Zuerst die unfreiwillige Komik: “Anglizismen gehen mir auf den Keks.”
Warum komisch? Weil Keks ein Anglizismus ist. Also nicht so offensichtlich vielleicht. Vielmehr ist es ein ehemaliger, mittlerweile so gut integrierter und so eingedeutschter Anglizismus, dass er gar nicht mehr als solcher erkennbar ist und seltenst in Anglizismenfiltern hängen bleibt (allerhöchstens um zu betonen, dass wir nicht ja alles ausbürgern müssen). Eigentlich wollte ich nur amüsiert einen Anglistenwitz zum Besten geben und es dabei belassen. Doch dann uferte eine kleine Recherche so unglaublich aus, dass sich jenseits der beinahe allbekannten Herkunft und Entwicklung von cakes (engl.) > Cakes (dt. pl.) > Keks (pl. & sg.) > Keks (sg.)/Kekse (pl.) plötzlich ein fantastisches Anschauungsbeispiel für eine ganze Menge sprachlicher Prozesse auftat.
Wenn wir hiermit also durch sind, haben wir Entlehnung, phonetische und orthographische Integration, Variation, Reanalyse und Sprachwandel abgehakt, Methoden der historischen Sprachwissenschaft angeschnitten und nebenbei eine urbane Legende entzaubert. Nur die Redewendungen, die müssen draußen bleiben. Freuen Sie sich nen Keks!
Die Etymologie
Cakes ist zunächst im Mittelenglischen um 1230 das erste Mal als kake belegt (OED 2011). Es geht vermutlich auf das Altnordische kaka zurück, wo es ‘Kuchen’ bedeutete (Köbler 2003). Auch heute noch ist es in dieser Form und Bedeutung im Schwedischen und Isländischen zu finden. Es ist mit dem neuhochdeutschen Kuchen verwandt, ebenso mit dem Niederländischen koek ‘Kuchen’ und geht auf den west- und nordgermanischen Stamm *kokon- zurück. Eine lange vermutete Verwandtschaft zum lateinischen coquere ‘kochen, backen’ kann nicht bestätigt werden (OED 2011).
Der OED gibt die Definition für die Verwendung von cake etwa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts so an:
A comparatively small flattened sort of bread, round, oval, or otherwise regularly shaped, and usually baked hard on both sides by being turned during the process.
‘Eine vergleichsweise flache Art Brot; rund, oval oder anderweitig gleichmäßig geformt und normalerweise durch Wenden im Backprozess beidseitig kross ausgebacken.’
Dazu kommen allerhand spezialisierte, oftmals lokale Besonderheiten, was einen cake ausmacht. Allen gemein ist, dass es sich um ein kross gebackenes Erzeugnis handelt und es sich somit klar vom Brotlaib oder Kuchen unterscheidet. Diese Definition folgt also generell dem, was wir unter ‘Keks’ verstehen oder mit ‘Gebäck’ allgemein überschreiben könnten. In den letzten 100 Jahren hat cake diese Bedeutung im Britischen Englisch weitgehend an biscuit weitergereicht, welches als Lehnwort aus dem Mittelfranzösischen bescoit im Mittelenglischen erstmals auftaucht. Allerdings ist — je nach Region — cakes bis heute als Sonderform des biscuit zu sehen.
Die Verwandtschaftsbeziehung zwischen Kuchen und Keks findet sich auch im Niederländischen, das dem Amerikanischen Englisch über koekje ‘Keks’ vermutlich den cookie gab. Koekje ist der Dimunitiv von koek ‘Kuchen’, also wörtlich ‘kleiner Kuchen’. Allerdings erklärt diese Etymologie nicht die Verwendung von cookie im Schottischen Englisch für Keks (OED 2011). Eine Beziehung zwischen Brot und Kuchen zeigt sich in (süd)deutschen Dialekten: dort heißt es für Keks oft brödle oder breedle; diese Bezeichnungen schwanken lokal. Das für Keks regional auch verwendete Gutsle ist für mich zum Beispiel diskussionslos ein Bonbon.
