Heute will ich euch Heike Wieses »Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht« empfehlen. Viele von euch werden in den letzten Wochen in den Medien etwas zum Thema aufgeschnappt haben – im Rahmen der Buchpublikation wurde Frau Wiese oft interviewt und rezensiert. Sie forscht und schreibt nämlich über ein Thema, bei dem die Emotionen hochkochen und manchen beim Geifern der Schaum aus dem Mund schlägt: Über eine sprachliche Varietät, die sie Kiezdeutsch nennt.
Kiezdeutsch ist eine Jugendsprache, die sich in multiethnischen Wohnvierteln besonders in Berlin, also z.B. Kreuzberg und Neukölln, herausgebildet hat. Von anderen Jugendsprachen unterscheidet sie sich dadurch, dass sehr viele der SprecherInnen zwei- oder mehrsprachig aufwachsen – aber nicht alle: auch einsprachig mit Deutsch aufgewachsene Jugendliche benutzen Kiezdeutsch. Daher auch die ortsbezogene Bezeichnung, in der Kiez als städtisches Wohnumfeld vorkommt.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Zu Beginn liegt der Fokus auf den sprachlichen Merkmalen von Kiezdeutsch und auf vergleichbaren Varietäten in anderen europäischen Ländern. Das ist, um es gleich zu sagen, der Teil des Buches, den ich nicht sooo toll fand (obwohl ich begeistert aufgesprungen bin, als Wiese gleich auf den ersten Seiten ganz en passant erklärte, was Präteritopräsentien sind – das hat Stil!). Der Hauptgrund für mein Nichtganzsoglücklichseit mit dem ersten Teil ist die politische Komponente, die permanent durchscheint. Mit der ich durchaus sympathisiere, aber der hier, so finde ich, die linguistische Analyse unterworfen wird.
Wiese will zeigen, dass es sich bei Kiezdeutsch wirklich um eine Varietät des Deutschen handelt, und zwar um eine vollwertige Varietät, nicht um »schlechtes Deutsch«. Unter anderem deshalb auch die Bezeichnung Dialekt. Dabei schießt sie m.E. etwas über das Ziel hinaus: Sie betont bei allen Phänomenen ganz besonders, wie gut sie sich in das grammatische System des Deutschen einfügen bzw. wie sie darin schon angelegt seien. Dafür bietet sie zwar spannende, aber eher anekdotische Evidenz, wie zum Beispiel für die Artikel- und Präpositionslosigkeit bei Haltepunkten des öffentlichen Nahverkehrs (auch Standard: Ich bin grad Alexanderplatz, nur Kiezdeutsch: Ich bin grad Schule). (Mehr Beispiele zur Kiezdeutschgrammatik, auch mit Hörbeispielen, findet ihr auf dem Kiezdeutschportal.)
Hinzu kommt, dass oft auch eine Erklärung über Sprachkontakt naheliegt, die manchmal zwar erwähnt, aber eher abgetan wird. Das liegt, denke ich, daran, dass das Projekt von der germanistischen Seite her kommt und daran, dass Wiese unbedingt zeigen will, wie deutsch Kiezdeutsch ist. Damit beschneidet sich das Projekt aber m.E. selbst, ich fände es wirklich interessant, wenn für alle Phänomene, die als typisch deutsch bezeichnet werden, auch alternative Erklärungen in Erwägung gezogen würden. (Z.B. Artikellosigkeit und Postpositionen im Türkischen.) Wäre doch nicht schlimm, wenn ein paar der anderen im Kiezdeutschgebiet gesprochenen Sprachen Kiezdeutsch beeinflussen würden. Ich kriege es irgendwie nicht ganz zusammen, dass die multiethnische Sprechergemeinschaft immer betont wird, aber die damit einhergehende Mehrsprachigkeit als Faktor nur insofern mitspielen darf, als dass die Jugendlichen dadurch irgendwie sprachlich kreativer werden.
