Learnings in Demut

Von Anatol Stefanowitsch

Wie die meis­ten Sprach­wis­senschaftler bin ich ein radikaler sprach­lich­er Deskrip­tivist. Kurz gesagt bedeutet das, dass ich mich in Bezug auf Sprache grund­sät­zlich jedes Wer­turteils enthalte. Wenn ich einem neuen sprach­lichen Phänomen, gle­ich welch­er Art, begeg­ne, frage ich mich nicht „Ist das eigentlich richtiges Deutsch/Englisch/usw.?“ oder „Darf man das als gebilde­ter Men­sch sagen?“ oder „Sollte man das nicht lieber ver­bi­eten?“, son­dern ich frage mich „Woher kommt das? Wie funk­tion­iert das? Warum gibt es das?“. (Das Gegen­teil von Deskrip­tivis­ten sind Präskrip­tivis­ten — Men­schen, die anderen gerne Vorschriften machen, zum Beispiel über Dativ und Gen­i­tiv, über gute und böse Lehn­wörter, oder auch darüber, mit welch­er Gabel man Suppe essen darf.)

Zum Teil bin ich natür­lich deshalb Deskrip­tivist, weil ein Wis­senschaftler grund­sät­zlich gut berat­en ist, seinem Unter­suchungs­ge­gen­stand gegenüber eine neu­trale Hal­tung einzunehmen (ide­ol­o­gis­ch­er Eifer wirkt nun ein­mal etwas verblendend). Aber haupt­säch­lich bin ich Deskrip­tivist, weil die präskrip­tiv­en Impulse, die natür­lich auch mich von Zeit zu Zeit befall­en, sich meis­tens als Schnellschüsse mein­er­seits herausstellen.

So sitze ich z.B. heute mor­gen beim Früh­stück und surfe neben­bei ein biss­chen durch die Blog­land­schaft, als ich das hier lese:

Dazu muss ich erläutern, dass ich im Laufe der Zeit mit mehreren stu­den­tis­chen Grup­pen unter­schiedliche Ein­satzszenar­ien aus­pro­biert habe. Ein paar Learn­ings (eine erste Sammlung): …

Ein paar Learn­ings“ — das weckt präskrip­tive Gelüste. Was mich hier stört ist nicht die Tat­sache, dass der Autor ein englis­ches Lehn­wort ver­wen­det (obwohl es ein Wort wie „Erken­nt­nisse“ oder „Ein­sicht­en“ wohl auch getan hätte). Nein, was mich stört ist, dass dieses Lehn­wort so klingt als ob es entwed­er (a) gar kein echt­es Lehn­wort son­dern nur ein bil­liges „Imi­tat“ ist, oder noch schlim­mer, als ob es sich (b) um ein inhalt­sleeres Schlag­wort han­delt, das sich find­i­ge Unternehmens­ber­ater und/oder Medi­en­mach­er und/oder Kom­mu­nika­tion­s­men­schen aus­gedacht haben, um die Tat­sache zu übertünchen, dass sie eben nichts gel­ernt haben.

Eine Google-Suche zeigt schnell, dass das Wort im englis­chen Sprachraum dur­chaus zu find­en ist. Meine The­o­rie mit dem Imi­tat ist also schon ein­mal vom Tisch. Dafür bestätigt sich schnell meine zweite Ver­mu­tung — das Wort taucht genau in den unternehmerischen, medi­en­machen­den, kom­mu­nika­tion­s­men­schel­nden Zusam­men­hän­gen auf, in denen ich es ver­mutet habe.

Das Wort erregt auch schon seit län­gerem den Ärg­er englis­chsprachiger Sprachverbesser­er. Schon im Jahr 2000 schreibt der erk­lärte Jar­gonjäger Tony Proscio:

Foun­da­tions are far from alone in their fas­ci­na­tion with LEARNINGS, the plur­al form of a noun mean­ing “some­thing learned.” It is cer­tain­ly cor­rect to use the word as a noun, though the usage is still uncom­mon out­side of busi­ness schools, con­sult­ing firms, and (late­ly) foun­da­tions. … Like most jar­gon, LEARNINGS is used too often, and con­se­quent­ly is used where some­thing sim­pler would do just as nice­ly, with­out seem­ing to promise undue sur­pris­es and wonders.

