Vari­etät ange­wandt wird. Für mich hat die Sozi­olin­guis­tik noch den Reiz des Exo­tis­chen, deshalb habe ich da viele Anre­gun­gen mitgenom­men bzw. Bekan­ntes aus ein­er neuen Per­spek­tive betrachtet.

      2. Ein­fluss auf den Stan­dard: Ich fürchte, es ist ein­fach noch zu früh, um da was zu sagen. Und generell ist das mit Ein­flüssen ja so eine Sache. Meine Men­saschick­sals­ge­mein­schaft zum Beispiel ste­ht regelmäßig vor dem Speise­plan und tauscht sich darüber aus, welch­es Essen man nimmt, und zwar mit der Formel Ich geh Theke 4 (oder 1 oder so). Ist das nun eine eigene Inno­va­tion? Jugend­sprach­lich­er Ein­fluss? Keine Ahnung, und ich wüsste auch nicht, wie man das her­aus­find­en könnte.

      3. Beze­ich­nung: Ja, Wiese sagt, es gebe ver­gle­ich­bare Jugend­sprachen auch in anderen deutschen Großstädten. Weil es da bish­er aber ein­fach noch nicht viele Unter­suchun­gen gibt, lässt sich schlecht sagen, wie ein­heitlich das ist. Ich habe kür­zlich einen Vor­trag von Peter Auer gehört, der das für Stuttgart (mit)untersucht, und z.B. erzählte, dass die dor­ti­gen Jugendlichen die Koronal­isierung (isch) eher ver­mei­den und das expliz­it mit Bezug auf die Berlin­er, von denen sie sich abgren­zen wollen.
      Generell klingt Kiezdeutsch nach Berlin, ja, aber ich finde es tausend­mal bess­er als all das, was es vorher gab (Kanak Spraak, Türk­endeutsch etc.). Die Beze­ich­nung muss ja nicht endgültig sein, mal sehen, was da noch so passiert.

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    2. Kristin Beitragsautor

      4. Phonolo­gie: Da wird, soweit ich mich erin­nere, die Koronal­isierung erwäh­nt, die es ja in ganz Mit­teldeutsch­land gibt, und ver­schiedene r‑Realisierungen. Generell liegt aber der Schw­er­punkt im Pots­damer Pro­jekt auf Infor­ma­tion­sstruk­tur und damit auf größeren Einheiten.
      MLE kommt im Buch auch vor, genau­so Rinke­bysven­s­ka und Straat­taal. (In dem Unterkapitelchen zu ver­gle­ich­baren Jugend­sprachen in anderen europäis­chen Ländern.)
      Die Hör­beispiele sind in manchen der grauen Kästen, gekennze­ich­net mit einem kleinen grauen Pfeil. (Z.B. Beim Satz Geh’ ich schwim­men mit Fre­unde.)

      5. “Vielfalt”, “Kreativ­ität” und “Vere­in­fachung”: Wo ich das auf der Seite finde, da immer im Bezug auf das Sys­tem, d.h. eben nicht wer­tend. (Man beze­ich­net ein­fach den Abbau von Flex­ion­s­mor­pholo­gie als flex­ion­s­mor­phol­o­gis­che Vere­in­fachung, das heißt aber nicht, dass damit eine wie auch immer geart­ete “Vere­in­fachung der Sprache” einhergeht.)

      Sooo, und abschließend: Die gram­ma­tis­che Beschrei­bung ist defin­i­tiv inter­es­sant und gut erk­lärt. Ich hat­te mir halt ein­fach etwas mehr erhofft, ich habe schon viele der Pub­lika­tio­nen zum The­ma gele­sen und hätte es in Buch­form dann ein­fach gerne etwas tiefer­ge­hen­der gehabt. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass so etwas in einem For­mat wie diesem schwierig ist (denn zu wis­senschaftlich darf es da auch nicht wer­den, son­st schränkt man die Ziel­gruppe zu sehr ein). Ich hoffe also ein­fach drauf, dass es da bald mehr wis­senschaftliche Lit­er­atur zu gibt. Geforscht wird ja sehr inten­siv daran.

      Liebe Grüße,
      Kristin.

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      1. Oliver Scholz

        Liebe Kristin,

        vie­len, vie­len Dank für Deine aus­führlichen Anmerkun­gen. Die mildern meine Bedenken doch sehr. Allerd­ings werde ich wohl den­noch auf die wis­senschaftliche Lit­er­atur warten. Mich inter­essiert per­sön­lich ins­beson­dere so etwas:

        … Vor­trag von Peter Auer […], der das für Stuttgart (mit)untersucht, und z.B. erzählte, dass die dor­ti­gen Jugendlichen die Koronal­isierung (isch) eher ver­mei­den und das expliz­it mit Bezug auf die Berlin­er [!!!], von denen sie sich abgren­zen wollen.”