Den zweiten Teil des Buches fand ich hingegen uneingeschränkt großartig. Hier geht es nun wirklich explizit darum, welchen abwertenden Urteilen Kiezdeutsch ausgesetzt ist und welche gesellschaftlichen Mechanismen dahinterstecken. Es geht also um die Wahrnehmung der SprecherInnen und um den Status von Varietäten und Dialekten. Wiese bezeichnet Kiezdeutsch ja als deutschen Dialekt. Mir gefällt das nicht so gut, weil die Bezeichnung Dialekt allgemeinsprachlich eher für eine andere Gruppe von Varietäten verwendet wird, die Basisdialekte. (In der englischen Fachtradition ist das allerdings anders, Wiese bezieht sich auf Trudgill.) Nun teilen sich Kiezdeutsch und die klassischen Dialekte zwar viele Aspekte (z.B. dass ihre SprecherInnen oft für ungebildet gehalten werden), unterscheiden sich aber zumindest in einem, den ich recht wichtig finde: Kiezdeutsch ist eine Jugendsprache. Wenn die SprecherInnen älter werden, hören sie irgendwann auf, Kiezdeutsch zu sprechen, und verwenden eine standardnähere Varietät ihres Repertoires (die sie ja auch vorher schon die ganze Zeit beherrschten und in den gesellschaftlichen Kontexten, wo sie nötig war, benutzt haben). (Aber: Das steht so nicht im Buch, das habe ich entweder anderswo in einem Aufsatz von Wiese gelesen oder bei einem Vortrag gehört, das weiß ich grade nicht mehr ganz genau.)
Wieses Verwendung erschien mir bisher immer recht provokativ, und vielleicht ist sie es auch, aber je weiter ich im zweiten Teil des Buches gelesen habe, desto besser konnte ich sie verstehen. Sie beschreibt zunächst (toll, wie ich finde!), wie Standarddeutsch entstanden ist, und zwar mit Schwerpunkt darauf, dass es sich hierbei um den Sprachgebrauch der Mittel- und Oberschicht handelte. Dadurch konnte dieser Standard schnell als sozialer Marker interpretiert werden, mit dem man sich abgrenzen konnte, und entsprechend erfuhren die Dialekte eine Abwertung. Wichtig ist hier also, dass eine Bewertung von Sprechweisen nie eine Bewertung der Sprache per se ist, sondern immer eine (soziale) Bewertung ihrer SprecherInnen, bei Dialekten wie auch bei Kiezdeutsch.
Die nächsten drei Kapitel haben dann eine gemeinsame Struktur, in denen immer ein “Mythos” geschildert und dann mit der Realität konfrontiert wird. Die drei Mythen besagen 1) Kiezdeutsch sei gebrochenes Deutsch, 2) Kiezdeutsch sei ein Zeichen mangelnder Integration und 3) Kiezdeutsch sei eine Bedrohung des Deutschen. Wiese entkräftet alle drei elegant – aber wie genau, das solltet ihr lieber selbst lesen, ich will euch den Genuss nicht nehmen. Besonders wichtig dabei finde ich die Überlegungen zum Schulsystem, das ausschließlich auf bildungsbürgerlichen Sprachgebrauch setzt.
Alles in allem ein kluges, absolut empfehlenswertes Buch, das mir viel Spaß gemacht hat!
Heike Wiese (2012): Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: C.H. Beck.
[Hinweis: Der Verlag hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.]
Meine Lieblingsstelle aus der FAZ: »Eine auf Chancengleichheit bedachte Schule müsste gerade die kulturellen Festlegungen der höheren Schichten allen Schülern zugänglich machen.« Schön, dass gar nicht erst verschleiert wird, wes Geistes Kind der Autor ist.
Wäre es vielleicht möglich, mir das Rezensionsexemplar auch mal kostenlos zur Verfügung zu stellen?
Jederzeit, steht bei mir im Büro.