Und ein Unternehmens­ber­ater namens Jef­frey Mc Manus behauptet in seinem Blog:

Learn­ings’ Is A Stu­pid, Stu­pid Word

Atten­tion, Mas­ters of Busi­ness Admin­is­tra­tion of Cor­po­rate Amer­i­ca: Quit using the word ‘learn­ings’. It makes you sound real­ly stu­pid. The word you real­ly want is ‘lessons’.

Your pal,

Jef­frey

Ein­er sein­er Leser stimmt ihm zu und fügt hinzu: “Messrs. Web­ster, Cham­bers and Collins deny all knowl­edge of ‘learn­ings’. Case closed!” (Web­ster, Cham­bers und Collins sind Wörterbücher).

Ich füh­le mich also in mein­er neg­a­tiv­en Reak­tion bestätigt und will mir ger­ade auf die Schul­ter klopfen. Aber auf dieser Schul­ter sitzt natür­lich mein Advo­ca­tus Dia­boli, und der flüstert mir ins Ohr: „Aber, aber, du wirst doch nicht unbe­se­hen sprach­liche Geschmack­surteile von Unternehmens­ber­atern übernehmen? Du bist doch Wis­senschaftler…“.

Natür­lich, und so greife ich zum ehrwürdi­gen Oxford Eng­lish Dic­tio­nary, Band L‑M (ich habe immer alle zwanzig Bände neben dem Toast­er liegen) und schlage unter learn­ing nach. Und was finde ich dort:

2. What is learnt or taught: a. a les­son, instruc­tion; b. infor­ma­tion or direction; …

Es gibt das Wort also doch, mit genau der richti­gen Bedeu­tung, Web­ster, Cham­bers und Collins zum Trotz. Aber sich­er ist es trotz­dem ein albern­er Neol­o­gis­mus? Das lässt sich leicht her­aus­find­en, denn das OED gibt zu jedem Wort den früh­esten bekan­nten Beleg und eine Auswahl weit­er­er typ­is­ch­er Belege an. Und der früh­este Beleg für das Sub­stan­tiv learn­ing stammt nicht aus dem 21. Jahrhun­dert, nicht aus dem 20. Jahrhun­dert, nicht aus dem 19. Jahrhun­dert — er stammt aus dem 14. Jahrhundert:

1362 That nis no treuthe of tri­nite but..a leornyng for lewed men …

Das ist nicht die Wahrheit der Dreifaltigkeit, son­dern eine Lek­tion für unge­bildete Menschen.

Und eine Zeile weit­er endet mein präskrip­tiv­er Aus­flug endgültig — der Barde selb­st, der große William Shake­speare, hat das Wort verwendet:

The king..Puts to him all the Learn­ings that his time Could make him the receiuer of. (Cym­be­line, Erster Akt, erste Szene).

Der König … set­zt ihm all das Wis­sen vor, das seine Zeit (sein Alter?) ihm zu emp­fan­gen erlaubt.

Es gibt also nichts, aber auch gar nichts an dem Wort learn­ings auszuset­zen. In Wirk­lichkeit haben mich nur die unternehmens­ber­a­ter­ischen Kon­no­ta­tio­nen gestört — aber das ist mein Prob­lem, denn die englis­che Sprache ist nicht ver­ant­wortlich für meine Vorurteile gegenüber Unternehmensberatern.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

6 Gedanken zu „Learnings in Demut

  1. Thomas Pleil

    Her­zlichen Dank für die lehrre­iche Auseinan­der­set­zung, die mich (obwohl ich den Begriff wohl nicht ganz so verkehrt einge­set­zt habe) zu Recht daran gemah­nt, mit (Pseudo-)Anglizismen zurück­hal­tender zu sein. Da ich mich täglich sehr viel im Inter­net bewege, wo der Wech­sel zwis­chen englisch und deutsch laufend stat­tfind­et und wo sich (ein altes Argu­ment, ich weiß) für vieles Neue nur englis­che Begriffe ein­bürg­ern, lösen sich manch­mal auch beim Schreiben Sprach­gren­zen nahezu auf. Den­noch: Ich bemühe mich um Besserung!