Was zeigt uns das? Erstens sind kulinarische Begrifflichkeiten notorisch schwer zu diskutieren, weil sie nicht nur von der regionalen Spezialität selbst abhängen, sondern auch von lokalen Sprachgewohnheiten. Auffällig sind zweitens die munteren Migrationen von Begriffen in der Geschichte und zwischen Sprachgemeinschaften. Da wird schonungslos aus anderen Sprachen entlehnt wenn’s der Differenzierung dient; vom Import und Export der Spezialität ganz zu schweigen. Wie aber kam der Keks nach Deutschland?
Der kulinarische und linguistische Import
Wer im Internet zur Geschichte des Kekses forscht stößt unweigerlich auf Hermann Bahlsen. Das Knabberimperium aus Hannover ist so untrennbar mit der linguistischen und kulinarischen Entwicklung des Kekses verbunden, dass sich jenseits der faktischen Verdienste auch allerhand zweifelhafte Legenden um den Leibnizkeks ranken.
Hermann Bahlsen (1859–1919) wird gerne sowohl die Erfindung des Kekses als auch die Schöpfung des Wortes Keks zugeschrieben. Kommen wir zunächst zur unstreitbaren Geschichte: Bahlsen lernt während eines Aufenthalts in Großbritannien in den 1880er Jahren die englischen Cakes kennen, die bis Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Gebäcktradition gehören. Im Jahr 1889 übernimmt Hermann Bahlsen in seiner Heimatstadt Hannover das “Fabrikgeschäft engl. Cakes- und Biscuits” (Arnu 1999). (Allein der Name des übernommenen Geschäfts suggeriert, dass Cakes in einer englischen Tradition bereits auf dem deutschen Markt vertreten waren. Er kann also allein deshalb schon gar nicht der “Erfinder” des Kekses gewesen sein.) Bahlsen nennt sein neues Unternehmen “Hannoversche Cakes-Fabrik H. Bahlsen”.
1891 wirft Bahlsen unter dem Namen “Leibniz-Cakes” die Kekse auf den Markt, für die er viele Auszeichnungen erhält. Da zur damaligen Zeit Zucker teuer und eine (englische) Cakeskultur vor allem den Reichen vorbehalten ist, setzt sich Bahlsen zum Ziel, die Kekstradition auch für die breite Bevölkerung erschwinglich zu machen. Er verbessert die Rezeptur und kreiert ein Markenprodukt in Fabrikfertigung. Mit dem Erfolgt wächst sein Unternehmen in der Folge rasant. Bahlsen entwickelt eine bahnbrechende Verpackung, die die Kekse frisch hält (1904) und setzt die Fließbandfertigung ein (1905). Ab September 1911 vertreibt Bahlsen seine “Cakes” als “Keks”, 1912 ändert sich der Unternehmensnamen entsprechend in “H. Bahlsen Keks-Fabrik” (Bahlsen-Firmenarchiv, persönliche Kommunikation).
Aus diesen Informationen entspinnen sich eine ganze Reihe von Legenden: So wird Hermann Bahlsen zum “Wortschöpfer” von Keks, er “wagte” es, Keks “einzudeutschen” (hier), wahlweise erfand das “Kunstwort” Keks. Er “bewegte” den Duden nach langer Diskussion dazu, Keks 1911, 1915, 1916, 1919 oder 1929 schlussendlich “offiziell” aufzunehmen (z.B. hier, hier, hier, hier, hier, hier oder hier). In dramaturgisch aufgemotzten Varianten führte Bahlsen mit der Duden-Redaktion eine “jahrelange Auseinandersetzung, bis diese sein Kunstwort 1915 schließlich akzeptierte” (hier), laut anderer Meldungen riefen die erbosten “Sprachhüter” beim Duden einen Wettbewerb zur Prägung eines “deutschen” Begriffs aus (hier und hier). Aus diesem ging “Knusperchen” hervor, welches sich aber nicht durchsetzte und der Duden deshalb “einlenken musste” (hier).
