Wir haben nie ein besonders großes Geheimnis darum gemacht, dass Selfie ein absoluter Topkandidat auf den Titel ist. Wir lieben Selfie. Bei uns kam das digitale Selbstportrait ja auch vor allem linguistisch besonders gut an — der vierte Platz im letzten Jahr lag auch an der starken Konkurrenz. Und als Senkrechtstarter 2013 waren wir entzückt (obwohl nicht überrascht), dass es auch 2014 nominiert wurde.
Nun wirkt es schon fast schon lame, Selfie ernsthaft für den Anglizismus des Jahres 2014 in Betracht zu ziehen, wenn wir doch den Anspruch haben, die innovativste und fortschrittlichste Wörterwahl zu orchestrieren. Mit einem Eintrag im DUDEN gehört Selfie ja quasi zum Establishment. Und außerdem war Selfie schon Wort des Jahres in Großbritannien, den Niederlanden, Spanien, Belgien, auf den Philippinen, in Pinterest und in Twitter, mehrfach nominiert und sonderkategorieausgezeichnet in den USA und shortgelistet in zu vielen Ländern und Wahlen, um sie hier alle aufzuzählen. Der Linguist Geoff Nunberg dürfte nicht der einzige sein, für den Selfie das persönliche Wort des Jahres ist. (Die Frage, was Selfie in den Sprachen der Welt heißt, klingt da schon vergleichsweise merkwürdig.)
Shortlistfähig war Selfie aber natürlich auch 2014, weil es in den Referenzkorpora und auch bei GoogleTrends nochmals deutlich zugelegt hat. Im DeReKo finden sich für Selfie und seine Komposita 2013 50 Treffer, für 2014 bereits 306 (40 vs. 262 nur für Selfie) — und das, obwohl im DeReKo für 2014 vorerst nur die Hälfte der Textmenge verfügbar ist. ((Die Zahlen sind möglicherweise etwas anders als angegeben, weil das neue COSMAS-Interface noch nicht flüssig läuft und eine genaue (Nach-)Zählung meinem Zeitmangel zum Opfer gefallen ist. So habe ich nur Singularbelege in die Rechnung mit einbezogen und auch die Tokenisierung manuell nicht weiter aufbereitet. )) Das ist also auch mit einer π‑x-(y)-Rechnung eine Größenordnung der zehnfachen Steigerung für 2014 gegenüber 2013.
Kein Wunder: mit Oscar-Selfie, Kanzlerinnen-Podolski-Selfie, Affen-Selfie, Selfies an unangemessenen Orten oder Obama-Werbe-Selfie ist die Kulturpraktik 2014 praktisch und linguistisch ja nun wirklich in jedem Zipfel der Gesellschaft angenommen (sogar in Politik- und Feuilletonspalten großer Medien). Wir wollen natürlich auch nicht verschweigen, dass es Menschen gibt, die davon genervt sind (wohl aber eher nicht vom Begriff an sich).
Aber wir sind ja die innovativste und fortschrittlichste Wörterwahl und unterziehen alle aussichtsreichen Nominierungen einer knallharten Prüfung. Was also macht Selfie denn wirklich interessant? Linguistisch? Auch 2014? Letztes Jahr schrieb ich davon, wie niedlich diese Verkleinerungsform ist, die aus dem Australischen Englisch kommt (wo -ie-Diminutive sehr charakteristisch sind). Es hatte sich auch 2013 schon angedeutet: Selfie und seine Bestandteile werden produktiv und bilden Komposita und Ableitungen, meist auf -elfie wie Shelfie (‚„Portrait“ des Bücherregals‘), Legsie (‚mit Beinen‘, aber auch: Lelfie) oder Belfie (‚Hintern‘). Was kann denn da noch kommen?
Neben Verbreitung und Frequenz eine ganze Menge sprachlicher Integration: denn interessant ist, dass Selfie im DeReKo 2014 gegenüber 2013 deutlich seltener in sogenannten Meta-Kontexten auftritt: es wird etwa seltener in Anführungszeichen gesetzt (20% vs. 4%) und weniger häufig bis gar nicht mehr wird es als „Selbstportrait“ erklärt. Das weist darauf hin, dass es einerseits etabliert und verbreitet ist und andererseits als weniger fremd wahrgenommen wird. Außerdem hat es seltener den Charakter einer Fremdzuweisung („Ich würde das nicht sagen oder drüber schreiben, aber hier habt ihr’s halt.“). Interessant ist auch, dass Selfie in der Metaverwendung recht rasant eine Art Metafunktion entwickelt hat, nämlich die, ein Selfie-Derivat zu erklären:
Als Protest gegen den Selfie-Wahn riefen die Youtube-Comedians von Y‑Titty vor kurzem zum Suglie-Tag (Selfie + „ugly“: hässlich) auf. Einige verzerrte Grimassen schwirren seitdem durchs Netz.