Vielen Dank für die Besprechung! Allerdings muss ich sagen, dass mir das Buch nicht besonders attraktiv erscheint; denn bezüglich des sprachpolitischen Telos muss ich persönlich nicht mehr agitiert werden. Für die stärksten, die wesentlichen Argumente gegen die drei von Dir genannten Mythen muss ich nicht auch nur einen Blick auf die Varietät selbst werfen, sondern nur wissen, dass es eine Varietät mit wenigstens einigen verhältnismäßig stablien Eigenschaften ist, die von einer hinreichend große Gruppe von Sprechern in unterschiedlichen Alltagssituationen gesprochen wird.
Spannend wären für mich gerade die Details linguistischer Einordnungsfragen, bei denen Du Mängel siehst. Die These, dass es sich um einen neuen Dialekt handelte, der vielleicht in Zukunft auch Einfluss auf die Standardsprache nähme, wäre doch eine ausgesprochen spannende! Wenn es sich allerdings wirklich bloß eine Jugendsprache handelte, dann weiß ich offen gestanden nicht, was das Ganze soll. Dann wäre die ganze Aufregung von beiden Seiten bloß ein Hype; und merkwürdig fände ich dann an diesem Hype (*falls* das so ist!) insonderheit die Seite von Heike Wiese. Der Autor des verlinkten FAZ-Artikels ist bloß einer der üblichen “phrophets of linguistic doom” (David Crystal), die es schon seit Jahrtausenden gibt.
In diesem Zusammenhang finde ich auch die Bezeichnung “Kiezdeutsch” seltsam. Die Phänomene, die Du hier nennst, jedenfalls kenne ich auch aus Frankfurt und Offenbach, wo ich wohne. Was genau ist es an dieser Varietät, das sich auf Berlin beschränkt? Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu vergleichbaren Varietäten in andern deutschen Ballungsgebieten? Wenn Du das Buch vor allem für seine linguistische Analyse gepriesen hättest, dann käme mir an dieser Stelle nicht so schnell der Ausdruck “medialer Hype” schon wieder in den Sinn.
Wie steht es mit den phonetischen Aspekten, die mich persönlich besonders interessieren würden? Schreibt sie irgendetwas dazu? Der fragende Vergleich mit dem englischen MLE liegt nahe:
http://www.englishspeechservices.com/blog/?p=284
http://www.youtube.com/watch?v=hAnFbJ65KYM
(Was gäbe ich dafür, wenn es auch deutschsprachige Blogs gäbe, die sich mit den englischsprachigen Phonetik-Blogs auch nur von Ferne vergleichen ließen!)
Ich hab’ auf Anhieb keine Hörbeispiele auf der Kiezdeutsch-Seite gefunden. Allerdings fiel mir beim Suchen auf, dass hier schon wieder — in Ausdrücken wie “Vielfalt”, “Kreativität”, “Vereinfachung” — sprachästhetische Wertungen hinein spielen, die nicht reflektiert werden. Die Varietät verdiente es genauso ernst genommen und respektiert zu werden, wenn sie sich durch byzantinische Variationen über extrem reduzierte Grundformen auszeichnete. (Ob ich dann auch Elemente aus ihr auch in meine Schriftsprache übernähme, stünde im einen wie im andern Fall dann immer noch auch einem andern Blatt. Mir schiene übrigens die Begeisterung für “Vielfalt” und “Kreativität” glaubhafter, wenn die betreffenden Autoren auch wirklich ihr Standarddeutsch erkennbar vom “Kiezdeutsch” beeinflussen ließen.)
Oliver
PS: Aber jedenfalls schön einmal wieder etwas im [ʃplɔk] zu lesen!
Lieber Oliver,
hmmm, paar Anmerkungen dazu:
1. Das Buch ist meiner Meinung nach sehr gut obwohl diese politische Dimension durchklingt. Aber ja, wer sich in der Soziolinguistik gut auskennt, wird wahrscheinlich nicht sooo viel Neues lernen, sondern nur sehen, wie es auf eine neue Varietät angewandt wird. Für mich hat die Soziolinguistik noch den Reiz des Exotischen, deshalb habe ich da viele Anregungen mitgenommen bzw. Bekanntes aus einer neuen Perspektive betrachtet.