In diesen Legenden finden sich viele offensichtliche und weniger offensichtliche Fehler. Zunächst: Keks ist kein Kunstwort. Es ist schlicht eine Entlehnung aus dem Englischen oder, wem das lieber ist, ein vollständig integrierter Anglizismus. Zweitens: 1911, 1916 und 1919 erschien gar kein Duden (Duden 2011). Drittens: Den Wettbewerb um einen Begriff rief nicht der Duden aus, sondern die 1880 gegründete Bielefelder Keksfabrik “Stratmann & Meyer” (Arnu 1999). Das Gewinnerwort Knusperchen, übrigens, kann so verschmäht nicht gewesen sein, weil es seit 1915 in jeder Auflage und bis heute im Duden steht.
Bleibt die Frage nach der “Auseinandersetzung” mit dem Duden. Dafür findet sich laut Firmenarchiv nirgendwo ein Hinweis (persönliche Kommunikation); da will man bei Bahlsen aber noch die unsortierten Privatunterlagen von Hermann Bahlsen umfassend auswerten. Alle oben verlinkten Texte haben gemeinsam, dass die Legende nahezu so wortwörtlich übereinstimmt, sodass allein an der Jahreszahl, wann der Duden “eingelenkt” haben soll, erkennbar ist, dass jetzt nicht alle bei einem oder alle voneinander abgeschrieben haben.
Reiner Meyer drückt sich in einer Fußnote seiner Dissertation über die Werbung der Firma Bahlsen vorsichtiger aus: “Hermann Bahlsen hatte jahrelang für diese Änderung der Schreibweise gekämpft” (Meyer 1999: 11); den Duden erwähnt er nicht. Meyer beruft sich auf die Festschrift von Kessler (1964) zum 75. Firmenjubiläum, dir mir jetzt ohne größeren Aufwand nicht vorliegt. Zwar lässt sich aus der online verfügbaren Unternehmenschronik bei Bahlsen und Leibniz nicht ableiten, dass man die direkte Quelle dieser Legendenschreibung wäre. Allerdings ist die dort gewählte Formulierung
Hermann Bahlsen deutscht das englische Wort “Cakes” in “Keks” ein. Wenige Jahre später wird die Schreibweise offiziell anerkannt und in den Duden aufgenommen.
Bahlsen GmbH & Co KG, bahlsen.com, Abschnitt 1911.
sehr unglücklich und suggeriert a) eine Bahlsen-Innovation und b) einen gewissen Zusammenhang. Neigt man darüber hinaus zu einem grobschlächtigeren Pathos mit eigenartig schizophrener Haltung zum heutigen Duden, fabuliert man da schnell eine “jahrelange Auseinandersetzung mit der Dudenredaktion” hinein. Schwupps ist das Virus in Umlauf gebracht, über dessen Unkurierbarkeit man sich auch bei Bahlsen wundert.
Von phonetischer zu orthographischer Integration
Vielleicht hilft uns die sprachwissenschaftliche Sicht. Nach der folgenden Argumentation setzte Bahlsen 1911 nämlich lediglich eine längst eingebürgerte “deutsche” Aussprache auch orthographisch um. (Auch hier war er nicht der erste, dazu später mehr.) Denn mindestens seit 1898 sprach man Cakes wie das heutige Keks aus. Sehen wir uns dazu einen Werbeslogan des Unternehmens an:
Was ißt die Menschheit unterwegs?
Na, selbstverständlich Leibniz-Cakes!Bahlsen GmbH & Co KG, leibniz.de, Abschnitt 1898.
Unter der plausiblen Annahme, dass sich der Spruch auch reimen sollte, können wir mit größter Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich Cakes auf unterwegs reimte (und nicht umgekehrt). Die Analyse der Reimform ist eine der Möglichkeiten in der historischen Sprachwissenschaft, die Aussprache in früheren Sprachstadien zu rekonstruieren. Dazu wäre natürlich eine Absicherung der Aussprache von unterwegs notwendig, aber das schenken wir uns jetzt mal.
