Die „Sprachkritische Aktion“ hat das Unwort des Jahres 2014 bekanntgegeben: Lügenpresse. Mit dieser Wahl setzt die Jury um Nina Janich von der TU Darmstadt ihre exzellente Arbeit der letzen Jahre fort.
Um Unwort des Jahres zu werden, muss ein Wort „gegen das Prinzip der Menschenwürde“ oder „Prinzipien der Demokratie verstoßen“ oder „einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren“, und es muss „euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend“ sein. Auf das unsägliche Döner-Morde (2011), traf das auch aus unserer Sicht klar zu, genau wie beim Opfer-Abo, und beim Sozialtourismus im letzten Jahr waren wir ebenfalls einer Meinung mit der Sprachkritischen Aktion.
Die Wahl des Wortes Lügenpresse begründet die Sprachkritische Aktion wie folgt:
Das Wort „Lügenpresse“ war bereits im Ersten Weltkrieg ein zentraler Kampfbegriff und diente auch den Nationalsozialisten zur pauschalen Diffamierung unabhängiger Medien. Gerade die Tatsache, dass diese sprachgeschichtliche Aufladung des Ausdrucks einem Großteil derjenigen, die ihn seit dem letzten Jahr als „besorgte Bürger“ skandieren und auf Transparenten tragen, nicht bewusst sein dürfte, macht ihn zu einem besonders perfiden Mittel derjenigen, die ihn gezielt einsetzen. [Link]
Hier wäre höchstens zu ergänzen, dass man für die diffamierende Aufladung des Ausdrucks in der Sprachgeschichte gar nicht so weit zurückgehen muss. Nicht nur die Nationalsozialisten bedienten sich des Wortes Lügenpresse, es wurde auch in jüngerer Zeit mit Vorliebe in rechten Kreisen verwendet: In den Zeitungstexten des Deutschen Referenzkorpus findet es sich vor 2014 zwar nur selten (insgesamt 16 Mal), dafür aber in umso eindeutigeren Zusammenhängen.
Den Anfang macht im Jahr 2000 ein Zitat von Joseph Göbbels („Ungehemmter denn je führt die rote Lügenpresse ihren Verleumdungsfeldzug durch“), und die zweite Verwendung 2002 ist ein älteres Zitat. Im Jahr 2004 findet sich dann eine der wenigen Verwendungen, die nicht aus einem rechten Zusammenhang stammen: Die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass das schwedische Königshaus die boulevardeske Berichterstattung über Prinzessin Victoria nicht länger hinnehmen wolle und nun „Schmerzensgeld von der Lügenpresse verlangen“ wolle.
Im Jahr 2005 kommt es in einem taz-Arikel über die Neonazi-Szene vor, die sich einig sei „über den gemeinsamen Feind: den Staat, die Systemparteien, die Lügenpresse“. Im folgenden Jahr findet sich das Wort in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung über eine Demonstration von Fußballfans gegen „Lügenpresse und Vereinsintrigen“. In Jahr 2007 verwendet die Zeit es (wie schon die taz), um die neue Einigkeit der rechten Szene zu charakerisieren – „sie sind sich einig über den gemeinsamen Feind: den Staat, die Systemparteien, die Lügenpresse und die Ausländer“. Diese Belege zeigen, dass das Wort rechten Kreisen schon vor den Pegida-Demonstrationen dazu gedient hat, das Feindbild einer manipulierten und manipulativen Presse aufzubauen.
Ab 2012 taucht das Wort dann mehrfach in Berichten über einen Anschlag auf die Lausitzer Rundschau auf, z.B. in der Süddeutschen Zeitung: „Auch auf dem Briefkasten lagen Innereien. ‚Lügenpresse halt die Fresse‘, hatte jemand auf die Scheiben der Redaktion geschmiert.“ Schließlich berichtet der Nordkurier 2013 über einen Facebook-Nutzer, der „meint richtigstellen zu müssen, dass ‚Frei.Wild‘ keine ‚Neonazis und Extremisten sind, wie die Lügenpresse immer sagt.‘“
Mit der Verwendung des Wortes stellen sich die Pegida-Anhänger also nicht nur in eine ihnen vielleicht nicht bewusste Tradition zu den Nationalsozialisten, sondern auch in eine jüngere Tradition rechten Gedankenguts, die sicher nicht allen von ihnen verborgen geblieben sein dürfte.
Das Wort Lügenpresse und seine Begriffsgeschichte sind ja bereits seit einigen Wochen in die öffentliche Kritik geraten (siehe z.B. beim Deutschlandfunk, bei zoon politikon bei Die Presse und beim Spiegel. Die Wahl zum „Unwort des Jahres“ kommt genau zur richtigen Zeit, um dieser Kritik Nachdruck zu verleihen.
„Journaille” wäre auch ein guter Kandidat gewesen. Ich schäme mich immer, wenn ansonsten durchaus reflektierte Menschen das verwenden. Ich höre da immer Görung schreien.
In Ihrer Erläuterung im zweiten Absatz müsste es m.E. statt
“… und es muss „euphemistisch, …”
eher heißen:
“… oder es muss „euphemistisch, …”,
da die 4 auf der Originalwebsite als Beispiele genannten Punkte gleichberechtigt in einer Liste stehen.
M.E. entsteht bei Ihrer Formulierung der Eindruck, das Wort müsste *zusätzlich* euphemisierend sein.
Sehr bemerkenswert sind die Leser-Kommentare (http://www.sueddeutsche.de/kultur/ihr-forum-luegenpresse-ihre-meinung-zum-unwort-des-jahres‑1.2301773) zum zugehörigen SZ-Artikel (http://www.sueddeutsche.de/kultur/sprache-luegenpresse-ist-unwort-des-jahres‑1.2295042):
Die Begründung der Jury wird dort m.E. von kaum jemandem wahrgenommen, vielmehr wird von vielen versucht, die inhaltliche Richtigkeit des Begriffes (also Fehler in der Berichterstattung) nachzuweisen; einige Kommentatoren ziehen ‑zumindest implizit — aus dem erbrachten (?) Nachweis den Schluss, die Wahl zum Unwort sei ihrerseits ein Produkt eben jener “Lügenpresse”.
Ein irres Beispiel dafür, was an Kommunikation überhaupt noch möglich ist (oder eben nicht), wenn man nur genügend “Filter” einschaltet.
Eine “Lüge” ist eine wissentliche Falschaussage mit der Absicht, jemanden zu täuschen. Eine irrtümliche Falschaussage, also eine unwahre Aussage, die der oder die Aussagende selbst glaubt, ist _keine_ Lüge.
Von daher reicht es nicht zu zeigen, dass sich irgendein Teil der Presse irgendwann und wo mal etwas geschrieben hat, was nicht ganz richtig ist, man muss schon den Vorsatz beweisen, also, dass das wider besseren Wissens nicht ganz richtig war.
Aber das ist einerseits bestenfalls mühselig und schlimmstenfalls vergeblich, und andererseits wäre “Ungenauigkeitspresse” ja kein so “tolles” Schlagwort.
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Abgesehen von der Geschichte des Wortes finde ich, dass schon der Begriff “Lügenpresse” allein eine Pauschalisierung darstellt, die auch ohne Kenntnis der Vergangenheit untragbar ist.
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