Heute beschäftige ich mich mit einem der Kandidaten, bei denen nicht das komplette Material entlehnt wurde, nämlich dem Doppelkandidaten entfrienden/entfreunden. Hier haben wir es mit einer Ableitung zu tun. Ihre Bedeutung würde ich ungefähr fassen als: ‘eine bei einem sozialen Netzwerk/Computerspiel/… bestehende Verknüpfung (“Freundschaft”) wieder auflösen’.
Vor man entfrienden kann, muss man frienden!
Will man diese Bildung untersuchen, dann muss man sich zunächst einmal anschauen, wie ihre Basis, also frienden/freunden, zustande kam, wie man sie in den folgenden Beispielen findet:
Noch mehr Leute hier, die ihre Eltern bei Facebook nicht gefriendet haben? (Quelle)
Ich hab so viele Leute gefriendet, wenn ich nicht mehrmals täglich die Frienslist lesen würde, käme ich gar nicht mehr hinterher! (Quelle)
Ella Lingens Gymnasium kann man nicht “frienden” nur “liken”, oder? (Quelle)
Hab ein paar von euch gefreundet ‚hoffe das ist ok! (Quelle)
Auffällig ist, dass hier meist das Partizip vorkommt, d.h. über die Handlung öfter in der Vergangenheit gesprochen wird. Mir selbst kommt der Infinitiv schon fast ungrammatisch vor.
Zur Vorgeschichte von to friend und to unfriend im Englischen habe ich einen Extrabeitrag geschrieben, weil es hier so langsam ausuferte. Wer sich dafür interessiert, kann ja einfach rübergehen.
freunden vs. frienden
Wie das englische verwendet auch das deutsche Facebook, das oft als Inspirationsquelle angegeben wird, die Form freunden/frienden nicht selbst:
Die beiden verschiedenen Stämme, einmal nach dem englischen friend (also ein Lehnwort) und einmal nach dem deutschen Freund (also eine Lehnübersetzung), ähneln sich lautlich stark, sodass wahrscheinlich gar kein so großer Unterschied zwischen beiden wahrgenommen wird.
Zur Aufteilung zwischen den beiden: Eine ganz schmutzige Googlesuche lieferte 164 Treffer für +gefriendet, 421 für +gefreundet auf deutschsprachigen Seiten. Die zweite Zahl ist problematisch, weil da noch ganz andere Beispiele reinspielen, daher habe ich die Wörter noch einmal in Kombination mit Facebook gesucht, da stand es dann 61:95. Also mehr Beispiele mit Freund-Wurzel, aber wie belastbar die Zahlen sind, hmmm …
Wortgeschichte
Ich habe ja eben gesagt, dass die 421 gefreundet-Treffer problematisch sind. Das liegt daran, dass freunden im Deutschen gar kein neues Wort ist. Ganz im Gegenteil, es hat sogar einen Eintrag im Grimmschen Wörterbuch:
freunden, amicum facere, mhd. vriunden (wb. 3, 413).
1) transitiv, fast auszer gebrauch, man sagt befreunden, doch haften die redensarten: harte worte freunden nicht; recht scheidet wol, aber es freundet nicht; die warheit reden lautet wol, aber freundet übel; auch besteht im part. praet. gefreundet, und ‘einen freunden’ heiszt auch ihn freund anreden […]
2) refl. sich freunden, amicitiam jungere: viel werden sich mit euch freunden. Hutten […]
Ebenso gefreundet, mit einem viel breiteren Herkunfts- und Verwendungsspektrum (konnte ursprünglich auch ‘verwandt’ heißen, da die alte Bedeutung von Freund ‘Verwandter’ ist, vgl. auch im DRW).
Die Kennzeichnung für die frühere Bedeutung als “fast außer Gebrauch” könnte man dann wohl für heute auf “ganz außer Gebrauch” aktualisieren. (Bei Ngrams tritt es im 20. Jahrhundert kaum auf, allerdings sind auch die Treffer vorher sehr punktuell und könnten Korpusartefakte sein.)
