In meinem Kommentar zu round about letzte Woche erwähnte ich als Umschreibung von round about als ‚ungefähr‘ beiläufig um und bei. Das führte im Kommentarzimmer zu Verwunderung: gibt’s das überhaupt? Wenn ja, wo? Nie gehört! Nun ist mir die Wendung intuitiv so geläufig und ich glaub(t)e auch nicht, dass sie als dialektal markiert ist (sonst hätte ich sie so oder so nicht verwendet). Aber ich habe eine linguistisch bewegte erste Lebenshälfte in zwei sehr unterschiedlichen Dialektregionen hinter mir, dass es mir offenbar besonders leicht fällt, angenommene Regionalismen wie Standardsprache zu behandeln.
Man kann ein sprachliches Phänomen aus zwei Gründen noch nie gehört haben: einerseits kann es so selten sein, dass man es wirklich nicht gehört hat. Andererseits kann man glauben, etwas noch nie gehört zu haben, man es also nur nie bewusst wahrgenommen hat — und das kommt häufiger vor, als man denkt, weil unser Gehirn eine ganze Menge Informationen ausblenden oder „korrigieren“ kann. ((Seit diesem Beitrag von Anatol registriere ich jeden Beleg einer vorher „nie gehörten“ Konstruktion.))
Weil um und bei aber auf jeden Fall eher ein gesprochensprachliches Phänomen ist, habe ich im COW-Korpus nachgesehen, das Webdaten enthält, die der gesprochenen Sprache etwas näher sind, als Standardzeitungskorpora. Dort finden sich ein paar Belege; und auch wenn es nicht überaus frequent ist, sind es zumindest so viele Beispiele, dass um und bei etwa 4 Mal häufiger ist, als Klapprechner (welches ja vom VDS aufgrund eines obskuren „Frequenzarguments“ für die Aufnahme in den DUDEN vorgeschlagen wurde).
Um und bei beschreibt ungefähre Größen- und Mengenangaben bei räumlichen, zeitlichen und monetären Relationen:
Und dann noch die Distanz von um und bei 600 Meilen Luftlinie.
Es gibt zur Zeit sehr günstige Sets dieser Marke, die schon zweiteilig um und bei 16 Euro beginnen.
Wenn man sich die Neupreise von um und bei 200 Euro das Stück vor Augen hält, ist es doch einen Versuch wert …
ich muss leider noch so um und bei 10 Jahre warten, bis ich das anbringen darf / kann
Gemäß Nikos HP wird es den Kalender um und bei ab dem 15. Dezember herum auch im THW-Fanshop geben.
Phasenweise legt der Wind immer wieder auf 8 zu, das Log zeigt “um und bei” (wie meine Flensburger Freunde so zu sagen pflegen ) 5 Knoten
Belege wie die letzten beiden mit Flensburg- und Kiel-Bezug veranlassten mich dann dazu, zu vermuten, dass es möglicherweise ein Regionalismus aus dem Nord-nordwestdeutschen Raum ist. Anatol meinte auf Twitter, er kenne um un bi aus dem Niederdeutschen, Ludger erwähnte in den Kommentaren die niederländische Wendung om en nabij für ‚ungefähr‘. Dass es trotzdem transparent ist und uns nicht bewusst auffallen würde, liegt sicherlich an den Teilen um und bei, die in vergleichbaren Ausdrücken auftauchen (wir brauchen so um die 12 Stunden, der Betrag lag bei 1.000 Euro). Beide zu verbinden hat zumindest in meinem Sprachgefühl noch einen extra Hauch ‚solala‘ und ‚in etwa‘.
Das Nette an den ganz neuen COW-Korpora ist, dass da Geodaten mitgeliefert werden. Also hab ich das doch glatt mal ausprobiert: von etwas über 600 Belegen für um und bei in 10 Milliarden Token sind gut 200 Treffer mit Angaben über den Ursprung des Belegs versehen. Soweit aus der dünnen Trefferlage sowie der Frage, wie zuverlässig diese Geodaten tatsächlich sind, Aussagen getroffen werden können, habe ich folgende Grafik erstellt. Die Farbtiefe gibt an, wie stark die beobachteten Werte über (dunkelgrün) bzw. unter (hellstgrün) ihren erwarteten Werten liegen:
Die großen Kontraste verschleiern etwas, dass die tatsächlichen Unterschiede eher gering sind (und für die meisten Länder statistisch nicht signifikant ausfallen): um und bei wird überall verwendet. Lediglich Niedersachsen und das Saarland liegen signifikant über den Werten, die man bei Gleichverteilung erwarten würde. Aber die Richtung der jeweiligen Abweichungen sprechen für die Nordwest-These. Der starke Ausschlag im Saarland sowie der unerwartet niedrige Wert für Bremen liegen eher an der geringen Datenmenge, sowie der Tatsache, dass drei von vier Belegen im Saarland von der gleichen IP-Adresse kommen. Es ist anzunehmen, dass sich dieses Muster mit mehr Daten und etwas genauerer Analyse verfeinern und bestätigen wird.
Es spricht also einiges dafür, dass um und bei einen dialektalen Ursprung im niederdeutschen Sprachraum hat. Das findet nach wie vor seinen Ausdruck darin, dass es verstärkt in den Sprachgemeinschaften dieser Regionen verwendet wird und für diese typischer ist. Das muss aber nicht heißen, dass man anderswo nicht kennt. Und dass es in Baden-Württemberg seltener ist, muss nicht unbedingt etwas damit zu tun haben, dass es im Alemannischen keine direkte entsprechende Konstruktion gibt — es hat sich eben in der dortigen Sprachgemeinschaft (bisher) nicht im gleichen Maße etabliert. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es ab sofort auch Leser/innen auffallen wird, die es nie gehört haben (wollen).
