Alle Wortwahlen sind vorbei. Alle? Natürlich nicht. Denn unsere Leser/innen wissen: nach der Wahl ist vor der Wahl und die Beste kommt zum Schluss! So markiert die exzellenten Arbeit unserer Kolleg/innen der Unwort-Jury traditionell den Startschuss für die heiße Phase der Wahl zum Anglizismus des Jahres — und wir beginnen heute den Besprechungsmarathon für die 10 Kandidaten unserer Shortlist — und präsentieren Ihnen ab heute jeden Tag einen.
Den Auftakt macht Social Freezing, welches auch bei der Unwort-Wahl mehrfach vorgeschlagen war. Das kommt nicht von ungefähr: Die Debatte um das Einfrieren von Eizellen ohne medizinischer Notwendigkeit, sondern aus Gründen der Karriere- und Familienplanung, wird ziemlich emotional geführt: von „Lifestyle-Therapie“ (DIE ZEIT) über „humankapitalistisch“ (DIE WELT) bis „Akt der Selbstbestimmung“ (TAZ) war und ist jede Perspektive auf Ethik, Moral und Familienpolitik vertreten.
Kein Zweifel — Social Freezing hat 2014 Einzug ins Lexikon gefunden: die Ankündigungen der US-Firmen Apple und Facebook, ihren Mitarbeiterinnen die teure Prozedur zu bezahlen, hat im vergangenen Oktober Debatten in alle Richtungen ausgelöst.
Dieses Ereignis hat sich zwar in den einschlägigen Korpora noch nicht niedergeschlagen, die wir für unsere Kandidatenbesprechungen heranziehen. Aber da das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) nur bis zur ersten Jahreshälfte 2014 abbildet, ist dies einerseits kein Wunder und andererseits ja für jeden Kandidaten ein Problem. Das wirft für das Kriterium unserer Wortwahl aber zwei Fragen auf: (a) War Social Freezing bereits vor 2014 etabliert, dass die Apple-Facebook-Debatte nur einen vorübergehenden Peak bedeutet und (b) hat Social Freezing abseits einer Apple-Facebook-Debatte Überlebenschancen?
Klar ist: vor 2014 ist Social Freezing im deutschsprachigen Raum kaum nennenswert in Erscheinung getreten. Die frühesten Belege im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) stammen von 2011, Belege vor 2013 sind im DeReKo ausschließlich aus Österreich und der Schweiz (2013 und 2014-prä-Apple-Facebook-debattisch gibt es einzelne Belege aus Deutschland):
Dass dies nun allen Frauen angeboten wird, sei neu, sagt der Reproduktionsmediziner Bruno Imthurn vom Universitätsspital Zürich. Bisher habe es für eine solche Eizellvorsorge (auch social freezing genannt) auch keine Nachfrage gegeben. Grund sei das geltende Gesetz, das die Konservierung von Eizellen ohne medizinischen Grund auf fünf Jahre beschränke.
— NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, 30. November 2011
In der Schweiz darf man laut Gesetz seine eingefrorenen Eizellen aber nicht länger als fünf Jahre aufbewahren. Das Social Freezing ist laut Cornelia Urech-Ruh in der Schweiz deshalb selten.
— DIE SÜDOSTSCHWEIZ, 7. März 2012
Anne Prahl* ist so eine Frau. Sie nennt das Verfahren ihre „Familienversicherung“. Während andere Geld fürs Alter zurücklegen, hat sie die eigenen Eier in einer Fruchtbarkeitsbank deponiert. Social freezing heißt diese Technik.
— DIE ZEIT, 18. Juli 2013Kein passender Mann oder weitere Karrierepläne? SOCIAL FREEZING soll es Frauen ermöglichen, ihren Kinderwunsch zu vertagen.
— FOCUS, 22. Juli 2013
Es gibt keine medizinische Indikation für das „Social freezing“, es ist meist eine – legitime – Lebensstilentscheidung. Gerade für Frauen ist es nicht immer einfach, Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen.
— NÜRNBERGER NACHRICHTEN, 15. Mai 2014
Frühere Belege wird es geben — diese aber zuverlässig zu datieren, ist sehr schwierig, weil die Webseiten von Reproduktionskliniken oder ‑unternehmen dynamisch sind. Es scheint also vergleichsweise klar zu sein: die Apple-Facebook-Strategie hat den Frequenzausschlag ausgelöst, den wir zumindest über die Suchanfragestatistik bei GoogleTrends näherungsweise sehen. Interessant ist aber, dass ich den verlinkten Trend nicht nach Region einschränkt habe — und Deutschland relativ deutlich das Epizentrum der Suchen nach diesem Begriff zu sein scheint — sogar noch vor den USA. Warum?