Sprachgeschichtlich also eine Entwicklung, die ziemlich parallel zum Englischen verlaufen zu scheint: Frühere Form existiert (ihre Bildung liegt ja auch wirklich nahe!), gerät außer Gebrauch, neue Form wird gebildet, versteht jetzt aber unter Freund etwas ganz anderes.
Semantik und Abgrenzung
Die aktuelle deutsche Variante für to friend someone ist kompliziert: sich mit jemandem anfreunden oder sich mit jemandem befreunden. Außerdem hat sie den Nachteil, dass man nicht unterscheiden kann, ob es sich nun um eine traditionelle Freundschaft oder um einen elektronischen Kontakt handelt. Zugegeben, es gibt einen Überschneidungsbereich, aber da die beiden sich stark unterscheiden, sind verschiedene Wörter sehr nützlich. (Das merkt man auch daran, dass der Zustand, der kein eigenes Wort besitzt, (nach meinem Gefühl) oft mit einem Zusatz versehen wird: Wir sind bei Facebook befreundet.) Sonst entstehen schnell Missverständnisse über die Enge der Beziehung.
Neben frienden kenne ich auch noch das ältere adden (von to add ‘hinzufügen’), besonders aus dem Instant-Messenger-Kontext, es scheint aber feine semantische Differenzierungen zu geben.
Ich kenne Dich nicht mehr! Wie man sich entfreundet
Das als Vorgeschichte, jetzt aber zu entfreunden/entfrienden: Eine virtuelle Freundschaft kann man mit einem (reziproken) Klick beginnen – und natürlich auch wieder mit einem Klick beenden. Während das Ende einer Freundschaft durchaus auch langsam verlaufen kann, ist das Ende eines Onlinekontakts zunächst mal ein sekundenschnell vollzogener technischer Vorgang (egal aus welcher Motivation heraus), den man als solchen auch bezeichnen können muss.
Der Wortbildungsprozess
Man macht einen früheren Klick (das Freunden) wieder rückgängig. Und für’s Rückgängigmachen haben wir im Deutschen ein Superpräfix, nämlich ent-: So wie beim entkleiden die Kleidung entfernt wird, wird beim entfreunden ein Freund entfernt. (Ganz analog zum Englischen: to dress/undress, to friend/unfriend.)
Es handelt sich also um eine deutsche Wortbildung mit Fremdmaterial, wahrscheinlich von einer fremden Wortbildung inspiriert. Das muss nicht unbedingt so sein, man könnte ja auch die englische Bildung entlehnen und unfrienden oder unfreunden sagen. Ist teilweise auch passiert, Google liefert 26 Treffer für die direkte Entlehnung wie z.B. diesen. Die deutsche Bildung entfr(ie|eu)nden hat 235. (Um Treffer aus dem Sprachlog auszuschließen, habe ich nur bis zum 15.12.2010 gesucht, bei den Datierungsfähigkeiten von Google ist aber Vorsicht geboten.)
Wenn man sich die Basis anschaut, ergibt eine Google-Suche für friend 98 Ergebnisse, mit freund werden 533 angezeigt (und angeblich gibt es über 8600). Auch hier scheint also die deutsche Wurzel häufiger.
Zum Bezug auf das Englische: Er liegt nahe, es ist aber ziemlich wahrscheinlich, dass entfreunden auch mehrmals unabhängig “erfunden” wurde, das Bildungsmuster ist transparent und drängt sich geradezu auf, wenn man das Basisverb erst einmal hat.
Alter
Cosmas II ist bei der zeitlichen Verortung Fehlanzeige, im kompletten W‑Archiv gibt es keine Belege für entfreund*/entfriend*. (Für frienden, gefriendet*, gefreundet* auch nicht.) Wenn die Bildung schon älter ist, dann auf jeden Fall nicht in der Zeitung. (Obwohl es durchaus Berichte gibt.)
