Von meiner Germanistik-Verwandtschaftshausarbeit sind ein paar Bröckchen fürs Schplock abgefallen. Es geht um den Wandel der Typologie von Verwandtschaftssystemen – also nicht darum, wie sich einzelne Wörter verändern (wobei ich darauf auch ein wenig eingehen will), sondern darum, wie sich komplette Systeme verändern. Und da kann sich erstaunlich viel tun. Ich will heute nur auf einen kleinen Teilaspekt eingehen, der die Elterngeneration (auch G+1 genannt) betrifft.
Dort werden im heutigen Deutsch zwischen Blutsverwandten zwei Unterscheidungen getroffen:
- Frau oder Mann? Mutter, Tante vs. Vater, Onkel
- In direkter Linie verwandt oder nicht? Vater, Mutter vs. Tante, Onkel
“Da drang ein Dutzend Anverwandten / Herein, ein wahrer Menschenstrom!”
Im Althochdeutschen gab es noch eine weitere Unterscheidung:
- Frau oder Mann? muoter, muoma, basa vs. fater, fetiro, oheim
- In direkter Linie verwandt oder nicht? muoter, fater vs. muoma, basa, fetiro, oheim
- Mütterlicherseits oder väterlicherseits? muoma, oheim vs. basa, fetiro
Die vier Bezeichnungen für die Geschwister der Eltern lauteten also:
(1) muoma ‘Schwester der Mutter’
(2) basa ‘Schwester des Vaters’
(3) fetiro ‘Bruder des Vaters’
(4) oheim ‘Bruder der Mutter’
Und hier für Leute, die es lieber visuell haben:
Ein solches System nennt man auch bifurcate collateral type.
“Da kamen Brüder, guckten Tanten, …”
Die Unterscheidung mütterlicherseits/väterlicherseits ist heute also verschwunden. Wenn man sich die Wörter anschaut, dann kommen sie einem aber alle noch bekannt vor. Wie kommt’s?
In meiner Abbildung habe ich die Cousins und Kusinen unterschlagen. Die gab es in althochdeutscher Zeit natürlich auch schon, unter anderem Namen. Wahrscheinlich hießen sie muomensun etc., waren also zusammengesetzte Bezeichnungen – besonders viele Quellen gibt es aber nicht gerade, ich habe nur einen Aufsatz von 1900 gefunden, der die Formen erwähnt, die meisten Darstellungen lassen sie einfach weg.
Schließlich kam es zu einem Bedeutungswandel. In einem ersten Schritt begann man, die Bezeichnungen für die Geschwister der Eltern auch für deren Kinder zu verwenden – die Tochter von Base oder Vetter (wir sind jetzt schon im Frühneuhochdeutschen!) wurde auch zur Base, der Sohn von Oheim und Muhme auch zum Oheim, etc. Die Bezeichnungen hatten jetzt also zwei Bedeutungen. Nach einem wilden Kuddelmuddel einigten sich die Begriffe dann endlich: Oheim und Muhme durften Bruder oder Schwester der Eltern bezeichnen, egal auf welcher Seite, und Base und Vetter bekamen den Job, deren Kinder zu übernehmen. Damit sind wir typologisch bei unserem heutigen System angelangt: Es wird zwar unterschieden, ob Schwester oder Bruder der Eltern, aber nicht von welcher Seite. Das nennt man auch lineal type. Von da an gab es nur noch auf der Wortebene Veränderungen:
“… Da stand ein Vetter und ein Ohm!”
Der Familiensegen stand bald schon wieder schief: Muhme und Oheim bekamen harte Konkurrenz, die neumodischen Bezeichnungen Tante und Onkel, aus dem Französischen entlehnt, machten sich ab Mitte des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts breit. Ungefähr Mitte des 20. Jahrhunderts war die Schlacht dann geschlagen, Tante und Onkel gingen siegreich hervor.
Auch Base und Vetter hatten zwischenzeitlich keine Ruhe gefunden, Anfang bis Mitte des 17. Jahrhunderts kamen Cousine und Cousin zu Besuch, und es gefiel ihnen so gut, dass sie blieben. Die Base warf Mitte des 20. Jahrhunderts das Handtuch, der Vetter führt noch Rückzugsgefechte.
