Weihnachtslieder geben eine Menge an sprachlichen Relikten her, die ich mir über die Feiertage ein bißchen anschauen will. Den Anfang macht …
(1) Ihr Kinderlein kommet
Schonmal gewundert, dass wir hier einen Plural mit Diminutiv (=Verkleinerungsform) haben? {kind}{er}{lein}?
Substantiv: {kind}
Pluralendung: {er}
Diminutiv: {lein}
Im Neuhochdeutschen tritt das {lein} ja direkt an das Substantiv im Singular, erwartet wäre also {kind}{lein}:
“Diminutiv, Deminutiv, Verkleinerungsform
Zu vielen Substantiven werden durch Anfügung der Suffixe ‑chen oder ‑lein Verkleinerungsformen gebildet: Haus — Häuschen, Buch — Büchlein.”
(Wahrig, 1997, S. 54)
Bei Kinderlein muss es sich also um eine veraltete Form handeln. Und tatsächlich, in Grimms Wörterbuch finden sich beim Lemma KINDERLEIN viele Beispiele. Heute wird die Form kaum noch verwendet, und wenn, dann in Anspielung auf das Weihnachtslied oder beim Versuch, alterthü… ähm, altertümlich zu sprechen.
Im Luxemburgischen gibt es die Formen mit Pluralmarkierung direkt am Substantiv heute noch:
(2) kand ‘Kind’ — kanner ‘Kinder’ -> kandchen ‘Kindchen, sg.’ — kannercher ‘Kind(er)chen, pl.’
(3) Haus ‘Haus’ - Haiser ‘Häuser’ -> Haischen ‘Häuschen, sg.’ — Haisercher ‘Häuschen, pl.’
Und es geht sogar mit lexikalisierten Diminutiven, also mit Formen, die eigentlich auf eine Verkleinerungsform zurückgehen, jetzt aber als ganz normale Form benutzt werden:
(4) Meedchen ‘Mädchen, sg.’ — Meedercher ‘Mädchen, pl.’
Der Unterschied zur alten deutschen Form im Weihnachtslied besteht darin, dass das Luxemburgische den Plural zweimal markiert, einmal durch das -er am Stamm und einmal durch die Endung -cher (statt -chen).
Das Luxemburgische und das Deutsche gehen ja auf gemeinsame Wurzeln zurück, das Lux. ist eng mit den moselfränkischen Dialekten in und um Trier herum verwandt.
Da überrascht es nicht, auch auf der deutschen Seite solche Formen als Relikte zu entdecken — z.B. gibt es einen Ort namens Wincheringen im Landkreis Trier-Saarburg, in dem es die Gemarkung “Auf den Häuserchen” gibt.
Wirft man einen Blick in Grimms Wörterbuch, so findet man unter dem Lemma CHEN:
“auch die pluralbildung schwankt, jene ketehinne kinderchinne schellichinne sind längst veraltet, gewöhnlich pflegt nach ahd. mhd. weise beim neutrum überhaupt die form des sg. unverändert zu bleiben. einige aber erlauben sich bübchens leutchens mädchens, z. b. LESSING 1, 461 in der anrede: seht freundlich aus, mädchens! ich will euch etwas fröhliches melden. andere tadelhafter selbst bübcher mädcher:
und wenn das laub herunter fällt,
so trauren alle ästger.
MITTLER 465a,
wofür man doch einen noch des N entbundnen sg. bübche mädche ästche anzusetzen hat. neutra und masculina, die des epenthetischen er fähig sind, vermögen es mit in die diminution zu ziehen, und von beinchen bretchen bildchen häuschen kindchen lämmchen würmchen läszt sich auszer dem gleichlautigen pl. in traulicher sprache bilden: beinerchen breterchen bilderchen häuserchen kinderchen lämmerchen männerchen (LESSING 1, 242) würmerchen. […] ein fehler ist der pl. mäderchen oder gar mädercher von mädchen = mägdchen, da das f. magd keinen pl. mägder zu bilden vermag. breterchen häuserchen u. s. w. laufen den bildungen breterlein häuserlein parallel.”
Da ich momentan leider fern von all meinen Bücherlein bin, kann ich nicht herausfinden, ob die Version mit dem eingeschobenen Plural eine zeitweilige Variante war, oder ob sie tatsächlich die ursprüngliche Form war. Ich tippe auf ersteres, zumal der er-Plural sich ja erst recht spät verbreitet hat.