2. Einfluss auf den Standard: Ich fürchte, es ist einfach noch zu früh, um da was zu sagen. Und generell ist das mit Einflüssen ja so eine Sache. Meine Mensaschicksalsgemeinschaft zum Beispiel steht regelmäßig vor dem Speiseplan und tauscht sich darüber aus, welches Essen man nimmt, und zwar mit der Formel Ich geh Theke 4 (oder 1 oder so). Ist das nun eine eigene Innovation? Jugendsprachlicher Einfluss? Keine Ahnung, und ich wüsste auch nicht, wie man das herausfinden könnte.
3. Bezeichnung: Ja, Wiese sagt, es gebe vergleichbare Jugendsprachen auch in anderen deutschen Großstädten. Weil es da bisher aber einfach noch nicht viele Untersuchungen gibt, lässt sich schlecht sagen, wie einheitlich das ist. Ich habe kürzlich einen Vortrag von Peter Auer gehört, der das für Stuttgart (mit)untersucht, und z.B. erzählte, dass die dortigen Jugendlichen die Koronalisierung (isch) eher vermeiden und das explizit mit Bezug auf die Berliner, von denen sie sich abgrenzen wollen.
Generell klingt Kiezdeutsch nach Berlin, ja, aber ich finde es tausendmal besser als all das, was es vorher gab (Kanak Spraak, Türkendeutsch etc.). Die Bezeichnung muss ja nicht endgültig sein, mal sehen, was da noch so passiert.
4. Phonologie: Da wird, soweit ich mich erinnere, die Koronalisierung erwähnt, die es ja in ganz Mitteldeutschland gibt, und verschiedene r‑Realisierungen. Generell liegt aber der Schwerpunkt im Potsdamer Projekt auf Informationsstruktur und damit auf größeren Einheiten.
MLE kommt im Buch auch vor, genauso Rinkebysvenska und Straattaal. (In dem Unterkapitelchen zu vergleichbaren Jugendsprachen in anderen europäischen Ländern.)
Die Hörbeispiele sind in manchen der grauen Kästen, gekennzeichnet mit einem kleinen grauen Pfeil. (Z.B. Beim Satz Geh’ ich schwimmen mit Freunde.)
5. “Vielfalt”, “Kreativität” und “Vereinfachung”: Wo ich das auf der Seite finde, da immer im Bezug auf das System, d.h. eben nicht wertend. (Man bezeichnet einfach den Abbau von Flexionsmorphologie als flexionsmorphologische Vereinfachung, das heißt aber nicht, dass damit eine wie auch immer geartete “Vereinfachung der Sprache” einhergeht.)
Sooo, und abschließend: Die grammatische Beschreibung ist definitiv interessant und gut erklärt. Ich hatte mir halt einfach etwas mehr erhofft, ich habe schon viele der Publikationen zum Thema gelesen und hätte es in Buchform dann einfach gerne etwas tiefergehender gehabt. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass so etwas in einem Format wie diesem schwierig ist (denn zu wissenschaftlich darf es da auch nicht werden, sonst schränkt man die Zielgruppe zu sehr ein). Ich hoffe also einfach drauf, dass es da bald mehr wissenschaftliche Literatur zu gibt. Geforscht wird ja sehr intensiv daran.
Liebe Grüße,
Kristin.
Liebe Kristin,
vielen, vielen Dank für Deine ausführlichen Anmerkungen. Die mildern meine Bedenken doch sehr. Allerdings werde ich wohl dennoch auf die wissenschaftliche Literatur warten. Mich interessiert persönlich insbesondere so etwas:
“… Vortrag von Peter Auer […], der das für Stuttgart (mit)untersucht, und z.B. erzählte, dass die dortigen Jugendlichen die Koronalisierung (isch) eher vermeiden und das explizit mit Bezug auf die Berliner [!!!], von denen sie sich abgrenzen wollen.”
Spannnnnnnnnnend!!