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  2. Anatol Stefanowitsch

    Um Gottes Willen, Herr Pleil, einen zurück­hal­tenden Umgang mit „Anglizis­men“ anzumah­nen wäre das Let­zte, was mir in den Sinn käme! Mir ist es am lieb­sten, wenn jede/r so spricht und schreibt, wie ihm/ihr der Schn­abel gewach­sen ist. Wichtiger ist für mich, ob jemand inhaltlich etwas beis­teuern kann, und Ihr Beitrag über die Ver­wen­dung von Wikis in Sem­i­naren war für mich sehr interessant.

    Es ging mir nicht darum, dass Learn­ings ein englis­ches Lehn­wort ist, son­dern darum, zu zeigen, dass sprachmah­ner­isches Ver­hal­ten im All­ge­meinen auf die Igno­ranz des Mah­n­ers zurück­zuführen ist.

    Sie sagen es selb­st: Wörter wer­den ganz natür­lich in Sit­u­a­tio­nen entlehnt, in denen Sprachkon­takt oder ‑wech­sel beste­ht. Wenn die Entlehnun­gen eine sin­nvolle Funk­tion erfüllen, bleiben sie, wenn nicht, ver­schwinden sie von ganz alleine wieder.

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  3. Thomas Pleil

    Das ist eine sehr entspan­nte Sicht der Dinge 🙂

    Vielle­icht habe ich es missver­ständlich aus­ge­drückt: Ich habe aus Ihrem Beitrag keine Mah­nung von Ihnen ver­spürt (keine Sorge also), son­dern ihn eher zum Anlass genom­men, mich selb­st zu mah­nen. Denn ich gebe zu, dass ich mich gele­gentlich schon dabei ertappe, mich etwas selt­sam zu fühlen, wenn ich z.B. ger­ade einen Web 2.0‑Vortrag gehal­ten habe, der für Außen­ste­hende allein schon sprach­lich aus rein­stem Kaud­er­welsch beste­ht 😉 Deshalb ver­falle ich immer wieder mal in Phasen der Selbstermahnung…

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  4. cri

    Deskrip­tiv schön und gut. Aber welche hin­ter­gründi­ge Annahme steckt dahin­ter, dass Wörter, die Shake­speare ver­wen­det hat, in jeglichem Kon­text passend sind. Das wird hier doch suggeriert.

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  5. Anatol Stefanowitsch

    cri, hin­ter dem his­torischen Exkurs steckt zunächst ganz vorder­gründig, dass die Jar­gonjäger sich irren, wenn sie Learning/s als neu­modis­ches BWL-Geplap­per abtun. Hin­ter­gründig ging es mir natür­lich darum, Shake­spear­es dich­ter­ischen Heili­gen­schein als Totschla­gar­gu­ment zu ver­wen­den. Trotz­dem glaube ich nicht, dass ich hier sug­geriert habe, Shake­spearsche Wörter seien in jedem Kon­text passend. Aber im Fall von Learning/s sehe ich keine stilis­tis­chen oder seman­tis­chen Ein­wände gegen die mod­erne Verwendung.

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  6. cri

    Ja, die Jar­gonjäger irren sich darin. Allerd­ings Wörter im aktuellen Gebrauch, sind ja nicht unbe­d­ingt neuer­fun­dene Wörter. Auch ein Wort, das Shake­speare ver­wen­det hat, kann sich zu einem öden Con­sult­ing-/Werbeschlag­wort wandeln.

    Ich finde “Learn­ings” schon ziem­lich albern. Ich würde stattdessen empfehlen: “Guckt mal, ich hab eine Menge englis­ch­er Fach­lit­er­atur gelesen.”

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