Guten Morgen, geneigte Leserschaft — wir kommen auch heute leider nicht ganz ohne Katastrophen aus: Sprachpflege, Sprachtests und Erdbeben — okayokay, und ein bisschen gerechte Sprache und Internetdialekte. Einen zauberhaften Sofasonntag!
- Das DEUTSCHLANDRADIO hat Anatol zu „Die Vorteile der Partizipienreiterei im Sprachgebrauch“ befragt (Aber ist die negative Konnotation von -reiterei niemandem aufgefallen?)
- Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat ihre Frühjahrstagung zum Thema Sprachpflege gehalten — die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG berichtet darüber unter „Das falsche Reinheitsgebot“.
- Der DEUTSCHLANDFUNK spricht mit dem Präsidenten der Akademie Heinrich Detering u.a. über die wichtige Rolle des persönlichen Kontakts im Spracherwerb bei Flüchtlingen.
- Geoff Pullum macht auf LINGUA FRANCA seinem Ärger über „Was ist hier die korrekte Form?“-Fragen in Sprachtests Luft: „If “Correct/Incorrect” test items are to be used, the “Incorrect” choice better be genuinely incorrect.“
- Das hier ist kein gewöhnlicher Artikel zum Thema wie das Internet die Sprache verändert/ruiniert/kaputt macht/zerstört/bereichert, sondern befasst sich eher mit der Frage nach „Dialekten“ im Internet und Internet(sprach)gemeinschaften.
- Wie verändern sich Sprachen nach Naturkatastrophen? Und wie verändern Naturkatastrophen sprachliche Diversität? Das erforscht man derzeit u.a. in Nepal — „Language and earthquakes: Insights in disaster response“.
Gibt es in all den Studien zur Wahrnehmung des generischen Makulinums u. ä. eigentlich auch Erkenntnisse zu Gruppenbegriffen wie “Leserschaft”? Ernstgemeinte Frage! Ich merke nämlich selbst, dass ich manchmal Wörter dieser Bauart als vermeintlich geschlechtsneutrale Alternative verwende und mich dann frage, ob sie nicht doch auch männlich verstanden wird.
Wenn diese Frage für einen Sonntag zu kompliziert ist, freut euch einfach, dass jemand die Einleitung gelesen hat! 😉
@Lina: wäre mir nicht bekannt. Ist aber anzunehmen, dass die auch ähnlich interpretiert werden, wie „normale“ generische Maskulina (warum sollte es plausibel auch anders sein). Und meist würde ich hier auch Leser/innenschaft schreiben — das war also genuin so durchgerutscht in der Einleitung… Interessant ist natürlich, dass hier, außerhalb sprachlich sensibilisierter Kreise, auch keine „weibliche“ Form benutzt zu werden scheint (Leserinnenschaft), wenn definitiv nur Frauen da sind (das wäre ja bei einer Gruppe von Studentinnen anders, da würde ich hoffen, dass im Allgemeinen die feminine Form verwendet wird).
Man könnte natürlich auch Lesendenschaft schreiben, analog zu Studierenden, Auszubildenden usw. Aber das würde natürlich einen Sturm der Entrüstung und lange Grabenkämpfe in den Feuilletons nach sich ziehen…
Es bleibt Skepsis, ob die benannte elegante Art der Sexusneutralisierung durch Partizip Präsens wirklich keine Änderung am Sprachsystem erfordert. Es gibt die Vermutung, dass dieses Partizip eine stärkere Nuance [+okkasionell] besitzt, während z.B. ‑er einen Personenbegriff mit festen Merkmalen bezeichnet, also z.B. prototypisch Berufsbezeichnungen (vgl. Fleischer, Wortbildung S. 201f.: “Nur in den seltensten Fällen hat das konvertierte Partizip I einen ähnlichen semantischen Charakter”). Scheinbare Gegenbeispiele sind als Lexikalisierungen (die bekanntermaßen höchstens sprachhistorisch betrachtet über ihr Benennungsmotiv Aufschluss über die Semantik der produktiven Wortbildungsregel geben können und damit sogar das Bild bestätigen: Reisender, Vorsitzender) verständlich bzw. kann eine semantische Differenzierung aufgrund der außersprachlichen Wirklichkeit nicht sinnvoll sein (Student = Studierender, was aber ohnehin lexikalisiert ist). Soll ‑end aktiv bildbar für alle Personenbezeichnungen sein, müsste es die Nuance [+okkasionell] aufgeben.
Im Weiteren ist zudem zu fragen, inwiefern nicht bereits ein klassischer Fall von “Hidden hand” eingetreten ist und ‑end als Marker für geschlechtergerechte Sprache reanalysiert (und damit unbrauchbar für Sprachgerechtigkeit?) wurde, vgl. Bülow / Harnisch in JournaLIPP, 4 (2015), S. 85–96.
Spannend sind die von Anatol angesprochenen Bildungen “Flüchtlingsfrauen” und “Flüchtlingskinder” und ihre Konsequenz der Sexualisierung von “Flüchtling” – vielleicht doch ein Indiz, dass die Sexualisierung der Grammatik sekundär durch außersprachliche Bedingungen in die Sprache hineingetragen wird?