Schreibt Wiese etwas zum Selbstverständnis ihrer Berliner Jugendlichen, dazu wie Sie ihre Sprache in Abgrenzung sowohl zum Standard wie auch zum Berliner Regiolekt (bzw. zu Berliner Dialekten, falls es die noch gibt) wahrnehmen?
Danke für den Hinweis auf die Hörbeispiele. Ich war einfach blöd und habe blind angefangen, suchend herumzuklicken. Ich selbst bin kein Phonetiker (höchstens Amateur-Phonetiker), nicht einmal Linguist, aber ich glaube deutliche Unterschiede zu hören, im Extrem etwa zwischen “Gibs auch ’ne Abkürzung.” und “Ischwör, Alter, war so.” (die für mich im wesentlichen norddeutsch klingen) auf der einen, und “So die ersten zwei Wochen” und “Ey, rockst du, lan, Alter.” auf der andern Seite. Naiv würde ich bei letzteren vielleicht an einen fremdsprachigen Akzent denken, aber das kann ich nicht recht glauben. Und für MLE wird das ja auch in den beiden Links, die ich eingefügt hatte, deutlich bestritten. — Das wäre übrigens auch der Punkt, an dem mich nicht recht überzeugte, dass es sich um eine bloße Jugendsprache handelte.
Für einen einzelnen Bekanntenkreis kann man natürlich nicht ausmachen, woher so ein Einfluss kommt. Aber interessieren würde mich z.B., ob es etwa in bestimmten standardsprachlichen (z. B. studentischen) Milieus einen signifikanten Unterschied zwischen Städten gibt, in denen es größere Gruppen von Jugendlichen gibt, die eine solche Varität sprechen, und solchen, in denen das nicht der Fall ist. (Natürlich ist das nur in Bezug auf nicht-ironisches Sprechen interessant.)
Liebe Grüße
Oliver
Noch erschreckender als der FAZ-Artikel selbst sind die Kommentare darunter; Sarrazin lässt im- und explizit grüßen. Was sind das für Menschen, die sich ihrem Ego zuliebe einreden müssen, nur sie und noch ein paar Auserwählte sprächen “richtiges” Deutsch? Im übrigen findet man bei den allermeisten Sprachnörglern durchaus Verstöße gegen die Duden-Regeln.
Spätestens nach unvoreingenommener Lektüre des oben verlinkten Kiezdeutschportals kann man gegen diese Varietät doch wirklich nichts einwenden. Kiezdeutsch ist:
1. Verständlich,
2. extrem ökonomisch, z.B. durch Weglassen überflüssiger Flexionsendungen
3. IMHO lustig; vielleicht, weil zuerst von Comedians wie Kaya Yanar oder Erkan & Stefan gehört
4. gar systematischer als Standarddeutsch: in Italien, in Deutschland, in Türkei. Bingo!
Als Dialekt würde ich es allerdings auch nicht bezeichnen. Sind Dialekte nicht grundsätzlich regional begrenzt (auch wenn einige Sprecher ‘auswandern’)?
Gegenüber einen Dialekt wie Schwäbisch hat Kiezdeutsch jedenfalls den Verständnisvorteil, dass man zwar ein paar neue Vokabeln lernen muss (Lan, yalla, wallah), es jedoch m.W. keine false friends gibt (Fuß = Bein, heben = tragen, Bühne = Dachboden).
Fazit: Danke für den Tipp. Bestell isch Buch, ischwör!
P.S. @Oliver Scholz:
Wo steht denn, dass sich Kiezdeutsch auf Berlin beschränkt? Gerade in Frankfurt höre ich es oft. Ich verstehe es als bundesweites Phänomen mit den auch im Standarddeutschen üblichen regionalen Färbungen.
“Wo steht denn, dass sich Kiezdeutsch auf Berlin beschränkt? Gerade in Frankfurt höre ich es oft.”
Um mich selbst zu zitieren, mit nachträglich hinzugefügter Hervorhebung, markiert durch umrahmende “*”:
“In diesem Zusammenhang finde ich auch die *Bezeichnung ‘Kiezdeutsch’* seltsam. Die Phänomene, die Du hier nennst, jedenfalls *kenne ich auch aus Frankfurt und Offenbach*, wo ich wohne.”