Ein Erklärungsansatz geht mit dem spannendsten Aspekte dieser Entlehnung einher: denn die Praxis des Eizelleneinfrierens wird im Englischen überwiegend als egg freezing bezeichnet. Ist Social Freezing deshalb ein sogenannter „Scheinanglizismus“, weil es ihn im Englischen gar nicht gibt? Nein — und zwar aus mindestens drei Gründen.
Erstens gibt es vereinzelte Belege für social freezing im Englischen (z.B. WSJ, 3. Mai 2013), nur stehen sie hinter dem geläufigeren egg freezing deutlich zurück; etwas häufiger findet man social egg freezing, bei dem social die nichtmedizinische Motivation deutlich(er) markiert. Zweitens besteht Social Freezing natürlich unzweifelhaft aus englischem Lehngut. Und, drittens, bezeichnet egg freezing im englischsprachigen Raum die Praxis des Einfrierens im Allgemeinen, also auch das Einfrieren von Eizellen aus medizinischen Gründen. Somit sind das Deutsche Social Freezing und das Englische egg freezing auch keine direkten Übersetzungen.
Im Englischen war zunächst die ethisch weitgehend unverdächtige Praxis des Einfrierens aus medizinischen Gründen als egg freezing (Fachterminus: oocyte cryopreservation) bekannt (im Deutschen Kryokonservierung). Mit dem Fortschritt der Reproduktionsmedizin und dem gestiegenen Wunsch nach freierer Familienplanung entwickelten sich im Englischen Kontexte wie egg freezing for social reasons. In diesem Umfeld ist es bis social (egg) freezing natürlich nicht besonders weit.
Auch wenn Social Freezing im Englischen eher ungebräuchlich ist, ist es relativ schwierig zu sagen, ob Social Freezing in dieser Form im Deutschen gebildet wurde (weil man egg getilgt hat). Es gibt frühe Belege für Social Egg Freezing im deutschsprachigen Raum (DIE ZEIT, 18. Juli 2013) — und auch während der Debatte um Apple und Facebook übernahmen einige Medien Egg Freezing direkt (DER FREITAG, 17. Oktober 2014; TAGESSPIEGEL, 15. Oktober 2014).
Wenn es also schon keine eindeutigen Hinweise für eine Bildung im Deutschen gibt, so sprechen die Verhältnisse zwischen etwa 1:50 und 1:100 bei Googleanfragen auf de-Seiten aber zumindest sehr deutlich für eine Konventionalisierung von Social Freezing innerhalb des Deutschen. Interessant ist diese Entwicklung auf jeden Fall und lässt sich vermutlich am ehesten mit der sehr viel stärkeren Fokussierung von Konzept und Debatte auf ethisch-moralische Fragen erklären.
Fazit
Zwiegespalten. Irgendwie ein solider Kandidat: Frequenz, Aktualität und lexikalische Nische — und die gesellschaftliche Relevanz wird auch abseits der Diskussionen um Apple und Facebook weiterhin geführt und natürlich relevant bleiben (zumindest so lange, wie keine wirkliche Wahlfreiheit besteht und auch Firmen & Politik familienpolitisch nicht nachziehen).
Linguistisch spannend ist einerseits die gefüllte lexikalische Lücke — die weder der allgemeine Begriff Kryokonservierung, noch sperrige Modifizierungen wie Kryokonservierung aus nichtmedizinischen Gründen zufriedenstellend füllen. Andererseits sieht man bei Social Freezing klassische Entlehnungsprozesse sehr schön: Begriffe decken in den unterschiedlichen Sprachen auch unterschiedliche Referenzräume ab und/oder werden nur in Teilbedeutungen entlehnt und/oder in der Bedeutung erst in der Empfängersprache konventionalisiert.
Und trotzdem bin ich nicht vollkommen überzeugt. Da ist vor allem der latente „Unwort“-Charakter. Nicht, weil Wort oder Konzept inhärent unwortig oder menschenverachtend wären, sondern weil die Debatte dann doch eher um moralisch-ethische Dinge geführt wurde und weniger um das eigentliche Kerndilemma zwischen Familien- und Karriereplanung (oder was Politik & Unternehmen dafür sonst noch tun könnten, um es zu lösen). Von dieser negativen Stimmung zeugen dann auch die leidlich inspirierenden Wortspiele wie „Familienplanung auf Eis gelegt“ ((Es gibt sogar, *hust* „Baby auf Eis gelegt“)) oder „Das Kind, das aus der Kälte kommt“ — und das färbt dann halt doch sehr auf den Begriff ab.
Warten wir mal ab, was da noch so kommt.
Ich habe Zweifel bzgl. der Beständigkeit des Begriffs – der Vorgang ist verdammt teuer und für die meisten Menschen keine ernsthaft zu erwägende Option, die Breite der Gesellschaft erreichte Social Freezing daher IMHO nur während der relativ kurzen Diskussion in der Presse …
Ohne Kontext hätte ich ’social freezing’ für die Folgestufe der sozialen Kälte gehalten.
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