Nun ließe sich argumentieren, dass Bahlsen die deutsche Aussprache eingeführt und mit diesem Slogan verbreiten und salonfähig machen wollte. Dagegen spricht aber bereits ein Lexikoneintrag aus dem Jahr 1879 [1886], der zwar die englische Schreibweise angibt, aber auch einen “Aussprachehinweis” mit Dehnungs‑h liefert:
Cake, m. engl. (spr. kehk), ‘Kuchen’
Samostz (1879 [1886]).
Fassen wir zusammen: Bereits vor der Einführung des Leibnizcakes 1891 war cakes phonetisch eingebürgert. Davon zeugen auch Abhandlungen in Zeitschriften in der Folgezeit um die Jahrhundertwende, die eine orthographische Eindeutschung vorschlagen ({} bezeichnen Jahreszahlen, die GoogleBooks ausspuckt und die nicht in Hardkopie verifiziert wurden bzw. werden konnten):
Das früher allgemein übliche französische “Biscuit” wird jetzt mehr und mehr verdrängt durch das englische Cakes. Diese englische Mehrzahl-Form gebraucht man in Berlin (…) auch für die Einzahl: “Gieb mir ein Keeks” ! Will man mehrere haben, so bittet man um einige “Keekse” .
Dunger {1889}. (Die Quelle dieser Stelle ist in einer Wikipedia-Diskussion als eine andere Publikation aus dem Jahr {1899} angegeben).
…wir nicht auf den Namen eines in einigen Gegenden üblichen alten Gebäcks zurückgreifen, etwa auf das friesische Knecker, das auch ein hartes Gebäck bezeichnete, so sollten wir ruhig das Wort in deutscher Orthographie übernehmen, etwa als Keks oder Keeks, Plural Keekse.
Teubner, B.G. {1904 oder 1905}.
Außerdem finden sich im Kernkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS) mit Sprachdaten des 20. Jahrhunderts für 1903 sowie für 1911 unter anderem folgende Belege:
Frühstück -: Kamillen‑, Pfefferminztee oder Hygiama mit Milch, Weißbrot, Keks, Zwieback, Gelee, Bienenhonig. 9 Uhr -: frischgepreßter Obstsaft oder bei Abgemagerten einen Teller Haferschleim. (DWDS, 1903)
An diesem Abend kam das Fräulein nicht zum Essen, ließ sich von Frieda Gontram nur ein wenig Tee und ein paar Keks hinaufbringen. (DWDS, 1911)
Und im Ausstellungskatalog des Deutschen Reichs für die Weltausstellung 1900 in Paris findet sich (via Wikipedia):
Gebr. Tiede * Brandenburg a. Havel * Deutsche Keeks-Werke, eigene Mühlenwerke. Keeks und Waffeln. (…)
Witt (1900: 259).
Man sieht: Nach der phonetischen Integration folgte die orthographische. Die deutschen Schreibung schwankt zwischen <Keks> und <Keeks> (<Kehks> findet sich nicht). Verwunderlich ist diese Unsicherheit nicht: das <e> steht für einen langen Vokal [e:], den man mit Vokaldopplung <ee> eben auch orthographisch ausdrücken kann. Zwei Belege aus dem DWDS von 1911 sind aufgrund der zeitlichen Nähe nicht eindeutig von den Leibnizkeksen zu trennen, aber ich denke, die allgemeine Tendenz ist klar: Schon lange vor Hermann Bahlsen verwendete man eine eingedeutschte Schreibweise.
(Spätestens hier drängt sich die Frage auf, weshalb Bahlsen trotz seiner viel zitierten Präferenz für eine “deutsche” Schreibweise gut 20 Jahre verstreichen ließ, ehe er 1911 seine Cakes Keks nannte. Aber nun gut.)
Schreiten wir also zur Offiziellmachung.