Das Selbstzitat könnte so weitergehen:
“Was genau ist es an dieser Varietät, das sich auf Berlin beschränkt?”
Kieze gibt es doch nicht nur in Berlin. Auch da, wo dieser Begriff nicht gebräuchlich ist, kann man m.E. eine Sprache oder Varietät danach benennen. In Frankfurt spricht man zuweilen Englisch — und nennt es auch so -, obwohl England nicht wirklich ein Stadtteil von FFM ist.
Ich merke gerade, dass ich nicht die geringste Lust habe, das noch weiter zu diskutieren.
Nachdem Frau Wiese die Hochwertigkeit des Kiezdeutsch nachgewiesen hat, schickt sie jetzt sicher auch ihre Kinder auf Neuköllner Schulen.
Dazu fällt mir nur das ein.
Nö. Gegen Frau Wiese habe ich nichts. Übrigens auch nicht gegen ihr Buch insgesamt. Es ist bloß nicht die ganze Wahrheit, sondern Werbung für Kiezdeutsch. Und diese gutgemeinte Werbung überdeckt, dass Kiezdeutsch mitnichten ein Dialekt, sondern ein Soziolekt ist, und zwar ein stigmatisierter der Unterschicht. Er wird auch bevorzugt in sozial benachteiligten Gebieten gesprochen, in denen, wie sich anhand von Adressenlisten leicht belegen ließe, nur verhältnismäßig sehr wenige Akademiker leben. Das könnte Gründe haben, die sich mit rein linguistischen Methoden nicht erschließen lassen.
Man hilft niemandem, wenn man den Leuten was vormacht. Soziolingusitik macht Sprachsoziologie nicht überflüssig.
Hm, hast Du das Buch gelesen?
Was ist denn Deiner Meinung nach die ganze Wahrheit?
Ob man nun Dialekt oder Soziolekt dazu sagt, ist Definitionssache, und Frau Wiese argumentiert gut für ihre Wahl, auch wenn ich selbst eine andere Bezeichnung gewählt hätte.
Natürlich ist Kiezdeutsch stigmatisiert, das kommt im Buch ganz klar raus. Und natürlich ist Kiezdeutsch in Vierteln entstanden, in denen in erster Linie sozial Benachteiligte leben. Dazu gibts im Buch eine sehr deutliche Karte. Aber welche Schlüsse sollte man daraus ziehen? Die Varietät weiter schlechtmachen, so wie man auch ihre SprecherInnen schlechtmacht? Warum ist es so schlimm, sie positiv zu betrachten?
Wiese weist auch ganz klar darauf hin, welche Art von Deutsch in der Schule erwartet wird (das der Mittel- und Oberschicht) und welche Probleme das für die KiezdeutschsprecherInnen nach sich zieht — die ja, neben Kiezdeutsch, natürlich Hochdeutsch sprechen, aber mit dem spezifischen bildungsbürgerlichen Habitus wenig vertraut sind.
Nein, ich habe das Buch nicht gelesen; und ich habe es auch nicht vor, ebenso wenig wie ich Sarrazins Gesabbel lese, nur weil seine Anhänger das in jeder Diskussion fordern.
Es geht auch nicht ums “Schlechtmachen”. Wenn jedoch Leute sagen, dass ihnen diese Varietät nicht gefällt, dann dürfen sie das.
Hmja. Es ehrt mich zwar, dass Du mein Urteil über das Buch als ausreichend erachtest, um Dir eine Meinung darüber zu bilden, aber eine Diskussionsbasis ist das halt leider nicht.
“nicht gefallen” ist natürlich ein subjektives Urteil, das jeder über jede Sprache oder Varietät fällen kann. Man sollte dabei allerdings nicht glauben, dass es sich tatsächlich um eine ästhetische Bewertung handelt. Aber das habe ich, denke ich, nun auch hinreichend ausgeführt.