(Hinweis: Die orangen Passagen wurden nachträglich geändert/hinzugefügt.)
Hach, wie schön es sich über Sprache schwärmen lässt … hier aus Der Hóchdeutsche Schlüszel zur Schreibrichtigkeit oder Rechtschreibung (Samuel Butschky, Leipzig 1648), weitgehend wortwörtlich von Herrn Schottelius geklaut:
Sehr wohl vergleicht Herr
Schottel / unsere Hóchdeutsche
Haupt= und Heldenspráche / einem
ansehlichen/fruchtbringendenBau=
me / welcher seine saftreiche Wur=
tzeln/ tief in den Erdbóden / und da=
rinn weit ausgestrekt / also / daß er
die Feuchtigkeit / und das Mark der
Erden / vermittels seiner äderlein/an sich zeucht ; seineWurtzeln/durch
ein fruchtreiches saftiges Naß /zeucht ‘zieht’ durchhärtet/tauerhafft macht / und
sich selbst in die Natur einpfropffet:
Denn die Wurtzeln / und saftige
Stamwörter / unserer Spráche /
haben den Kern/und das Mark/aus
der Vernunft gesogen / und sich auf
die Hauptgründe der Natur ge=
stammet: ihren Stamm aber lassen
sie hóch empor ragen ; ihre Zweige/tauerhafft ‘dauerhaft’ und Reiserlein / in unaussäglicher
Menge/ in steter Gewißheit / wun=
dersamer mannigfaltigkeit / und an=
sehlicher Pracht heraus wachsen /
also/daß die Erlustigung an diesem
Wunderstükke / könne stets völlig/Reiserlein ‘Ästchen’ und die Genüßung dero süssesten
Früchte / unendlich seyn.Genüßung ‘Genuss’
Viel Blabla? Die ganze Baummetapher klingt zwar sehr abgedreht, aber wenn man genau hinliest und nachschaut, wovon im Text drumherum die Rede ist, wird klar, dass Wurzeln, Stamm, Äste und Reiser den Komplexitätsgrad von Wörtern bezeichnen.
Wortbildung bei Butschky
Insgesamt nennt er nämlich drei Typen von Wörtern. Die Beispiele habe ich aus dem Text zusammengesucht, an die heutige Rechtschreibung angepasst und segmentiert:
- Uhrsprüngliche Wörter/Stamwörter/Wurtzelwörter, lat. primitivum
- Mensch, Nacht, Tuch
- Hérrührliche Wörter, lat. derivativum
- Männ|lein, stünd|lich, gnäd|ig, Röt|e, Mörd|er
- Mensch|en, Nächt|e, Tüch|er
- Zusammengesätzte Wörter, lat. compositum
- Müßig|gang, Menschen|tand, Faulenzer, Haar|tüchlein, Trost|büchlein
Uhrsprüngliche Wörter
Die erste Gruppe ist das, was wir heute Simplizia oder Grundwörter nennen: einfache Wörter, die nicht zusammengesetzt oder abgeleitet sind. Neben den Substantiven, die hier angeführt werden, gehören dazu natürlich auch Verben wie lesen, hören, Adjektive wie schön, nett usw.
Hérrührliche Wörter
Unter den hérrührlichen Wörtern fasst er dann zwei verschiedene Dinge zusammen:
- Das erste sind Ableitungen (Derivationen), das heißt Kombinationen aus einem Simplex und einem unselbständigen Element wie Mann+lein → Männlein, Stunde+lich → stündlich.
- Das zweite aber sind Pluralformen (Mehrzahl) wie Mensch+en, Nächt+e. Die gehören zur Flexion, d.h. sie liefern grammatische Zusatzinformationen. Weil dadurch nur Wortformen entstehen, aber keine neuen Wörter per se, trennt man diesen Bereich (die Flexionsmorphologie) strikt von der Wortbildung, obwohl beide teilweise dasselbe Verfahren nutzen (das Hinzufügen unselbständiger Elemente, Affixe).
Diese Unterscheidung trifft Butschky allerdings nicht. Das ist recht spannend, allerdings auf einem Level, das für das Schplock vielleicht nicht das richtige ist, daher reiße ich es nur kurz an: Die Beispiele für Flexion sind hier auf die Pluralbildung beschränkt, es gibt keine Beispiele für z.B. Kasus (wie Genitiv: Tuch+s). Anderswo im Text kommt Kasus vor und wird dann auch mit eigenen Wörtern bezeichnet, nämlich Deklination oder Beugung. Ich wage also mal die Behauptung, dass Butschky nur die Pluralbildung von Substantiven zu den herrührlichen Wörtern rechnet.
