Das Etymologiequiz ist vorbei und ich will ein paar der Wortpaare in den nächsten Tagen noch ein wenig näher beleuchten. Los geht’s mit dem Daumen und seinem Partnerwort …
… Tumor, die sich eine indogermanische Wurzel teilen. Die bezeichnete wohl ganz neutral etwas Geschwollenes, Dickes – was sich sowohl für den Daumen als dicksten Finger als auch für eine Wucherung, die eigentlich nicht vorhanden sein sollte, anbietet. Den Weg, den die beiden Wörter nehmen, habe ich (vereinfacht) hier dargestellt:
Unsere heutige Form Daumen lässt sich also lautgeschichtlich sehr gut zurückverfolgen. Der entlehnte Tumor hingegen hat gar keine Lautwandelprozesse der deutschen Sprachgeschichte mitgemacht, weil er erst vor relativ kurzer Zeit (im 19. Jahrhundert) aus dem Lateinischen kam. Auch vor der Entlehnung hatte das Deutsche schon ein Wort für ‘Tumor’, nämlich Geschwulst (von schwellen abgeleitet).
Interessant ist die Veränderung von Daume zu Daumen, die sich erst in relativ neuer Zeit vollzogen hat: noch im Deutschen Wörterbuch ist das Hauptlemma Daume. Das ist kein Lautwandel, es gab also keinen Prozess, bei dem einfach an auslautendes Schwa ein n angehängt wurde, sondern Analogie. Das Wort Daume hat seine Deklinationsklasse geändert, und damit auch seine Form. Ging es vorher noch wie Barde (der Barde, des Barden, dem Barden, den Barden), so geht es heute wie Haufen (der Haufen, des Haufens, dem Haufen, den Haufen):
Kasus | älter | neu | |
NOM/AKK | daume | → | daumen |
GEN | daume-n | → | daumen-s |
DAT | daume-n | → | daumen |
Damit ist das Wort von der sogenannten “schwachen” zur “starken” Flexion übergegangen. (Schwach: Alle Formen außer der Nominativ Singular gehen auf -(e)n.) Das -n der Flexionsendung wurde als Teil des Stammes uminterpretiert und man verpasste diesem vermeintlichen Stamm eine neue, klassenangemessene Endung im Genitiv Singular, das -s.
Solche Klassenwechsel sind gar nicht unüblich, gerade die schwache Flexion entledigt sich seit einigen Jahrhunderten zunehmend aller Mitglieder, die ihr nicht in den Kram passen, so z.B. Balken, Brunnen, Knochen, Schaden, Garten und Magen, die früher einmal balke, brunne, knoche, schade, garte und mage waren. Aktuell auf der Kippe stehen u.a. der Funke(n) und der Glaube(n). Dieser geordnete Rückzug hat seine eigenen, sehr spannenden Regeln, vielleicht schreibe ich dazu ein andermal was.
Das lateinische Wort für ‘Daumen’ (und ‘großer Zeh’) lautet übrigens pollex, dessen Herkunft nicht klar zu sein scheint, aber es hat auf jeden Fall mit der indogermanischen tuəm-Wurzel nichts zu tun.
Quellen:
- De Vaan, Michiel (2008): Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages. Leiden, Boston.
- Grimm, Jacob und Wilhelm (1854–1960): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig.
- Nübling, Damaris (2008): Was tun mit Flexionsklassen? Deklinationsklassen und ihr Wandel im Deutschen und seinen Dialekten. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 75.3, 282–330.
- Pokorny, Julius (1959): Indogermanisches etymologisches Wörterbuch. Bern.
- Seebold, Elmar (2002): Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Aufl. Berlin.
Wer solche Etymologie-Paare mag und des Englischen mächtig ist, hat vielleicht auch gefallen an Bradshaw of the future.
Dort werden in jedem Eintrag zwei Wörter vorgestellt, die etymologisch verwandt sind, wo man diese Verwandtschaft aber auf den ersten Blick nicht vermuten würde. (Beispielsweise “funky” und “thyme” oder “geezer” und “twit”.)
Danke für den Link! 🙂