Der Melbourner Übersetzer Marc Hiatt betreibt ein ungewöhnliches Weblog, Translated from the German. Wie der Name andeutet, veröffentlicht er dort eigene englische Übersetzungen großer deutscher Denker wie Adorno, Goethe, Herder, Horkheimer, Leibnitz und … ähm … Stefanowitsch. Seit gestern kann man dort den Beitrag T/V Total in englischer Übersetzung lesen: Totally T/V. Herr Hiatt unterrichtet auch Deutsch und will den Beitrag verwenden, um seinen Schülern die ungewohnte T/V‑Unterscheidung schmackhafter zu machen. Per Email schreibt er mir: „Das T/V‑Problem ist etwas, dass für sie ansonsten ziemlich abstrakt bleibt; sehen zu können, dass es auch den Deutschsprachigen nicht immer leicht fällt, wird ihnen helfen.“ In einer weiteren Email schreibt er:
Übrigens glaube ich, dass ich das gut verstehen kann, warum Sie Ihre Leser siezen möchten. Ich finde es wichtig, sich auf die neuen zwischenmenschlichen Beziehungen zu besinnen, in die wir heute eingehen, und womöglich die Entwicklungen zu formen, anstatt sie bloß zu erleiden.
Nun leide ich nicht gerade darunter, geduzt zu werden. Das kommt nicht nur in der virtuellen Welt häufiger vor, sondern auch in der nicht-virtuellen. Immer wieder kommen Studierende (häufig älteren Jahrgangs) in mein Büro, die ich noch nie gesehen habe, und beginnen das Gespräch in etwa so: „Bist du Anatol? Ich brauch’ nämlich noch ’n Prüfer und da hat man mir gesagt, dass du da zuständig bist.“ Ich verstehe dann, dass ich es da mit Menschen zu tun habe, die zu einer Zeit sozialisiert wurden, in der das Duzen an der Universität der Normalfall war, und gehe im Allgemeinen stillschweigend darauf ein. Leiden tue ich erst dann, wenn der unvermeidliche zweite Satz kommt: „Linguistik interessiert mich eigentlich nicht so. Kannst du mir da nicht irgendein einfaches Prüfungsthema geben, wo man nicht soviel lesen muss?“
Aber zurück zu Herrn Hiatts Punkt mit dem Formen von Entwicklungen. Dem stimme ich natürlich zu. Zwischenmenschliche Beziehungen müssen ständig neu ausgehandelt werden und daran kann und sollte man aktiv mitwirken. Selbst die Reibungen, die auftreten, wenn unterschiedliche Vorstellungen aufeinandertreffen, tragen doch dazu bei, das Leben bunt und interessant zu machen.
Eine letzte Beobachtung: beim Korrekturlesen dieses Postings kommt es mir plötzlich komisch vor, von „Herrn Hiatt“ zu sprechen. Ohne dass ich genau sagen könnte, warum, ist mein natürlicher Impuls, ihn „Marc“ zu nennen. Teilweise hat das wohl etwas damit zu tun, dass wir nicht nur per Blog sondern auch persönlicher per Email miteinander zu tun hatten und dass wir beide professionell mit Sprache zu tun haben und somit irgendwie „Kollegen“ sind. Aber ich glaube nicht, dass das die vollständige Erklärung ist.
Herr Stefanowitsch,
Sie haben geschrieben, Sie leiden “nicht gerade darunter, geduzt zu werden.” Ich kann nicht ausmachen, ob Sie da einfach an eine Zweideutigkeit an “die Entwicklungen … erleiden” annküpfen, um ihren Punkt übers Duzen zu machen, oder ob ich halt den falschen Ausdrück wähle. (Ich will nicht suggerieren, dass jenes unschicklich wäre: das Beispiel ist gut.) Mit “die Entwicklungen … erleiden” wollte ich nämlich “bezüglich etwas passiv sein” ausdrücken. Geht das?
Ich kann natürlich auch nicht sagen, wie Ihr Impuls, mich mit Vorname anzusprechen, vollständig zu erklären sei. Auf jeden Fall freue ich mich darüber. (Vielleicht weil ich Menschen ein allgemeines Bedürfnis unterstelle, Nähe mit anderen, sogar fremden Geschöpfen herzustellen, und vermute, hier einen Beleg zu finden.)
Aber ich freute mich noch mehr, als ich mich auf Ihren Beitrag “Herrn Hiatt” genannt sah. Herr Adorno schreibt sehr interessante Sachen in diesem Zusammenhang in seinem Buch Minima Moralia. Er meint, zum Beispiel (ich glaube das ist Abschnitt 16, ‘Zur Dialektik des Takts’), dass der Spielraum für persönliche (Nicht-)Identität, objektiv angesehen, in der Zeit Beethovens am größten war, als die Distanz bewahrenden Sprachformen und Gebräuche nicht mehr im alten, ‘objektiven’ (d. h. sozialen) Sinn galten, aber noch auf “taktvolle” Weise eingesetzt werden können. Die Möglichkeit der Freiheit sollte im Unterschied zwischen dem Individuum und dem es identifizierenden Ausdruck bewahrt sein, wobei das Ausdruck auch dem Individuum gewissermaßen entgegenkommen muss, also nicht “von oben her” ihm überstülpt werden. (Oder so etwas Ähnliches: das ist natürlich aus dem Zusammenhang einer anspruchsvollen Gesellschafts- und Sprachtheorie gerissen worden.) Es kann sein, dass ich jenen (für einen Australier sehr ungewöhnlichen) Unterschied spürte, und dass das eine Quelle meine Freude war. Es ist aber eher wahrscheinlich, dass viel subjektivere, psychologischere Faktoren eine Rolle spielten. Etwa, ich freute mich über die Konnotationen: “ach, er denkt, dass wir Kollegen sind, er ehrt mich mit dem großartigen Titel eines ‘Übersetzers’, vielleicht meint er, ich bin älter als ich es in der Wirklichkeit bin.” Denn, meine Erfahrungen in deutschsprachigen Ländern ausgenommen, ist es für mich etwas sehr ungewönliches, mit Mister + Nachname angesprochen zu werden.
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Herr Hiatt,
eine Entwicklung erleiden
Nach meinem Sprachgefühl klingt das zwar ungewöhnlich, ist aber keinesfalls falsch. Auch die von Ihnen gemeinte Interpretation (so etwa endure) halte ich für möglich, allerdings ist die offensichtlichere Interpretation die, an die ich angeknüpft habe (so etwa suffer. Um die von Ihnen gewünschte Interpretation deutlicher zu machen, würde man wohl so etwas sagen wie „die Entwicklung (passiv) mitmachen“ oder „die Entwicklung über sich ergehen lassen“.
ach, er denkt, dass wir Kollegen sind, er ehrt mich mit dem großartigen Titel eines ‘Übersetzers’, vielleicht meint er, ich bin älter als ich es in der Wirklichkeit bin
Ein „Kollege“ im weiteren Sinne ist für mich jeder, der professionell mit Sprache zu tun hat (Lehrer, Übersetzer, Lektoren, etc.) — und zwar unabhängig vom Alter 🙂