Eine vom heutigen entfreunden/entfrienden unabhängige Bildung findet sich über Google News schon 2004. Hier wurde das Wort analog zu befreunden gebildet, weil eine Art Zyklus beschrieben werden sollte (verzeiht den schlechten, klischeebeladenen Text):
Während Frauen sich ein Leben lang ununterbrochen befreunden, entfreunden und neu befreunden, wollen Männer Kontakte, die nicht so tuntig sind wie die von Siegfried und Roy, nicht so zweckmäßig wie bei Ernie und Bert und nicht so Mädchen-zickig wie bei Dieter Bohlen und Thomas Anders, die sich schon zweimal für immer, aber mindestens ein ganzes Leben lang verkracht haben. (Handelsblatt)
In diesem Sinn wurde entfreunden lange Zeit immer wieder verwendet und erhielt sogar einen kleinen Eintrag im Grimmschen Wörterbuch.
Die erste virtuelle Freundschaftsauflösung, die Google News dokumentiert, findet dann – natürlich in Anführungszeichen – 2007 beim Spiegel statt:
Früher war das kein Problem, alte Freundschaften durften unbehelligt entschlafen. Im Zeitalter der Freundeszentralen ist das nicht mehr möglich. Das “Entfreunden” wird zum ausdrücklichen Verwaltungsvorgang.
Die nächsten Belege bei den News finde ich erst wieder Anfang 2009 und in ähnlicher (geringer) Dimension 2010. Und auch das komplette Internet ist nicht viel ergiebiger! Eine Google-Suche fördert für 2000–2007 grade mal 24 Treffer zutage, viele davon kreative Bildungen im Prä-Facebook-Sinn. 2008 sind es 10, 2009 59 und 2010 schließlich 202. Das ist statistisch nicht zuverlässig, weil Google kein ausgewogenes Korpus ist und nicht so super datieren kann (Anatols Anglizismenkandidatenliste wird unter 2007 eingeordnet), aber es zeigt immerhin ein bißchen Tendenz.
Ach ja: Im Gegensatz zum englischen Facebook, das to unfriend auch auf der Seite nutzt, ist das bei der deutschen Variante noch nicht der Fall. Hier wird, recht brutal, von entfernen gesprochen.
Fazit?
Ich finde entfreunden oder entfrienden ziemlich schön, trotz fremdem Vorbild wird auf native Wortbildungsregeln zurückgegriffen und es wird ein Vorgang benannt, der einen Namen braucht. Toll finde ich auch die verschiedenen Stadien: unfrienden, entfrienden, entfreunden.
Ich könnte mir vorstellen, dass das Wort nach und nach scherzhaft auch auf echte Freundschaften angewendet wird und vielleicht sogar Sachen entstehen wie “Wir haben uns nach und nach entfreundet”, also die strikte Grenze zwischen Freund und Nichtfreund, die so ja nur im Facebooksinn bestehen kann, verwischt wird.
Bezüglich der Aktualität habe ich so meine Schwierigkeiten, es lässt sich einfach nicht zuverlässig datieren. Kam schon irgendwann in der letzten Zeit auf, aber lässt sich 2010 sicher bestimmen? Andererseits, je neuer, desto unwahrscheinlicher, dass es sich in großen Zahlen erfassen lässt …
In den Medien ist entfreunden offentlichlich noch nicht so recht angekommen – ob es trotzdem einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist? Facebook hat in Deutschland laut diesen Zahlen ca. 14.000.000 aktive Nutzer (d.h. Nutzer, die sich im letzten Monat mindestens einmal eingeloggt haben), das müsste dann ungefähr jeder 5,7te Deutsche sein. (Kommt mir etwas viel vor.) Die haben also alle die Chance, entfreunden zu kennen.
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Wegen der geringen Verwendungshäufigkeit war auch für mich schwer zu entscheiden, ob das Wort in die zweite Runde sollte. Im Google-News-Archiv waren aber alle echten Treffer von 2010 — 2009 kommt das Wort dort nur vor, um zu erklären, was unfriend heißen soll (unfriend war da nämlich das Wort des Jahres des Oxford English Dictionary). So habe ich es dringelassen. Jetzt müssen wir in den Beratungen sehen, wie wir die Datenlage beurteilen, die du hier zusammengetragen hast!