        Spannnnnnnnnnend!!

        Schreibt Wiese etwas zum Selb­stver­ständ­nis ihrer Berlin­er Jugendlichen, dazu wie Sie ihre Sprache in Abgren­zung sowohl zum Stan­dard wie auch zum Berlin­er Regi­olekt (bzw. zu Berlin­er Dialek­ten, falls es die noch gibt) wahrnehmen?

        Danke für den Hin­weis auf die Hör­beispiele. Ich war ein­fach blöd und habe blind ange­fan­gen, suchend herumzuk­lick­en. Ich selb­st bin kein Phonetik­er (höch­stens Ama­teur-Phonetik­er), nicht ein­mal Lin­guist, aber ich glaube deut­liche Unter­schiede zu hören, im Extrem etwa zwis­chen “Gibs auch ’ne Abkürzung.” und “Ischwör, Alter, war so.” (die für mich im wesentlichen nord­deutsch klin­gen) auf der einen, und “So die ersten zwei Wochen” und “Ey, rockst du, lan, Alter.” auf der andern Seite. Naiv würde ich bei let­zteren vielle­icht an einen fremd­sprachi­gen Akzent denken, aber das kann ich nicht recht glauben. Und für MLE wird das ja auch in den bei­den Links, die ich einge­fügt hat­te, deut­lich bestrit­ten. — Das wäre übri­gens auch der Punkt, an dem mich nicht recht überzeugte, dass es sich um eine bloße Jugend­sprache handelte.

        Für einen einzel­nen Bekan­ntenkreis kann man natür­lich nicht aus­machen, woher so ein Ein­fluss kommt. Aber inter­essieren würde mich z.B., ob es etwa in bes­timmten stan­dard­sprach­lichen (z. B. stu­den­tis­chen) Milieus einen sig­nifikan­ten Unter­schied zwis­chen Städten gibt, in denen es größere Grup­pen von Jugendlichen gibt, die eine solche Var­ität sprechen, und solchen, in denen das nicht der Fall ist. (Natür­lich ist das nur in Bezug auf nicht-iro­nis­ches Sprechen interessant.)

        Liebe Grüße

        Oliver

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  3. Michael Allers

    Noch erschreck­ender als der FAZ-Artikel selb­st sind die Kom­mentare darunter; Sar­razin lässt im- und expliz­it grüßen. Was sind das für Men­schen, die sich ihrem Ego zuliebe einre­den müssen, nur sie und noch ein paar Auser­wählte sprächen “richtiges” Deutsch? Im übri­gen find­et man bei den aller­meis­ten Sprach­nör­glern dur­chaus Ver­stöße gegen die Duden-Regeln.

    Spätestens nach unvor­ein­genommen­er Lek­türe des oben ver­link­ten Kiezdeutsch­por­tals kann man gegen diese Vari­etät doch wirk­lich nichts ein­wen­den. Kiezdeutsch ist:
    1. Verständlich,
    2. extrem ökonomisch, z.B. durch Weglassen über­flüs­siger Flexionsendungen
    3. IMHO lustig; vielle­icht, weil zuerst von Come­di­ans wie Kaya Yanar oder Erkan & Ste­fan gehört
    4. gar sys­tem­a­tis­ch­er als Stan­dard­deutsch: in Ital­ien, in Deutsch­land, in Türkei. Bingo!

    Als Dialekt würde ich es allerd­ings auch nicht beze­ich­nen. Sind Dialek­te nicht grund­sät­zlich region­al begren­zt (auch wenn einige Sprech­er ‘auswan­dern’)?
    Gegenüber einen Dialekt wie Schwäbisch hat Kiezdeutsch jeden­falls den Ver­ständ­nisvorteil, dass man zwar ein paar neue Vok­a­beln ler­nen muss (Lan, yal­la, wal­lah), es jedoch m.W. keine false friends gibt (Fuß = Bein, heben = tra­gen, Bühne = Dachboden). 

    Faz­it: Danke für den Tipp. Bestell isch Buch, ischwör!

    P.S. @Oliver Scholz:
    Wo ste­ht denn, dass sich Kiezdeutsch auf Berlin beschränkt? Ger­ade in Frank­furt höre ich es oft. Ich ver­ste­he es als bun­desweites Phänomen mit den auch im Stan­dard­deutschen üblichen regionalen Färbungen.

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    1. Oliver Scholz

      Wo ste­ht denn, dass sich Kiezdeutsch auf Berlin beschränkt? Ger­ade in Frank­furt höre ich es oft.”

      Um mich selb­st zu zitieren, mit nachträglich hinzuge­fügter Her­vorhe­bung, markiert durch umrahmende “*”:

      In diesem Zusam­men­hang finde ich auch die *Beze­ich­nung ‘Kiezdeutsch’* selt­sam. Die Phänomene, die Du hier nennst, jeden­falls *kenne ich auch aus Frank­furt und Offen­bach*, wo ich wohne.”