MANNHEIMER MORGEN, 26. April 2014
Das „Helfie“ für ein Foto der Frisur (hair selfie), das „Welfie“ für einen Foto beim Training (workout selfie) oder das „Drelfie“ als ein im betrunkenen Zustand gemachtes Selfie. Damit schließt sich auch der Kreis zum ersten bekannten „Selfie“.
RHEIN-ZEITUNG, 20. November 2013
Charakteristisch an den Selfie-Derivaten auf -elfie ist ja, dass diese aus zwei Silben bestehen, wovon die erste in der Ableitung mit einem Konsonanten(cluster) im Anlaut versehen wird. Und weil so natürlich nur eine ziemlich begrenzte Anzahl an Kombinationen möglich ist, ist der Selfie-Typ dann in oft nur einem einzigen Laut kodiert. Müßig zu erwähnen, dass diese Bildungen in Isolation nahezu vollkommen intransparent sind (Telfie? Welfie? Usie? Drelfie? Helfie?) — das Wortbildungsmuster im Kontext aber dann doch ziemlich gut funktioniert:
Jüngere Zuschauer – die gibt’s beim Theatertreffen auch, einige davon sind allerdings Schauspielschüler – erfanden ein neues Kulturgut: den Telfie. Der entsteht direkt nach der Vorstellung und zeigt den Protagonisten vor verwüsteter Theaterbühne.
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 17. Mai 2014
Sich alleine fotografieren und im Netz präsentieren? Selfies mögen vielleicht 2013 cool und hip gewesen sein, doch damit ist es vorbei. 2014 wird das Jahr der Usies — wenn man der Gerüchteküche im Internet glauben darf.
N24, 14. Januar 2014
(Das Sekretariat des Juryvorsitz schickte mir noch eine Liste mit couplie, legsie und footsie [transparent(er), etwas anderes Muster], gelfie [‚Gym-Selfie‘, verwandt mit Welfie], yogi ‚Yogaselfie‘, und belfie [‚Hinternselfie‘].)
Und das sind noch nicht mal unbedingt reine Einmalbildungen: Welfie ist im DeReKo insgesamt fünf Mal belegt — in mindestens drei unterschiedlichen Kontexten; ähnliches gilt für Belfie und Drelfie. Das ist für eine Art Konfix, also für einen Wortteil, der sich nicht mit freien anderen Teilen zusammentut, doch ziemlich beachtlich — in dieser kurzen Zeit! (Überlegen wir mal, wie lange der letztjährige Sieger, das Suffix -gate, gebraucht hat, um produktiv zu werden.) Das Muster hat sich wirklich erstaunlich schnell erstaunlich breit gemacht in der deutschen Lexikonlandschaft. ((Die logische Konsequenz übrigens: das (ausbaufähige) Selfie-Alphabet. ))
Nun könnte man sagen, dass das ein wenig das Problem ist. Denn nominiert ist — anders als letztes Jahr bei -gate — ja nicht ein Bestandteil von Selfie, sondern Selfie selbst. Die Entwicklung von Selfie zeigt aber, wie sinnvoll und bereichernd das Wort an sich ist — und es ist ja der Ausgangspunkt für all diese Phänomene. Denn letztendlich sind diese nicht weniger niedlichen Derivate Indikator dafür, dass sich Selfie auch linguistisch als eine Art Oberbegriff für eine heterogene Ausdrucksform des modernen Narzissmus etabliert hat. Und es wäre natürlich zu hoch gegriffen, -elfie als Morphem mit der Bedeutung ‚(narzisstisches) Bild, Portrait von Dingen und Personen im digitalen Social Media-Kontext‘ zu bezeichnen — aber jetzt mal so vom Prinzip her: sehr spannend. (Und meine Erstis können möglicherweise von Glück reden, dass Morphologie schon durch ist für dieses Semester.)
So, und wer redet jetzt noch davon, dass alle anderen Selfie schon vor uns zum [WORTWAHL EINFÜGEN] gekürt haben? Wir haben halt die Argumente, die anderen einen guten Geschmack. Egal, ob ich die Jury von diesem Kandidaten überzeugen kann — für mich ist Selfie auch dieses Jahr „Anglizismus der Herzen“. Ich denke, damit bin ich nicht alleine.
Kommt für mich in die Endrunde, aber Blackfacing hat da IMHO die besseren Karten.
An Selfie finde ich bemerkenswert die phonetische Nähe zu selfish, was sich oft in der Attitüde des Selfiemachers während der Aufnahme wiederspiegelt. So nehme ich es jedenfalls wahr.
@Ferrer: das ist natürlich nicht nur eine phonetische, sondern auch eine morphologische (Stamm: self-) und semantische (SELF). Letztendlich ist selfish aber dann doch noch etwas anders (deutlich negativer konnotiert); nicht jedes Selfie muss eine selfish person abbilden. Der Zusammenhang ist arg konstruiert.
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