Die Rolle des Duden
Richtig ist, dass die Schreibweise <Keks> erst in der 9. Duden-Auflage im Jahr 1915 auftaucht, also vier Jahre nach der Bahlsen-Umstellung. Hier ist <Kek> sg. und <Keks> pl. als Haupteintrag zu finden, <Keks> im Singular taucht erst in der 11. Auflage 1934 auf. Wenn ich aber schon so anfange, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dies nur die halbe Wahrheit ist.
In der 7. Auflage von 1902 findet sich neben dem Haupteintrag <Cake> auch <Kake>, in der 8. Auflage von 1905 ist der Haupteintrag schon <Kake>, außerdem sind bereits die Schreibweisen <Keek> für den Singular und <Keeks> für den Plural aufgeführt. Wer also nur nach der heutigen Schreibweise <Keks> sucht, muss zwangsläufig enttäuscht werden. Fazit: Konrad Duden wehrte sich vermutlich weder gegen einen Anglizismus, noch gegen eine eingedeutschte Schreibung. Im Gegenteil.
Ein Erklärungsansatz für die wachsende Akzeptanz einer k‑Schreibung liefert außerdem das Jahr 1901. Damals tagte die “II. Orthographische Konferenz” zur Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung. Im Zuge der Reform wurde unter anderem die Eindeutschung von Fremdwörtern mit <c> hin zu <k> bzw. <z> beschlossen. Das betraf natürlich hauptsächlich lange eingebürgerte Fremdwörter aus dem Lateinischen oder Französischen. Die große Wirkung dieser Änderung lässt sich bei GoogleNGram am Verlauf der Varianten von Centrum/Zentrum, Circus/Zirkus, Cacao/Kakao oder Citrone/Zitrone ablesen: Alle Wortpaare “tauschen” um etwa die gleiche Zeit, also kurz nach der Jahrhundertwende. Exemplarisch hier das deutliche Ergebnis für Centrum/Zentrum, alle anderen Paare liefern ein ähnliches Bild:
Verlauf von Centrum (blau) und Zentrum (rot), NGramlab.
Auch wenn die Tendenz ähnlich ist, ist die Auswertung des Verlaufs der Variante Cakes/Keks im NGramlab beinahe nutzlos: Die Suche liefert zu viele Ergebnisse in rein englischer Sprache (cakes), NGram ist mit der deutschen Frakturschrift und besonders dem <k> oft überfordert oder spuckt Belege aus, in der Koks sehr viel wahrscheinlicher ist. Viele Treffer kommen auch aus dem Niederdeutschen kek(s) ’sehen, kucken’, außerdem muss es irgendwann mal einen Herrn Keks gegeben haben.
Und Konrad Duden selbst?
Mit all diesen Argumenten ist natürlich die These vom Streit nicht eindeutig vom Tisch. Hinweise dafür, dass die Auseinandersetzung aber trotzdem nahezu ausgeschlossen ist, liefert Konrad Duden selbst, indem er sich im Vorwort zur 7. Auflage (1905) dankenswerterweise ausgerechnet zum Keks äußert:
In betreff der Dinge, für die in den amtlichen Regelbüchern keine Vorschrift gegeben ist, habe ich mich bemüht, überall so zu verfahren, wie es dem Geiste der amtlichen Vorschriften entspricht. So habe ich mich, besonders wo es sich um geläufige Fremdwörter und bekannte Eigennamen handelt, in der Regel für die deutsche Lautbezeichnung entschieden, und bin in einigen Fällen (…) sogar so weit gegangen, Vorschläge für eine lautgetreue Schreibung zu machen (…), z.B. Keeks statt Kakes oder Cakes (…).
(…)
Das Wort [hier: Chaussee] ist völlig eingebürgert, und daher sollte man es auch in heimisches Gewand stecken und “Schossee” schreiben. Und nicht anders verhält es sich mit dem schon oben erwähnten Worte “Cakes”. Diese Schreibung ist ein Hohn auf die Gesetze der neuen Rechtschreibung. In demselben Worte den k‑Laut einmal durch C bezeichnen und einmal durch K — das geht nicht! Aber auch die Schreibung “Kakes” hat wenig bestechendes. Warum sollten wir da nicht, wie wir schon “Coaks” durch “Koks” ersetzt haben, so auch “Keeks” schreiben?