“THW” im vorletzten Textbeleg ist höchstwahrscheinlich eher ein Kiel-Bezug als ein Flensburg-Bezug. Tut dem Argument zwar keinen Abbruch, aber ich würde empfehlen es schnell zu korrigieren, bevor eure Kieler und Flensburger Leser ernsthaft böse werden 😉
Danke! Immerhin die Sportart richtig erkannt.
Als saarländischer Dialektsprecher habe ich auch die Vermutung, dass die dortigen Daten ein Ausreißer sein dürften. Mir war die Wendung bisher überhaupt nicht geläufig.
Der dreifache Beleg von der selben IP könnte z.B. ein Zugezogener aus dem Nordwesten gewesen sein. (Ja, es ziehen tatsächlich auch mal Leute INS Saarland und nicht nur weg 😉
@PhilK: Na klar, sagte ich ja auch, genauso wie Bremen ein Ausreißer nach unten ist. Die Datenlage ist insgesamt sehr gering. Der dreifache Beleg kann jemand Zugereistes sein, muss es aber nicht. Es heißt erst mal nur, dass die Person die Wendung häufig verwendet (woher sie sie hat, wissen wir nicht).
Wo sagt man denn “der Betrag lag bei 1.000 Euro”?
😉
@Michael Hier.
@Michael: Die etwas abweichende Formulierung “dann sind/liegen _wir_ bei 1.000 €” ist mir (Ruhrgebiet/Sauerland) geläufig. Wobei ich das “bei” dann auch nicht als “vage” verstehe, sondern als recht genau.
Es könnte auch jemand die Rechnung aufmachen: “90 cm Brüstungshöhe plus 12 cm Estrich plus 16 cm Decke sind 1 Meter 18, und mit 1 cm Putz und 1 cm Sicherheit sind wir bei 1,20.”
Formulierungen im Schema “Um die [runde Zahl] [Maßeinheit]” empfinde ich hingegen als deutlich ungenauer.
Etwa das, was auch “circa”, “rund” oder “ungefähr” bedeutet.
Beim In-mich-Gehen fiel mir ein, dass mein Vater auch gelegentlich roundabout gesagt hat. Aber dessen Englishskill wurde vor allem in Diskussionen mit indischen Taxifahrern geschult…
@alle: Ich glaub, der Michael wollte mich nur ärgern. Auch wenn die da komisch reden, wo der wech kommt, das wird er kennen.
“Um und bei” ist in Norddeutschland tatsächlich absolut normal.…. im Gegensatz zu nur “bei” relativiert es aber etwas und bedeutet, dass man es nich sooooo genau weiß.…
Z.B. Ein Kostenvoranschlag von “bei” 1.200 € heißt “ziemlich genau 1.200 €”, ein Kostenvoranschlag von “um und bei 1.200 €” bedeutet, es können 1.000 €, es können auch 1.400 € sein.
btw: Im Bremischen wird das “und umzu” genau im Sinne des “roundabound” benutzt, eben als “drumherum”.…..
Ahh, na dann. *g
Wie häufig ist “um und bei” eigentlich im Verhältnis zu “roundabout”, “circa”, “rund”, “etwa”, “ungefähr”, “um” ohne bei, “so”, “näherungsweise” und “schätzungsweise”? Ich will ja nicht behaupten, es vorher nie gehört oder gelesen zu haben, schon um den Vorwurf vorzugreifen, ich würde es nicht gehört haben wollen :-), aber wenn eine einzelne IP-Adresse schon die Statistik durcheinanderbringt, kommt mir die Formulierung recht selten vor.
@Mycroft: die einzelne IP-Adresse bringt es auch deshalb durcheinander, weil aus dem Saarland insgesamt sehr wenig Daten vorliegen. Ein typischer Ausreißer. Die Häufigkeit im Verhältnis zu den Alternativen zu evaluieren, wäre enorm zeitaufwändig, da diese jeweils noch ganz andere Funktionen und Verwendungsweisen haben (und eine solche Suche würde vermutlich auch nicht mehr Erleuchtung bringen, als die Nordthese). um und bei IST selten und ist offensichtlich, anders als etwa rund, ungefähr etc., kein etablierter Bestandteil der Standardsprache; auch wenn es in den nördlichen Regionen zum Inventar des gesprochenen regionalen Standard zu gehören scheint (was erklären würde, dass es dort vielen nicht als dialektal gefärbt auffällt).
Wie hast du die Grafik erstellt? Bietet COW das an? Besser fände ich ja einen Scatterplot der Einzelbelege statt der Bundesländergrenzen, die, wie du ja selbst schreibst, aufgrund der dünnen Datenlage ein recht verzerrtes Bild liefern.
@ke: mit R (spplot) und gadm-Daten, basierend auf der COW-Annotation doc_region, welche das Bundesland zurück gibt. Weil die Karte relative Frequenzen statt absoluter Belege darstellt, und ich zusätzlich keine Zahlen über die Gesamttextmenge aus den Ländern hatte, musste es der Vergleich mit der jeweiligen der-Frequenz tun.
Es gibt noch eine IP-Variable, aber da bin ich noch nicht sicher, wie man das schnell ins LongLat-Format bringen kann; besonders wenn es hochfrequente Phänomene sind, wäre das ja eher anstrengend (und für relative Darstellungen überhaupt nicht geeignet).
Ich bin mir sicher, nie im Leben “um und bei” gehört zu haben, benutze aber selber oft “liegt bei um die 100 €”, was ja so entfernt nicht ist. (In Osnabrück sprachsozialisiert worden.)