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      1. Michael Allers

        Das Selb­stz­i­tat kön­nte so weitergehen:
        “Was genau ist es an dieser Vari­etät, das sich auf Berlin beschränkt?”
        Kieze gibt es doch nicht nur in Berlin. Auch da, wo dieser Begriff nicht gebräuch­lich ist, kann man m.E. eine Sprache oder Vari­etät danach benen­nen. In Frank­furt spricht man zuweilen Englisch — und nen­nt es auch so -, obwohl Eng­land nicht wirk­lich ein Stadt­teil von FFM ist.

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        1. Oliver Scholz

          Ich merke ger­ade, dass ich nicht die ger­ing­ste Lust habe, das noch weit­er zu diskutieren.

  4. Boris

    Nach­dem Frau Wiese die Hochw­er­tigkeit des Kiezdeutsch nachgewiesen hat, schickt sie jet­zt sich­er auch ihre Kinder auf Neuköll­ner Schulen.

    Antworten
      1. Boris

        Nö. Gegen Frau Wiese habe ich nichts. Übri­gens auch nicht gegen ihr Buch ins­ge­samt. Es ist bloß nicht die ganze Wahrheit, son­dern Wer­bung für Kiezdeutsch. Und diese gut­ge­meinte Wer­bung überdeckt, dass Kiezdeutsch mit­nicht­en ein Dialekt, son­dern ein Sozi­olekt ist, und zwar ein stig­ma­tisiert­er der Unter­schicht. Er wird auch bevorzugt in sozial benachteiligten Gebi­eten gesprochen, in denen, wie sich anhand von Adressen­lis­ten leicht bele­gen ließe, nur ver­hält­nis­mäßig sehr wenige Akademik­er leben. Das kön­nte Gründe haben, die sich mit rein lin­guis­tis­chen Meth­o­d­en nicht erschließen lassen. 

        Man hil­ft nie­man­dem, wenn man den Leuten was vor­ma­cht. Sozi­olin­gusi­tik macht Sprach­sozi­olo­gie nicht überflüssig.

        Antworten
        1. Kristin Beitragsautor

          Hm, hast Du das Buch gelesen?
          Was ist denn Dein­er Mei­n­ung nach die ganze Wahrheit?
          Ob man nun Dialekt oder Sozi­olekt dazu sagt, ist Def­i­n­i­tion­ssache, und Frau Wiese argu­men­tiert gut für ihre Wahl, auch wenn ich selb­st eine andere Beze­ich­nung gewählt hätte.
          Natür­lich ist Kiezdeutsch stig­ma­tisiert, das kommt im Buch ganz klar raus. Und natür­lich ist Kiezdeutsch in Vierteln ent­standen, in denen in erster Lin­ie sozial Benachteiligte leben. Dazu gibts im Buch eine sehr deut­liche Karte. Aber welche Schlüsse sollte man daraus ziehen? Die Vari­etät weit­er schlecht­machen, so wie man auch ihre SprecherIn­nen schlecht­macht? Warum ist es so schlimm, sie pos­i­tiv zu betrachten?
          Wiese weist auch ganz klar darauf hin, welche Art von Deutsch in der Schule erwartet wird (das der Mit­tel- und Ober­schicht) und welche Prob­leme das für die KiezdeutschsprecherIn­nen nach sich zieht — die ja, neben Kiezdeutsch, natür­lich Hochdeutsch sprechen, aber mit dem spez­i­fis­chen bil­dungs­bürg­er­lichen Habi­tus wenig ver­traut sind.

        2. Boris

          Nein, ich habe das Buch nicht gele­sen; und ich habe es auch nicht vor, eben­so wenig wie ich Sar­razins Gesabbel lese, nur weil seine Anhänger das in jed­er Diskus­sion fordern. 

          Es geht auch nicht ums “Schlecht­machen”. Wenn jedoch Leute sagen, dass ihnen diese Vari­etät nicht gefällt, dann dür­fen sie das.

        3. Kristin Beitragsautor

          Hmja. Es ehrt mich zwar, dass Du mein Urteil über das Buch als aus­re­ichend eracht­est, um Dir eine Mei­n­ung darüber zu bilden, aber eine Diskus­sions­ba­sis ist das halt lei­der nicht.

          nicht gefall­en” ist natür­lich ein sub­jek­tives Urteil, das jed­er über jede Sprache oder Vari­etät fällen kann. Man sollte dabei allerd­ings nicht glauben, dass es sich tat­säch­lich um eine ästhetis­che Bew­er­tung han­delt. Aber das habe ich, denke ich, nun auch hin­re­ichend ausgeführt.

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