Vor einiger Zeit habe ich über Kuriositäten wie Kinderlein und Häusercher spekuliert. Das sind Formen, bei denen trotz Verkleinerung ein Plural gebildet wird. In Mainz ist man bei solchen Späßen voll dabei:
Wo es im Standarddeutschen das Häppchen – die Häppchen heißt, die Endung -chen bei der Mehrzahlbildung also unverändert bleibt, sagt man auf Rheinhessisch ’s Häppsche(n) – die Häppscher.
Ob und wie der Plural bei Verkleinerungsformen (“Diminutivformen”) markiert werden kann, hängt vom Dialekt ab. Dazu habe ich euch mal eine bunte Karte gebastelt, die für die hochdeutschen Mundarten die Formen für Apfelbäumchen im Plural zeigt:
Die Daten stammen aus dem digitalen Wenker-Atlas, sie geben also den Stand Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts wieder und gelten nur für das Beispielwort Apfelbäumchen – bei anderen Wörtern können die Grenzen anders verlaufen.
Okay, genug gedisclaimert, was zeigt die Karte? Im Süden und in Teilen Ostmitteldeutschlands werden Verkleinerungsformen mit einem l-haltigen Suffix gebildet. Da gibt es -le, -la, -li, -el und -(er)l, die ich hier ignoriere. In West- und dem Rest Ostmitteldeutschlands herrschen ch-haltige Formen vor. Und eben diese haben einen sehr vielseitigen Umgang mit dem Plural entwickelt:
Gruppe 1: Mehrzahl braumer nüsch!
Hier verhält sich das Suffix so wie im Standard auch, nur die Aussprache variiert. So finden sich -che und -chen und natürlich auch -sche und -schen. Auf der Karte ist das Gebiet gelb markiert und umfasst hauptsächlich Ostmitteldeutschland. Nach Schirmunski (1962:479) liegt hier noch ein älterer Sprachstand vor.
Dass die Nullmarkierung auch die Strategie der Standardsprache ist, ist kein Wunder, den sie hat sich, so Schirmunski, aus dem Ostmitteldeutschen in die Schriftsprache ausgebreitet. Für die westlichen sche-Inseln kann er sich schriftsprachlichen Einfluss vorstellen.
Gruppe 2: Wörter ohne Plural? Schnabbsidee!
Dieses Gebiet will eine eindeutige Markierung und benutzt dazu -er. Auf der Karte ist es hellrot markiert.
Hier gibt es nun zwei Splittergruppen. Beide wollen nicht so recht dem folgen, was man sonst für “normal” hält:
2a doktert am Suffix rum …
Ebbelbaim-sche – Ebbelbaim-scher
- Regelhaft: Die Pluralendung steht ganz am Ende.
- Aaaaaber: Sie ersetzt einen Teil des Suffixes, statt darauf zu folgen (ganz regulär wäre sowas wie *Ebbelbaim-chen-er).
Das ist das westliche hellrote Gebiet. Ein paar Internetbeispiele:
damit die grüne männscher un mei ellies nix merken will ich mir nen dzb mit bremshebelcode dingens einbauen (lassen) (Mann, Quelle)
Die dritte Folge der schon legendären “Stickscher von hier un annerswo”. (Stück, Quelle)
aber jetzt werden vorläufig keine blimscher mehr gepflückt, jetzt werden schneebälle gerollt (Blume, Quelle)
… und 2b suffigiert eine Pluralform
Ebbelbaim-sche – Ebbelbaim-er-sche
- Regelhaft: Die Pluralendung steht zusätzlich (und ihr entspricht im Singular “nichts”).
- Aaaaaber: Sie steht vor dem Diminutivsuffix und damit an einem höchst ungewöhnlicher Platz. Dass sie dennoch zum Suffix gehört, zeigt z.B. Hütersche (s.u.): Die Einzahl ist Hut, die Mehrzahl wäre Hüte bzw. dialektal sowas wie Hiit. Es wird also nicht die Mehrzahl des Ausgangswortes genommen, sondern eine Einheitsmehrzahl mit -er, die vom Diminutivsuffix abhängig ist.
Das ist das östliche hellrote Gebiet. Und im Internet:
Wenn mehr als äiner bis zum See kimmt dann trete dej dej des geschafft hawe noch ma met den dickere Stückersche gejeenaner a. (Stück, Quelle)
Also, es Häusje, oder es Häusi, hat man früher gesagt, und das Mädi, das Mädsche, und heute sagt man dann Häusje, Mehrzahl dann, Häusersche, Mädersche, Rädersche, Hütersche. (Haus, Mädchen, Rad, Hut, Quelle)
Gruppe 3: Sische is sische!