Bei dem Eintrag aus dem Grimmschen Wörterbuch reicht meine Phantasie nicht, um die Bedeutung des Beispielsatzes zu entschlüsseln. Was bedeutet entfreunden da?
Nicht nur das Oxford English Dictionary hat unfriend zum Wort des Jahres 2009 erkoren. Auch unseren niederländischen Brüder und Schwestern war es das Wort ontvrienden wert, es zum Wort des Jahres 2009 zu wählen. Und zwar online bei Van Dale, was eine gute Entsprechung zum deutschen Duden oder dem britischen Oxford Dictionary darstellt. Wer unserer Schwestersprache mächtig ist, kann unter dem Titel Defriending. Remediation van f/Friendship ein Essay über Internetfeundschaften und das Entfreunden lesen.
LG,
Charlie
Vielen Dank für den Hinweis! ontvrienden wird ja witzigerweise auch im Grimmschen Wörterbuch erwähnt, d.h. auch im Niederländischen gab es eine ältere, gleichlautende, aber nicht gleichbedeutende Form.
Ja, das Grimm-Beispiel hätte ich etwas elaborieren können/müssen. Wenn ich es richtig verstehe, heißt es da sowas wie ‘um Freunde berauben’, die Quelle des Belegs ist hier.
Ich habe aber ein bißchen bei Google Books gesucht und in den wenigen Belegen ein ziemlich breites (also eventuell nicht lexikalisiertes) Verwendungsspektrum gefunden.
Hier könnte ‘Freundschaft beenden’ gemeint sein, könnte aber auch ‘entfremden’ sein:
Dito hier:
Hier wird als Bedeutung frz. désabusé, also ‘desillusioniert’ angegeben.
Ja, die 14.232.960 aktiven “Facebook Nutzer” (dies ist die Original-Facebook-Schreibweise) sind nicht plausibel. Allein für Düsseldorf sind 606.680 Nutzer verzeichnet, und dies bei einer Gesamtbevölkerung, die laut Wikipedia am 31.12.2009 586.217 Menschen betrug. Es gibt in dieser Stadt also mehr “Facebook Nutzer” als Einwohner!
Mir scheint, dass Facebook sich von seinen Nutzern und der Realität entfremdet hat und dass diese Nutzer am Besten kollektiv Facebook entfrienden sollten. Es gibt ehrlichere Wege, seinen Bekannten die Freundschaft aufzukündigen.
Auch weiterhin ein schönes Bloggen
wünscht Dir
Charlie
Was die Nutzerzahlen angeht: Bitte nicht in die Falle tappen zu glauben, dass es zwischen Acounts und Menschen im wirklichen Leben eine 1:1‑Relation geben muss. (Ich kenne einige Leute, die mehr als einen Account haben, z.B. um unter einem Pseudonym aktiv sein zu können oder Leute zu beobachten, die den hauptaccount geblockt haben.) Außerdem zählen zu den benutzeraccounts auch solche, die Firmen, Institutionen etc. zugeordnet sind.
Hmja, ich bin davon ausgegangen, dass Leute mit mehreren Accounts (ich kenne da auch so einige …) die nicht alle gleich intensiv nutzen und dadurch eventuell durch das 30-Tage-Kriterium fallen und damit keinen so großen Verzerrfaktor darstellen.
Aber war und bin der Zahl gegenüber, wie gesagt, auch sehr skeptisch.
Ich weiß nicht, wo’s die Zahlen gibt oder worauf sie beruhen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass viele, die in der Nähe von Düsseldorf wohne, gerne in Düsseldorf wohnen würden. Aber das ist jetzt eine eher scherzhafte Einschätzung. So als alter Köln-Sympathisant…
Zum Inhalt komme ich morgen. Ist besser glaub ich. Hab so einen Braunshitstorm hinter mir. Oder so.
Und i und u liegen doch sehr freudsch nebenander auf sonner Tastatur!
Like!
Was mir (in Leipzig) gerade auffällt: bei den Sicherheitseinstellungen glaubt Fakebook, dass ich von Frankfurt a.M. aus eingeloggt sei. Vielleicht verzerren irgendwelche großen Einwählknoten da auch das Bild.
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