Duden (1905 [1910]: vii, xvii).
Was Konrad Duden hier phasenweise in recht blumig-polemische Worte packt, ist der Theorieschule zuzurechnen, die während den Standardisierungsversuchen nicht eine historisch-etymologische, sondern eine eher phonetische oder lautgetreue Orthographie favorisierte. Duden betrieb mit den Einträgen und der Variantentolerierung sowie der schrittweisen Anpassung an die Schreibung <Keks> eine sogenannte “gezielte Variantenführung” (Nerius 1991: 247). Damit ist gemeint, dass Duden a) eine Vereinheitlichung der Orthographie zum Ziel hatte und b) bei bestehenden Unsicherheiten zur Verständlichkeit in der Breite der Bevölkerung zu einer praktikablen da lautgetreueren Schreibung führen wollte (Nerius 1991: 245f).
In allgemein übereinstimmenden Gebrauch greift [Konrad Duden] nicht ein, in den schwankenden Fällen bevorzugt er jedoch die seinen orthographietheoretischen Positionen entsprechenden Schreibungen.
Nerius (1991: 248).
Das wird sich auch nach Dudens Tod 1911 nicht dramatisch geändert haben. So wirkt die heutige Fabel geradezu wie Wunschdenken: Die Duden-Redaktion von damals erboste Sprachschützer, gar Anglizismenhasser? “Bahlsen vs. Duden”, es wäre ja ganz nett gewesen — und passt heute wohl noch einer ganzen Menge Leute ganz gut ins Bild (vom Duden).
Warum der “Keks” dieses Jahr trotzdem 100 wird
Muss Bahlsen deshalb seine Unternehmensgeschichte neu schreiben? Nö. Vielleicht sollte man die eine oder andere Formulierung auf der Webseite und in etwaigen Pressemeldungen glätten, aber prinzipiell wird der Keks dieses Jahr 100, zumindest bei Bahlsen. (Ich werde zu gegebener Zeit noch eine schnellrecherche- und journalistenfreundliche Kurzfassung “Der Keks — wie’s wirklich war” veröffentlichen.)
Auch wenn der Firmengründer Bahlsen sich doch vergleichsweise konservativ zeigte und sich mit der Eindeutschung Zeit ließ, so fällt auf, dass seine Schreibweise erst nach dieser Umstellung im Duden auftaucht, obwohl sie vorher belegt ist. Hier kann als Erklärung vermutlich der durchschlagende Erfolg der Leibnizkekse herhalten, auch aufgrund des Gewöhnungseffekts beim Schriftbild. Immerhin haben wir den Cakes gegen den Keks getauscht, aber die Chaussee behalten.
Diese Prozesse sind nicht ungewöhnlich: Herr Google hat auch nicht die Suchmaschine erfunden, trotzdem googeln wir heute im allgemeinen Sprachgebrauch, unabhängig vom verwendeten Anbieter. Wir könnten ja lycossen oder altavistern. (Bevor sich jemand zur Klugscheißerei berufen fühlt: Ich weiß, dass es keinen Herrn Google gibt und Lycos oder AltaVista auch nicht die ersten Suchmaschinen waren). Aber Google hat die Suchmaschinen optimiert und revolutioniert. Auch mein Tempo ist nicht von wem auch immer Tempo gerade gehört und mein Tesa nicht von Beiersdorf. Soll heißen: <Keks> war um die Zeit der orthographischen Eindeutschung vermutlich auch maßgeblich vom Erfolg des Leibnizkeks beeinflusst.
Und so darf natürlich auch Bahlsen die Feste feiern wie sie fallen: Der Keks wird am 9. September halt 100 Jahre alt.
Herzlichen Glückwunsch!