Im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache habe ich mal ein bißchen herumprobiert, in der Hoffnung, den Niedergang von Muhme, Oheim, Base und Vetter sichtbar machen zu können. Base musste ich gleich rauswerfen, da waren zu viele Treffer mit der chemischen Bedeutung drunter. Muhme hatte kaum Treffer, Oheim und Vetter gingen so. Hier mal exemplarisch der Oheim – aufgrund der geringen Trefferzahl ist das Diagramm aber nur dazu geeignet, einen groben Eindruck zu bekommen:
Den Aufstieg von Onkel, Tante, Cousin und Kusine kann man leider nicht nachverfolgen, zumindest sehen die Unterschiede für mich völlig insignifikant aus. An den Zahlen kann man im Vergleich aber ganz gut sehen, welche Form sich durchgesetzt hat, nur eine Zunahme ist eben nicht erkennbar. Hier der Onkel1:
Fußnote:
1Die Riesenzahlen 1900 stammen übrigens vorwiegend aus Briefen von Wilhelm Busch an seine (ich nehme mal an) Nichte, 1960 kommen 134 der Treffer aus Martin Walsers Roman “Halbzeit”.
Bei der Gegenüberstellung von Muhme, Oheim vs. Base, Fetiro ist ein Fehler in der Reihenfolge unterlaufen, so sind es weiterhin weibliche gegen männliche Bezeichnungen.
Ansonsten: sehr interessant und informativ, toll!
*arg* Ausgebügelt! Danke!!
Sehr interessant und übersichtlich — mein Dank dafür 🙂
Ich geselle mich ja sehr spät zu diesem Eintrag, aber falls dieser Kommentar noch gelesen wird, würde mich doch interessieren, wann denn aus der Enkelin nift die Nichte geworden ist und aus dem Enkel neve der Neffe.
(Und dieser [f]/[x]-Wechsel ärgert mich schon seit langem… da gibt es ja ein paar Beispiele, auch am Beispiel Englisch/Deutsch (laugh und lachen), aber nie fallen mir mehr ein…)
Schnell nachgeblättert … Die Daten, die ich noch hier habe*, nennen für Neffe:
— ‘Sohn eines Kindes’: ahd. Zeit (750‑1050) bis Ende 18. Jh.
— ‘Sohn eines Geschwisters’: mhd. Zeit (1050–1350) bis heute
Also eine lange Überschneidungsphase von 1050–17nochwas. (Muss nicht heißen, dass es die ganze Zeit beide Bedeutungen bei allen Sprechern/in allen Dialekten hatte.)
Nichte gibt es für beide Generationen erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts (davor hatte man Niftel und Neffin, auch in der Doppelfunktion), die Enkelinbedeutung verschwindet 1800.
Ich würde mich darauf nicht hundertpro verlassen, wenn ich mich recht erinnere, wurden die ganzen Bedeutungen zwar sehr akribisch erhoben, aber anderswo findet man auch ganz andere Angaben.**
Fritz (1974)*** liefert eine ausführliche Betrachtung von Neffe, seine Angaben sind:
— Ahd. ‘Sohn eines Kindes’
— Mhd. ‘Sohn der Schwester’+‘Bruder der Mutter’ (gemein haben beide: eine Generation Abstand + Verbindung über eine weibliche Blutsverwandte)
Die Bedeutung ‘Enkel’ existierte wahrscheinlich zumindest dialektal weiter (weil sie später, bei Luther noch verwendet wird), ist aber nicht belegt.
— Späteres Mhd. ‘männlicher Verwandter allgemein’
— Fnhd. (17. Jh.) ‘Sohn eines Geschwisters’, wahrscheinlich aus dem Niederdeutschen wieder verbreitet, im Oberdeutschen gab es das Wort nicht mehr.
Das ch in Nichte kommt nach Fritz auch daher, dass das Wort aus dem Niederdeutschen übernommen wurde (hochdeutsch war das oben erwähnte nift(el)), das einen Wandel von ft zu cht hatte.
Ohjeh, ich fürchte, das war zu viel Antwort. Ich hoffe, Du kannst was damit anfangen!
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*Aus der Magisterarbeit von Marion Reyzl, “Die Geschichte der deutschen Verwandtschaftsbezeichnungen vom Althochdeutschen bis ins 20. Jahrhundert. Blutsverwandtschaft und Heiratsverwandtschaft”, Eichstätt 2000.
**Z.B. in Ariane Diepeveen (2003): Verwantschapstermen in de Germaanse taalen. Antwerpen. Sie setzt alles etwas früher an, scheint mir.
***Gerd Fritz (1974): Bedeutungswandel im Deutschen. Tübingen.
Es gibt kein zu viel Antwort 😉
Aber echt, danke! Als Hobbylinguist kann ich sowas den halben Tag lang lesen.