Gestern begann in Frankreich die Fußball-Europameisterschaft – mir wäre in den letzten Wochen vor lauter dissertieren gar nicht aufgefallen, wie schnell die EM auf uns zukommt, wenn, ja wenn nicht die Alerts von Google zu „Anglizismus“ voll mit „Leichenschauen“ gewesen wären. Traditionell haben wir zu Fußball-Großereignissen in den letzten Jahren eher gelangweilt einfach auf die Artikel im Sprachlog verlinkt, die sich damit beschäftigen, dass public viewing im (Amerikanischen) Englisch nicht eigentlich „Leichenschau“ heißt, sondern dass es das auch heißen kann, weil public viewing ein allgemeiner Begriff für das Ein- und Ansehen von Dingen durch die Öffentlichkeit ist (z.B. Regierungsdokumente, Exponate aus Kunst, Geschichte oder Botanik, Flughäfen, Paraden einer Sportmannschaft, sich selbst in Sozialen Netzwerken oder eben halt Leichen). Das Argument wird übrigens nicht valider, wenn dann noch jemand sagt, es heiße streng genommen auch nicht Leichenschau, sondern Aufbahrung.
Genutzt hat es wenig. Nach wie vor behaupten Journalist/innen (hier, hier, hier oder hier) ungeprüft den Quark von der Leichenschau — und das, obwohl die Begriffsbedeutung eindeutig in der Recherchequelle Nr. 1 verzeichnet ist. Wahlweise kommen dem Mythos klugscheißende Kommentator/innen zu Hilfe (hier, hier, hier, hier, hier oder hier). Dass die Behauptungen vor allem im Qualitätsjournalismus etwas seltener geworden ist, könnte auch daran liegen, dass Public Viewing im deutschsprachigen Raum mittlerweile so verbreitet ist, dass es quasi für sich steht und es nicht (mehr) erklärt werden muss.
Obwohl uns die Diskussion und die Lernresistenz von Klugscheißistan naturgemäß eher langweilt, habe ich mir gedacht, dass die ernsthafte Auseinandersetzung mit Daten aus dem Englischen tatsächlich schon etwas her ist — und wenn es manche nicht überzeugt, wenn wir einzelne Korpusbelege für die Verwendung von public viewing im Englischen zitieren, warum nicht mal alle für sich sprechen lassen?
Deshalb sind in diesem Google-Dokument alle Belege für public viewing aus einem ca. 1,3 Mrd Wörter umfassenden Subkorpus des ENCOW14 zu finden. ((ENCOWAX01 & ENCOWAX03, https://webcorpora.org/)) Für jede/n zur Einsicht und Runterladen. Quasi ein Public Viewing für Public Viewing. Die Kurzfassung: von 316 Belegen beschreiben lediglich 14 15 eindeutig oder nahezu eindeutig öffentliche Aufbahrung.
Im Sinne von Transparenz und Open Data können Sie meine Kodierung einsehen und überprüfen (ich korrigiere Fehler, zitieren Sie die Beleg-ID). Damit hat dieser Beitrag immerhin auch für Leichenschau-gelangweilte Sprachlog-Leser/innen noch einen pädagogischen Wert und qualifiziert sich außerdem für die Kategorie „Fingerübung aus der Korpuslinguistik“. Denn so arbeiten wir: eine Urliste (Tabellenblatt 1) mit einer Beobachtung pro Zeile, aus der sich jederzeit gewünschte Zusammenfassung erstellen oder aktualisieren lassen (Tabellenblatt 2), sowie eine Dokumentation über die Vorgehensweise und eine Erklärung zum Kodierschema (Tabellenblatt 3).
Vielleicht kriegen wir den Mythos irgendwann so scheintot wie den mit den Schneewörtern.
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Ich darf noch einmal an meinen Artikel dazu erinnern: http://www.dh2publishing.info/2011/02/wenn-meme-amok-gelaufen-werden/
Ich habe mir mal die unklaren angeschaut: Ich fand sie relativ eindeutig.
64 nein / ist das nicht eher Sri Lanka als USA?
74 ja
75 nein
148 Audruck nicht gefunden
199 nein
@Daniel: Danke, ist eingetragen — ich hatte die unklaren nicht selbst per Link überprüft, weil ich zuerst kategorisiert hatte und mir dann einfiel, dass die Quelle ja auch im Korpus vermerkt ist (aber natürlich hätte ich das tun können/sollen). Beleg 64 — bei der Geolokalisierung kann es immer zu Fehlinterpretationen kommen. Es geht nach der IP-Adresse der Quellseite, und in diesem Fall hat der Server vermutlich einen Standort in den USA. Das sind Fehldeutungen, mit denen man leben muss. Es gibt allerdings Untersuchungen anhand von bekannten, regional verteilten Phänomenen, dass diese Form der Lokalisierung besser abschneidet, als nach Top-Level-Domain zu lokalisieren. Sonst müsste man natürlich jedes einzelne Dokument im Korpus in Frage stellen — was auch dagegen spricht, dass man „händisch“ einen einzelnen Beleg nachkorrigieren sollte.
Und das Quiz “Beat the Prof” auf zeit.de — http://www.zeit.de/campus/2016–05/beat-the-prof-anglistik — haut munter in dieselbe Kerbe. IKst der Kollege Traxler, immerhin Anglist, bekannt?
http://fs5.directupload.net/images/160619/ukoudcsp.jpg
Naja, hier würde ich den Kollegen in Schutz nehmen: da steht hat eine gänzlich andere Bedeutung — und das ist vielleicht missverständlich, wenn man auf den Mythos fixiert ist, aber es ist nicht unbedingt falsch. Denn public viewing hat im Amerikanischen English eine andere Bedeutung, je nach Blickwinkel: wir verwenden es viel enger für eine Fußballmassenguckparty, während es im Englischen viel weiter und flexibler anwendbar ist auf alle möglichen Gegenstände, für die Aktion an sich oder bereits für den Prozess des Bereitstellen von Objekten zur öffentlichen Einsicht. Wir bestreiten ja nur, dass es Aufbahrung heißt, und das behauptet weder der Kollege, noch die Redaktion der ZEIT, die vielleicht bei der Formulierung der Fragen das letzte Wort hatte.
“Gänzlich anders” impliziert für mich aber, dass die deutsche Verwendung so gar nicht mit der englischen kompatibel ist. Das geht für mich dann doch etwas weit. Gerade wegen des häufig unkritisch weiterverbreiteten Mythos würde ich mir da etwas mehr Differenziertheit wünschen, auch wenn es “nur” ein spaßiges Quiz ist…
Hmm, das sehe ich doch anders. Dann ist es zumindest sehr unglücklich formuliert, denn das mit dem “gänzlich anders” ist ja genau das, was fälschlich transportiert wird — Hier Rudelgucken, dort Leichenschau. Völlig disjunkte Bedeutungen.
Hätte es im Quiz “eine wesentlich umfassendere Bedeutung” geheißen oder meinetwegen auch “eine deutlich andere”, wäre ich ganz bei Ihnen. So hingegen unterstützt die Formulierung das Trennende.
(Nachtrag: Ich bezog mich auf den Kommentar von Susanne Flach. Mit dem zwischenzeitlich veröffentlichten Kommentar von Nathalie gehe ich völlig konform.)
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