Ein Buttercakes-Kind
Lesen Sie in Teil II: Wie aus cakes erst Keks und dann Kekse wurden — eine kleine Korpusanalyse.
(Teil II sollte eigentlich im Lauf der Woche erscheinen. Dies wird sich etwas verzögern, da der Sturzregen in Hamburg am letzten Montag durchs geöffnete Fenster meine gesamte Elektronik erledigt hat und der neue Rechner mit Hardwarefehler zurück in die Reparatur musste.)
Vielen Dank
Ich bedanke mich recht herzlich bei der Bahlsen GmbH & Co KG in Hannover für die freundliche Unterstützung. Ganz besonderer Dank geht an Birgit Nachtwey vom Bahlsen-Firmenarchiv für die ausführliche und hilfreiche Recherche und für die Einblicke in die Geschichte des Kekses.
Danke auch an Jan Wohlgemuth für einen sehr hilfreichen Literaturhinweis.
Literatur
Arnu, Titus. 1999. Hermann Bahlsen. Berlin.
Duden. 2011. Auflagengeschichte. [Link]
Duden, Konrad. 1905 [1910]. Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache: nach den für Deutschland, Österreich und die Schweiz gültigen amtlichen Regeln. 8., neubearbeitete Auflage, 7. Neudruck. Leipzig.
Dunger, Hermann. {1889}. {Fremdwörter}. Leipzig. [Link über GoogleBooks]
Dunger, Hermann. 1899. Wider die Engländerei in der deutschen Sprache. Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 14: 241–252.
Kessler, Hansi [H. Bahlsen Keksfabrik KG, Hannover]. 1964. Bahlsen 1889–1964. Hannover.
Köbler, Gerhard. 2003. Altnordisches Wörterbuch, 2. Auflage. [Link]
Meyer, Reiner. 1999. Die Reklamekunst der Keksfabrik Bahlsen in Hannover von 1889–1945. Dissertation, Georg-August-Universität zu Göttingen. [Online-Ausgabe]
Nerius, Dieter. 1991. Position und Rolle von Konrad Duden in der Entwicklung der deutschen Orthographie. In: Nerius, Dieter & Jürgen Scharnhorst (Hrsg.). Studien zur Geschichten der deutschen Orthographie. Germanistische Linguistik 108–109: 239–275.
Oxford English Dictionary (OED) online. 2011. “cake, n.”, [Link]
Samostz, Emanuel. 1879 [1886]. Dr. Friedrich Erdmann Petri’s Handbuch der Fremdwörter in der deutschen Schrift- und Umgangssprache, 13. Auflage, 2. Abdruck. Leipzig.
Teubner, B.G. {1904 oder 1905}. Zeitschrift für den deutschen Unterricht, Band 18. [Link über GoogleBooks]
Witt, Otto N. [Red.]. 1900. Weltausstellung in Paris 1900: amtlicher Katalog der Ausstellung des Deutschen Reichs. Berlin. [Link]
Spannend! Da hätte ich gern mitrecherchiert!
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Das Konzept ‘Libera/o’ verliert im modernen Fußball tatsächlich an Bedeutung, aber der Begriff war während der WM 2011 dennoch wichtig, da Brasilien (wenn auch als einziges Team) noch mit dieser “antiquitierten” Taktik spielte.
Wie man in der Verwendung von “Keeperin” einen Mangel an Bodenständigkeit und Sprachgefühl ausmachen kann, habe ich mich beim Lesen des Interviews auch schon gefragt… Ich höre den Ausdruck regelmäßig auf Bolz- und Fußballplätzen — wenn das mal nicht ein Zeichen von Bodenständigkeit ist.
Sorry, falscher Beitrag. Zu viele Tabs gleichzeitig offen gehabt…
Nur mal als Zusatz zur Aussprache von Cakes:
Meyers Großes Konversations-Lexikon (1905)
Cakes (engl., spr. keks), s. Biskuit
Ja, auf den Hinweis bin ich auch gestoßen. Er war zeitlich aber nach dem Lexikoneintrag von Samostz und nach dem Bahlsen-Werbespruch, deshalb ist er hier nicht aufgeführt. Aber auch hier natürlich ein deutliches Zeichen, dass die Aussprache längst dem deutschen Lautinventar angepasst war. Vielen Dank!