Gruppe 3, das dunkelrote Gebiet, vereint die Irregularitäten von 2a und 2b und geht ganz sicher:
Ebbelbaim-sche – Ebbelbaim-er-scher
Internetbeispiele waren hier superschwer zu finden, ich war nur für Kind erfolgreich:
Ei, die Kinnerscher kriehe halt im Alter von 6/7 Jahren Wackelzähne — und sind TOTAL STOLZ drauf 🙂 (Quelle)
Liebe Griehs, aach on die Kinnerscher (Quelle)
Dieses Doppelpluralgebiet schwankt ziemlich. Für die Apfelbäumchenkarte liegt Mainz drin, aber die Beispiele von der Speisekarte zeigen nur die Variante 2a (Häpp-scher, Süpp-scher und – nicht im Bild – Schnitzel-scher).
Es ist zwischen 2a und 2b zu finden und eine naheliegende Erklärung für die Doppelmarkierung wäre damit der Kontakt der beiden Gebiete: Die Modifikation von -chen zu -cher durch westlichen Einfluss, das vorangehende -er- durch östlichen Einfluss. Ich find’s plausibel, habe aber keine Quelle dafür. Schwächend für mein Argument wirkt allerdings das Luxemburgische, das ebenfalls den Doppelplural benutzt und ganz im Westen liegt. Es muss also wohl eine elaboriertere Erklärung her.
So, das soll’s gewesen sein mit dem großen Diminutivexkurs. Zumindest für heute.
Schöner Beitrag! Aber wenn ich kurz einhaken darf: Diese doppelte Pluralmarkierung müsste doch eigentlich die Form nehmen, die das Wort ohne Diminutiv verlangt. “Ebbelbaim-er-scher” kommt mir deshalb etwas seltsam vor. “Ebbelbaim” ist doch schon Plural. ‑er-scher würde ich eher bei Wörtern mit ‑er-Plural erwarten, aber weder bei Häppchen, Schnitzel oder Suppen.
Bilderscher gibts im Netz, aber mehr hab ich jetzt auch nicht gefunden. So’n erscher. 😉
Hallo Jan,
ja, dachte ich auch erst.
Laut Deutschem Sprachatlas aber eben nicht, es müsste invariabel -erche® nehmen. Aber wie gesagt, ich kann mir vorstellen, dass es da sehr viel räumliche Variation gibt und frage mich auch, ob es wirklich für alle Flexionsklassen funktioniert.
Vergleiche auf jeden Fall die Vögelchen-Karte (486), das Pfälzische Wörterbuch gibt hier als normalen Plural von Vogel Veel, Vochel, Vechel, dennoch tritt in einem kleinen Gebiet -ercher/-erche an.
Hi Kristin, hmm, interessant! Vielen Dank für die Antwort. Ich hätte schwören können, dass es sowas nicht gibt, jetzt hab ich mir das die letzten Tage durch den Kopf gehen lassen, mit dem Erfolg, dass meine Intuition futsch ist. Insbesondere die “Hüterscher” hab ich ja für ne Erfindung dieses Interviewpartners in der verlinkten Quelle gehalten. Mittlerweile hat mir ein Frankfurter “Informant” aber sogar das bestätigt. Auch wenns heute wohl nicht mehr so gebräuchlich ist. Aber möglicherweise (geb nicht ganz auf 😉 ) gilt das nicht für alle Flexionsklassen.
Ich komme aus dem Lahntal (etwa eine Auto-Stunde nördlich von Mainz), und kann die Formen aus dem dunkelroten Gebiet zumindest für die Generation meiner Eltern bestätigen (habe gerade nur meinen Vater im Hinterkopf, 60+, spreche selbst keinen Dialekt).
Bei uns heißt es ganz regulär:
Der “Baam” [ba:m], die “Beem” [be:m]
Aber eben mit Diminutivsuffix:
Das “Beemsche” [be:mʒə], die “Beemerscher” [be:mæʒæ]
Kleiner Schwank am Rande:
Bei uns geht der Lokalpatriotismus übrigens sogar so weit, dass eine Straße im Neubaugebiet meines Heimatdorfes “Die grünen Stücker” heißt (obwohl es andererseits konsequent dann “grüne” oder besser “griene” hätte heißen sollen, aber naja… ^^).
Ja, Straßennamen scheinen sowas ab und an mal zu haben. Dabei wird dann die Lautung verhochdeutscht, aber dialekttypische Endungen (also die Morphologie) werden beibehalten.
Hier habe ich ja auch mal auf die Gemarkung „Auf den Häuserchen“ verwiesen.
Wäre spannend, da die genauen Entscheidungsprozesse nachzuverfolgen.