Nun unterscheiden sich gerade Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) und Numerus (Singular, Plural) beim Substantiv in ihrer, hm, Eigenständigkeit: Kasus wird vom Satz gefordert. Wenn ein Wort das Subjekt des Satzes ist, steht es i.d.R. im Nominativ (Die Katze fraß …), wenn es das direkte Objekt ist, im Akkusativ (… den Hund) etc. Numerus hingegen ist eine semantische Eigenschaft, bezieht sich also direkt auf das bezeichnete Objekt und sagt aus, in welcher Menge es vorhanden ist (die Katze: 1, die Katzen: 2+). Hier ist der Satzkontext nicht wichtig. Vielleicht betrachtet Butschky die Pluralbildung von Substantiven deshalb als Verfahren, das der Derivation gleichgestellt werden kann.
Zusammengesätzte Wörter
Die zusammengesätzten Wörter sind dann wieder recht klar: Hier handelt es sich um die Kombination zweier (oder mehrerer) “Stamwörter”, also Komposition oder (tataaa!) Zusammensetzung. Faulenzer passt da allerdings nicht rein, das müsste zur Derivation (Faulenz+er). Keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hat.
Äste sind auch irgendwie derivativ
Zurück zur Baummetapher: Ist mittlerweile wahrscheinlich klar geworden. Wurzeln und Stamm werden von den Simplizia gebildet, und die davon abgeleiteten Formen stellen dann die Äste der Sprache dar. Später bezeichnet er die Derivationssuffixe auch noch als Nebensprößlein oder Nebenwörter und behauptet, das Deutsche habe davon 21. Er nennt dann die Klassiker (-bar, -haft, -heit, -lich, -nis, -ung, …), ignoriert hier aber völlig, dass es ja auch Derivationspräfixe gibt (stehen vorne: ver-hören, er-sehen, Ge-hör, …), vielleicht weil er Verben, bei denen besonders oft präfigiert wird, hier sowieso recht gekonnt ignoriert.
Damit, dass die Simplizia ihren “Kern/und das Mark/aus der Vernunft gesogen” haben, meint er wohl übrigens, dass sie eine konkrete Bedeutung haben, während Derivationselemente nur sehr abstrakt etwas “heißen” und nur zusammen mit ihrer Basis eine neue konkrete Bedeutung ergeben.
So, und das nächste Mal erzähle ich euch, was Herr Butschky über Relativpronomen denkt! Vielleicht.
Ich frage mich, ob die Baummetaphorik eine bewusste Anspielung auf “er inpfete daz êrste rîs in tiutischer zungen” sein könnte (Gottfried, Tristan 4738/39) …
Hmm, das weiß ich nicht, aber: Die Baummetapher kommt natürlich nicht von ihm selbst, sondern von Schottelius und zwar bedeutend wortwörtlicher als ich dachte, habe eben mal nachgeschaut. Hier ganz oben die entsprechende Passage.
»Faulenzer passt da allerdings nicht rein, das müsste zur Derivation (Faulenz+er). Keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hat.«
Jedenfalls synchron erkennt man das nicht, was er sich dabei gedacht hat. Vielleicht empfand er das tatsächlich als Komposition. In der Erstausgabe vom Deutschen Wörterbuch steht zu faulenzen (der Artikel ist von 1861) als letzter Satz der folgende Hinweis: »die schreibung faullenzen beruht darauf, dasz man aus faulenz einen faulen lenz machte.« Vielleicht hat Butschky das auch so analysiert?
Pfeiffers Etymologisches Wörterbuch sagt (unter anderem): »Das Verb ist analog zu einer Gruppe von intensiven und iterativen Verben auf mhd. ‑e(z)zen«, spricht sich also auch für Derivation aus. Diese Gruppe ist im Deutschen Wörterbuch wiederum noch reichlich belegt (vor allem mundartlich).
Ja, das habe ich mir auch kurz überlegt, allerdings keine Hinweise auf so eine Volksetymologie gefunden — vielen Dank für das Zitat! 🙂