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Hallo,
vielen Dank für die ausführliche Recherche! Dürfen wir noch auf Teil II hoffen? (-;
Ergänzung zu den Zitaten:
1) Im Text zitierst du aus dem “Vorwort zur 7. Auflage (1905)” des Dudens, das ist aber die 8. Auflage, wie du unter “Literatur” auch richtig angibst.
2) Bei dem Zitat von Dunger liegt die WP richtig, es handelt sich um den Aufsatz “Wider die Engländerei in der deutschen Sprache” von 1899, und zwar um die erweiterte Ausgabe, die als eigenständiges Buch im Verlag des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins erschien. Diese erweiterte Fassung gibts bei Google-Books. Der Abschnitt über Keekse erscheint nicht(!) in der kürzeren Version aus der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, die du unter “Literatur” angibst (die Stelle findet sich in Spalte 244, aber eben ohne die Bemerkungen zu den Keeksen). Das bei Google-Books erscheinende Buch “Fremdwörter” ist dieselbe erweiterte Fassung, bloß mit falscher Titel- und Jahresangabe.
3) Was du als “Teubner” zitierst, stammt aus der “Zeitschrift für den deutschen Unterricht”, 18. Jahrgang 1904, 3. Heft, Seite 208. Die Rubrik heißt “Sprechzimmer”, den ersten Teil, “Richtig oder falsch?”, schrieb Reimer Hansen aus Oldesloe. (Die Zeitschrift erscheint im Verlag B. G. Teubner.)
Freundlich grüßt
Artemis
Eine Bemerkung zu den Aussprachehinweisen in Nachschlagewerken:
In der 4. Auflage des Meyers (Band 3, 1886) findet man “Cakes (engl., spr. kehks)”. Beim Blättern und Suchen habe ich dann aber auch folgende Einträge gefunden:
Cape (engl., spr. kehp)
Cape Coast Castle (spr. kehp kohst kässl)
Cape Fear River (spr. kehp fihr riwwer)
Band 10, 1888:
Lake (engl., spr. lehk)
Lake-school (engl., spr. lehk-skul)
Band 13, 1889:
Rainy Lake (spr. rehni léhk)
Band 14, 1890:
Salt Lake City (spr. ssáhlt lehk ssitti)
Abweichend aber: Slave Lake (spr. slähw lähk)
Band 15, 1890:
Traders (engl., spr. trehders)
Trades’ Unions (engl., spr. trehds juhnjöhns)
In der 6. Auflage (1905–09), die Peter oben zitiert, steht an diesen Stellen statt “eh” immer ein e mit Längestrich (ē); auch bei “Cakes (engl., spr. kēks)”, was man am Faksimile bei zeno.org erkennen kann. Über zeno.org findet man dieses “eh” in Lake und Cape auch in Pierer’s Universal-Lexikon und im Brockhaus. Weitere Beispiele:
Pierer, 1857–1865:
Slave States (engl., spr. Slehv Stehts)
Brockhaus, 1911:
Free-trade (spr. frih trehd)
Punja(u)b Native States (spr. pönndschahb nehtiw stehts)
Slave Lake (spr. ßlehw lehk)
Herders Conversations-Lexikon, 1854–1857:
Trade (trehd), engl., Handel
Mit anderen Worten: Das “eh” scheint die damals übliche deutsche Lautschrift für die englische(!) Aussprache zu sein. Das wird die Aussprachekünste der Leserschaft natürlich nicht beflügelt haben, klar, aber es ist dann eben kein deutliches, sondern lediglich ein indirektes “Zeichen, dass die Aussprache längst dem deutschen Lautinventar angepasst war”, oder?
Freundlich grüßt
Artemis